Hessisches Landessozialgericht - L 2 AS 517/11 B - Beschluss vom 28.11.2011
Teilweise wird die Auffassung vertreten, im Falle einer Untätigkeitsklage sei grundsätzlich nur die Verfahrensgebühr nach der Nr. 3102 VV-RVG anzusetzen, weil es sich bei der Untätigkeitsklage um eine von der sonstigen Tätigkeit des Rechtsanwalts in Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren unabhängigen Tätigkeit handele mit der Folge, dass für den abgesenkten Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV-RVG kein Raum sei.. Dem schließt sich das Hessische LSG nicht an. Auch bei einer Untätigkeitsklage sind Vorkenntnisse aus einem Vorverfahren von Bedeutung und maßgeblich für die Überlegung, ob es sachdienlich ist, die Untätigkeitsklage zu erheben. Eine Befassung mit der Sach- und Rechtslage ist erforderlich. Allein die Prüfung der Fristen des § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügt nicht, um substantiiert Untätigkeitsklage erheben zu können. Dementsprechend bewirken Vorkenntnisse aus einem vorangegangenen Verfahren Synergieeffekte, die die Anwendung der Nr. 3103 VV-RVG begründen.
Nach den Kriterien des § 14 RVG ist eine Untätigkeitsklage allerdings als deutlich unterdurchschnittlich zu bewerten. Denn das Interesse des Klägers ist im Wesentlichen gerichtet auf den Erlass eines Bescheides bzw. Widerspruchsbescheides durch den Leistungsträger. Unter Berücksichtigung dessen ist im Regelfall die Tätigkeit eines Rechtsanwaltes im Rahmen einer Untätigkeitsklage mit der halben Mittelgebühr der Nr. 3103 VV-RVG (Mittelgebühr 200,- EUR, halbe Mittelgebühr 100,- EUR) angemessen vergütet. Mit der halben Mittelgebühr sind das Gespräch mit dem Mandanten, die Akteneinsicht und die Fertigung der Untätigkeitsklageschrift abgegolten.
Gründe:
I.
Die Kläger des Rechtsstreites vor dem Sozialgericht Marburg S 5 AS 21/07 gegen den Landkreis A-Stadt (Beklagter) hatten im Juli 2006 die Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Sozialgesetzbuch II (SGB II) beantragt. Der Antrag wurde von dem Beklagten mit Bescheid vom 22. September 2006 abgelehnt. Hiergegen richteten sich die Kläger über den Beschwerdeführer mit Widerspruch.
Am 8. Februar 2007 erhob der Beschwerdeführer für die Kläger Untätigkeitsklage (S 5 AS 21/07) bei dem Sozialgericht Marburg.
Mit Bescheid vom 15. März 2007 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger zurück. Hierauf erfolgte in dem Gerichtsverfahren S 5 AS 21/07 unter dem 23. März 2007 die Erklärung, dass damit die Untätigkeitsklage erledigt sei. Mit Beschluss vom 11. Juni 2007 bewilligte das Sozialgericht den Klägern Prozesskostenhilfe für das Verfahren S 5 AS 21/07. Der Beklagte erklärte sich bereit, von den außergerichtlichen Kosten des Verfahrens 200,- EUR zu übernehmen.
Für das Verfahren S 5 AS 21/07 stellte der Beschwerdeführer Kosten in Höhe von insgesamt 487,90 EUR in Rechnung. Der Kostenbeamte kürzte die Rechtsanwaltsvergütung auf einen Betrag in Höhe von insgesamt 217,17 EUR. Er setzte dabei eine Verfahrensgebühr nach der Ziffer 3102 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV-RVG) in Höhe von 125,00 EUR (halbe Mittelgebühr), eine Erhöhung nach der Ziffer 1008 VV-RVG in Höhe von 37,50 EUR sowie Schreibauslagen in Höhe von 20,00 EUR und Umsatzsteuer fest. Eine Terminsgebühr brachte der Kostenbeamte nicht in Ansatz.
Gegen die Kostenfestsetzung vom 3. Juli 2008 erhob der Beschwerdeführer Erinnerung, mit der er eine Kostenfestsetzung in Höhe von 487,90 EUR geltend machte.
Mit Beschluss vom 14. September 2011 wies das Sozialgericht die Erinnerung zurück. Zur Begründung seiner Entscheidung führte es aus, im Rahmen der Untätigkeitsklage sei in der Regel der Ansatz der halben Mittelgebühr des Gebührenrahmens nach der Nr. 3103 VV-RVG angemessen. Auch zu Recht habe der Kostenbeamte eine Terminsgebühr nicht in Ansatz gebracht. Dem Beschwerdeführer stünden damit 155,29 EUR an Vergütung für das Verfahren S 5 AS 21/07 zu. Hiervon seien 200,00 EUR abzuziehen, die den Klägern von dem Beklagten gezahlt würden. Der Beschwerdeführer sei nach alledem durch den Kostenfestsetzungsbeschluss nicht beschwert. In den Gründen des Beschlusses ließ das Sozialgericht die Beschwerde zu.
Am 21. September 2011 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den Beschluss vom 14. September 2011 ein mit der Begründung, es bestehe kein Grund, von der Rechtsprechung des Hessischen Landessozialgerichts abzuweichen, wonach eine Terminsgebühr entstanden sei. Das Sozialgericht half der Beschwerde nicht ab.
Der Beschwerdeführer beantragt (sinngemäß),
den Beschluss des Sozialgerichts Marburg vom 14. September 2011 aufzuheben und die aus der Staatskasse an ihn zu zahlende Vergütung auf insgesamt 487,90 EUR festzusetzen.
Der Beschwerdegegner beantragt (sinngemäß),
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Beschwerdegegner hat sich im Beschwerdeverfahren nicht geäußert.
Wegen der Einzelheiten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte L 2 AS 517/11 B, S 5 AS 21/07 und S 5 AS 56/07, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung gewesen sind, Bezug genommen.
II.
Der Senat hat die Beschwerde durch seine Berufsrichter entschieden, nachdem die Berichterstatterin das Verfahren wegen grundsätzlicher Bedeutung dem Senat übertragen hatte (§§ 56 Abs. 2 Satz 1, 33 Abs. 8 Satz 2 Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG).
Die Beschwerde ist wegen der ausdrücklichen Zulassung durch das Sozialgericht zulässig. Die Beschwerdefrist ist ebenfalls gewahrt. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
Die Beschwerde ist jedoch nur teilweise begründet. Sie war im Übrigen zurückzuweisen. Dem Beschwerdeführer steht nur eine Vergütung in Höhe von 297,50 EUR an Stelle von 487,90 EUR zu. Bei Rahmengebühren bestimmt nach § 14 Abs. 1 RVG der Rechtsanwalt die Gebühren im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ein besonderes Haftungsrisiko des Rechtsanwaltes kann bei der Bemessung herangezogen werden. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Maßgeblich sind grundsätzlich der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit, die Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die Bedeutung der Angelegenheit für den Auftraggeber sowie die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers. Im Durchschnittsfall ist regelmäßig der Ansatz der Mittelgebühr gerechtfertigt.
Für seine Tätigkeit im Rahmen der Untätigkeitsklage steht dem Beschwerdeführer eine Verfahrensgebühr zu. Die Verfahrensgebühr beträgt nach der Nr. 3102 VV-RVG 40,00 bis 460,00 EUR für Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmengebühren entstehen (§ 3 RVG). Nach der Ziffer 3103 VV-RVG beträgt jedoch die Gebühr der Nr. 3102 20,00 bis 320,00 EUR, wenn eine Tätigkeit in Verwaltungsverfahren oder in weiteren, der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren vorausgegangen ist. Dabei ist bei der Bemessung der Gebühr nicht zu berücksichtigen, dass der Umfang der Tätigkeit infolge der Tätigkeit im Verwaltungsverfahren oder in weiteren, der Nachprüfung des Verwaltungsakts dienenden Verwaltungsverfahren geringer ist. Da der Beschwerdeführer für die Kläger vor Erhebung der Untätigkeitsklage bereits im Widerspruchsverfahren tätig gewesen war, findet die Nr. 3103 VV-RVG Anwendung (Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai 2010 - L 2 SF 342/09 E; Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 25. Oktober 2010 - L 6 SF 652/10 B). Zwar wird teilweise die Auffassung vertreten, im Falle einer Untätigkeitsklage sei grundsätzlich nur die Verfahrensgebühr nach der Nr. 3102 VV-RVG anzusetzen, weil es sich bei der Untätigkeitsklage um eine von der sonstigen Tätigkeit des Rechtsanwalts in Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren unabhängigen Tätigkeit handele mit der Folge, dass für den abgesenkten Gebührenrahmen der Nr. 3103 VV-RVG kein Raum sei (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. Mai 2008 - L 19 B 24/08 AS; Beschluss des SG Kiel vom 12. April 2011 - S 21 SF 8/11 E). Dem vermag sich der Senat jedoch nicht anzuschließen. Auch bei einer Untätigkeitsklage sind Vorkenntnisse aus einem Vorverfahren von Bedeutung und maßgeblich für die Überlegung, ob es sachdienlich ist, die Untätigkeitsklage zu erheben. Eine Befassung mit der Sach- und Rechtslage ist erforderlich. Allein die Prüfung der Fristen des § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) genügt nicht, um substantiiert Untätigkeitsklage erheben zu können. Dementsprechend bewirken Vorkenntnisse aus einem vorangegangenen Verfahren Synergieeffekte, die die Anwendung der Nr. 3103 VV-RVG begründen.
Nach den Kriterien des § 14 RVG ist eine Untätigkeitsklage allerdings als deutlich unterdurchschnittlich zu bewerten. Denn das Interesse des Klägers ist im Wesentlichen gerichtet auf den Erlass eines Bescheides bzw. Widerspruchsbescheides durch den Leistungsträger. Unter Berücksichtigung dessen ist im Regelfall die Tätigkeit eines Rechtsanwaltes im Rahmen einer Untätigkeitsklage mit der halben Mittelgebühr der Nr. 3103 VV-RVG (Mittelgebühr 200,- EUR, halbe Mittelgebühr 100,- EUR) angemessen vergütet. Mit der halben Mittelgebühr sind das Gespräch mit dem Mandanten, die Akteneinsicht und die Fertigung der Untätigkeitsklageschrift abgegolten. Im vorliegenden Fall gibt es keine Gesichtspunkte, von der halben Mittelgebühr abzuweichen.
Entgegen der Entscheidung des Sozialgerichts steht dem Beschwerdeführer zudem eine (fiktive) Terminsgebühr nach der Nr. 3106 VV-RVG zu.
Nach der Nr. 3106 VV-RVG entsteht eine Terminsgebühr in Verfahren vor den Sozialgerichten, in denen Betragsrahmen entstehen (§ 3 RVG) auch, wenn das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Im Falle einer Untätigkeitsklage nach § 88 SGG entsteht nach Auffassung des erkennenden Senats eine (fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG, wenn der Leistungsträger den begehrten Bescheid erlässt, der Rechtsstreit daraufhin für erledigt erklärt wird, und zuvor weder bei Klageerhebung die Frist des § 88 SGG abgelaufen noch ein zureichender Grund für eine verspätete Entscheidung des Leistungsträgers vorhanden war. Wird auf eine Untätigkeitsklage nach § 88 SGG der begehrte Bescheid erlassen und die Klage daraufhin für erledigt erklärt, handelt es sich um ein angenommenes Anerkenntnis im Rechtssinne, wenn die Frist des § 88 Abs. 1 bzw. § 88 Abs. 2 SGG abgelaufen war und ein zureichender Grund für die verspätete Entscheidung nicht vorlag (Beschluss des erkennenden Senats vom 12. Mai 2010 - L 2 SF 342/09 E). Der Erlass des Bescheides stellt inzidenter ein Anerkenntnis dar, das die Beendigung des Rechtsstreits durch die Annahme- bzw. Erledigungserklärung des Klägers abschließt, ohne dass noch eine mündliche Verhandlung erforderlich ist (Beschluss des SG Kiel vom 12. April 2011 - S 21 SF 8/11 E - m.w.H.). Die Voraussetzungen für eine (fiktive) Terminsgebühr nach Nr. 3106 VV-RVG sind dann gegeben.
Vorliegend war bei Klageerhebung am 8. Februar 2007 die Frist des § 88 SGG abgelaufen, denn der Widerspruch datierte bereits vom 28. September 2006; sachliche Gründe für die verspätete, weil mehr als drei Monate nach Erhebung des Widerspruchs ergangene Entscheidung (Widerspruchsbescheid vom 15. März 2007) waren weder ersichtlich noch von dem Beklagten angegeben worden, so dass durch die Erklärung des Beschwerdeführers, die Untätigkeitsklage sei erledigt, die Voraussetzungen für das Entstehen der (fiktiven) Terminsgebühr eingetreten sind.
Die Terminsgebühr nach der Nr. 3106 VV-RVG beträgt in Verfahren vor den Sozialgerichten 20,00 bis 380,00 EUR. Entsprechend den Kriterien, wie sie für die Verfahrensgebühr gelten, ist auch die Terminsgebühr regelmäßig im Rahmen einer Untätigkeitsklage auf die Hälfte der Mittelgebühr zu begrenzen. Dementsprechend errechnet sich vorliegend eine Terminsgebühr von 100,00 EUR.
Nach alledem setzt sich die Vergütung des Beschwerdeführers im Verfahren S 5 AS 21/07 wie folgt zusammen:
Verfahrensgebühr Nr. 3102 100,00 EUR Gebühr Nr. 1008 30,00 EUR Terminsgebühr Nr. 3106 100,00 EUR Pauschalsatz 20,00 EUR 250,00 EUR 19% USt. Nr. 7008 VV-RVG 47,50 EUR Summe: 297,50 EUR
Soweit der Beschwerdeführer Kostenansprüche gegen den Beklagten hat, gehen diese gemäß § 59 RVG auf die Staatskasse über.
Die Beschwerde ist gebührenfrei, Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 Satz 2 und 3 RVG).
Die Beschwerde gegen diese Entscheidung findet nicht statt (§ 33 Abs. 4 Satz 3 RVG).