Schl.-Holst. LSG - L 2 SB 39/05 - Urteil vom 27.04.2006
Nach der Rechtsprechung des BSG spricht eine tatsächliche Vermutung dafür, dass ein GdB, der bei einer späteren Untersuchung geringer ist als bei einer früheren Feststellung, auf eine Besserung und nicht auf einen Fehler bei der früheren Festsetzung zurückzuführen ist. Diese Vermutung greift aber zumindest dann nicht, wenn feststeht, dass früher der GdB rechtswidrig zu hoch festgesetzt oder ein Merkzeichen zu Unrecht zuerkannt worden ist.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB)
von 100 auf 60 sowie die Entziehung der Merkzeichen "G", "B", "H" und "Bl".
Das beklagte Land hatte bei dem 1994 geborenen Kläger mit Bescheid vom 8. Mai
1995 einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen
für die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B", "Bl", "H" und "RF" festgestellt.
Dabei war das beklagte Land davon ausgegangen, dass der Kläger blind sei.
Von Amts wegen durchgeführte Nachprüfungen in den Jahren 1996, 1997 und 1999
wurden jeweils mit der Mitteilung an den Kläger abgeschlossen, dass keine
wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten sei.
Im November 2001 führte das beklagte Land eine weitere Nachprüfung von Amts
wegen durch. Er holte einen Befundbericht der Augenärztin Dr. J. (ohne Datum) ein
und veranlasste die Gutachten der Augenärztin Dr. A. vom 21. März 2002 und des
Dr. R. , Universitätsklinikum G. , vom 17. Februar 2003.
Nach Anhörung des Klägers änderte das beklagte Land den Bescheid vom 8. Mai 1995
mit Bescheid vom 23. April 2003 ab und setzte den GdB auf 60 herab. Die beim
Kläger vorliegende Funktionsbeeinträchtigung bezeichnete es als
"Sehbehinderung". Die Merkzeichen "B", "G", "H" und "Bl" wurden entzogen. Das
Merkzeichen "RF" blieb zuerkannt. Zur Begründung bezog sich das beklagte Land
auf das Gutachten des Dr. R. , vom 17. Februar 2003.
Den dagegen eingelegten Widerspruch des Klägers wies das beklagte Land mit
Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2003 zurück und führte zur Begründung im
Wesentlichen aus, dass sich nach dem Ergebnis der durchgeführten Begutachtung
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 48 des Zehnten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB X) insofern feststellen lasse, als dass eine wesentliche
Besserung der Sehbehinderung zu verzeichnen sei.
Dagegen hat der Kläger am 27. Juni 2003 Klage vor dem Sozialgericht Lübeck
erhoben und zur Begründung geltend gemacht, dass eine wesentliche Änderung der
Verhältnisse seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995 nicht eingetreten sei.
Auch dem Gutachten des Dr. R. , Universitätsklinikum G. , sei keine Aussage zu
entnehmen, nach der eine Verbesserung der Sehfähigkeit eingetreten sei.
Der Kläger hat beantragt,
den Bescheid vom 23. April 2003 und den Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2003 aufzuheben.
Das beklagte Land hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hat sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Bescheide bezogen.
Das Sozialgericht hat Befund- und Behandlungsberichte der Ärztin für
Augenheilkunde Dr. J. vom 11. Dezember 2003, des Prof. Dr. S. vom 11. März 2004
sowie des Dr. B. vom 26. Dezember 2003 eingeholt. Ferner hat das Sozialgericht
das Gutachten des Dr. C. vom 24. November 2004 eingeholt und den Sachverhalt mit
dem Gutachter eingehend telefonisch erörtert.
Mit Urteil vom 12. Mai 2005 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur
Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die angefochtenen Bescheide des Beklagten
seien nicht zu beanstanden. Rechtsgrundlage der Herabsetzung des GdB und der
Entziehung der genannten Merkzeichen sei § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Die danach zu
fordernde wesentliche Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen
Verhältnissen seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995 sei eingetreten.
Jedenfalls sei auch in Anbetracht der Ausführungen des Sachverständigen in
seinem Gutachten nicht zu belegen, dass dem Kläger das Merkzeichen "Bl" und
damit der GdB von 100 zu Unrecht zuerkannt sei. Bei einer Rücksprache der
Vorsitzenden mit dem Sachverständigen, von der die Beteiligten im Termin zur
mündlichen Verhandlung unterrichtet worden seien, habe Dr. C. ausgeführt, dass
er nicht belegen könne, dass die seinerzeitige Feststellung definitiv falsch
gewesen sei. Unter diesen Umständen greife die in der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts entwickelte sog. "Richtigkeitsvermutung" ein. Unter
Beachtung der in den AHP 1996 niedergelegten Bewertungsmaßstäbe sei die Kammer
zu der Überzeugung gelangt, dass in den Verhältnissen, die bei Erlass des
Bescheides vom 8. Mai 1995 vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung derart
eingetreten sei, dass der GdB von 100 auf 60 herabzusetzen sei. Dies ergebe sich
aus dem im Verwaltungsverfahren erstatteten Gutachten des Dr. R. sowie dem
Gutachten des Sachverständigen Dr. C. Diese bestätigten, dass in Bezug auf den
Befund eine Änderung insofern eingetreten sei, als die Linsenlosigkeit, welche
zunächst mit Kontaktlinsen korrigiert werden musste, inzwischen operativ mittels
implantierter Kunstlinsen therapiert wurde. Jedoch sei zu den
Gesundheitsstörungen ein grüner Star hinzugekommen, dessen Auswirkungen in Form
von Funktionsbeeinträchtigungen den zukünftigen Krankheitsverlauf wesentlich
bestimmen würden. Das Sozialgericht hat im Einzelnen begründet, dass die
Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" bei dem Kläger nicht
mehr vorlägen. Da der Kläger nicht blind im Sinne der Nr. 23 der AHP 1996
(Merkzeichen "Bl") sei und die Sehbehinderung nur einen GdB von 60 bedinge,
lägen auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G", "B" und
"H" nicht mehr vor.
Gegen das ihm am 4. August 2005 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit
der am 5. August 2005 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht
eingegangenen Berufung, zu deren Begründung er im Wesentlichen vorträgt: Die
Entscheidung, die das beklagte Land mit Bescheid vom 8. Mai 1995 getroffen habe,
sei nachweislich falsch gewesen. Dies habe auch der Sachverständige in seinem
Gutachten ausgeführt. Soweit die Vorsitzende Richterin des Sozialgerichts auf
eine davon abweichende in einem Telefonat mit dem Sachverständigen geäußerte
Beurteilung Bezug genommen habe, sei diese nicht verwertbar. Mit dieser
Verfahrensweise sei gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen worden,
da eine qualifizierte Stellungnahme hierzu nicht möglich gewesen und auch nicht
sicher sei, ob die Vorsitzende den Sachverständigen nicht fehlinterpretiert
habe. In seinem schriftlichen Gutachten habe der Sachverständige bestätigt, dass
eine wesentliche Änderung der Verhältnisse seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai
1995 nicht eingetreten sei. Eine wesentliche Verbesserung des Sehvermögens sei
auch durch die vorgenommene Implantation von Kunstlinsen nicht erreicht worden.
Es bestünden erhebliche Zweifel an der Objektivität der Vorsitzenden Richterin
des Sozialgerichts, die in der mündlichen Verhandlung immer versucht habe, ihm
eine moralische Verpflichtung zur Klagerücknahme einzureden.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 12. Mai 2005 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 23. April 2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2003 aufzuheben.
Das beklagte Land beantragt,
die Berufung zurückzuweisen,
und bezieht sich zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des
erstinstanzlichen Urteils.
Der Senat hat das Gutachten des Arztes für Augenheilkunde Dr. I. vom 5. April
2006 eingeholt und den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung am 27.
April 2006 zur Erläuterung seines Gutachtens gehört. Wegen des Inhalts des
Gutachtens wird auf Blatt 140 bis Blatt 151 der Gerichtsakte und wegen der
ergänzenden Erläuterungen des Sachverständigen wird auf die
Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Die den Kläger betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten und die Prozessakte
haben dem Senat vorgelegen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und
Beratung gewesen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf ihren Inhalt verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die statthafte (§ 143 Sozialgerichtsgesetz - SGG) und fristgerecht (§ 151 SGG)
eingelegte Berufung ist zulässig. Die Berufung ist auch begründet. Die
angefochtenen Bescheide, mit denen das beklagte Land den GdB des Klägers von 100
auf 60 herabgesetzt und ihm die Merkzeichen "G", "B", "H" und "Bl" entzogen hat,
sind rechtswidrig und daher aufzuheben.
Als Rechtsgrundlage der Entscheidung des beklagten Landes kommt wie das
Sozialgericht zutreffend dargelegt hat - ausschließlich § 48 Abs. 1 Satz 1
Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Danach ist ein Verwaltungsakt
mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen
haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Der Senat geht ferner mit dem
Sozialgericht davon aus, dass die Verhältnisse zum Zeitpunkt des Abschlusses des
Verwaltungsverfahrens (Erlass des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2003) mit
den Verhältnissen zu vergleichen sind, die bei Erlass des Bescheides vom 8. Mai
1995 vorgelegen haben. Die Mitteilungen zum Ergebnis der in den Jahren 1996,
1997 und 1999 durchgeführten Nachprüfungen stellen keine sog. "Folgebescheide"
dar; vielmehr handelt es sich um bloße Mitteilungen (vgl. Urteil des Senats vom
6. Dezember 2005 - L 2 SB 28/04; BSG, Urteil vom 3. Juni 1958 - 4 RJ 15/57 -
BSGE 7, 215, 216; BSG, Urteil vom 7. Juli 2005 - B 3 P 8/04 R - SozR 4 1300 § 48
Nr. 6).
Seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995 ist keine wesentliche Änderung in den
tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten, die eine Herabsetzung
des GdB oder die Entziehung von Merkzeichen rechtfertigt.
Der Senat geht dem Gutachten des Sachverständigen Dr. I. folgend davon aus, dass
die Sehschärfe des Klägers zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 8. Mai
1995 nicht auf 1/50 oder weniger herabgesetzt war und dass auch keine dem
gleichzusetzende Sehschädigung im Sinne der AHP 1983 Nr. 23 bei dem Kläger
vorgelegen hat. Wie Dr. I. in seinem Gutachten nachvollziehbar dargelegt hat,
war eine Prüfung der Sehschärfe zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 8.
Mai 1995 also zu einem Zeitpunkt, als der Kläger sein erstes Lebensjahr noch
nicht vollendet hatte - nicht möglich. Eine Gesundheitsstörung, die den Schluss
auf eine Reduzierung des Sehvermögens auf allenfalls 1/50 zulassen würde, hat
bei dem Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht vorgelegen. Vor diesem Hintergrund hat
auch der Sachverständige Dr. C. die Zuerkennung des Merkzeichens "Bl" im Jahr
1995 in seinem für das Sozialgericht erstatteten Gutachten als nicht
nachvollziehbar angesehen. Damit übereinstimmend hatte nach dem Inhalt des
vorliegenden Telefonvermerks vom 20. April 1995 die damals behandelnde
Augenärztin Dr. J. gegenüber dem beklagten Land erklärt, dass eine "100%ige
Aussage zur Blindheit z.Z. nicht getroffen werden kann". Sie gehe jedoch davon
aus, dass der Visus beidseits unter 1/50 liege. Diese Vermutung hat sich jedoch
nicht bestätigt. Wie der Sachverständige Dr. I. dem Senat in der mündlichen
Verhandlung nachvollziehbar dargelegt hat, lassen die ersten bei dem Kläger
erhobenen verwertbaren augenärztlichen Befunde mit Angaben zur Sehschärfe
(Bericht des Prof. Dr. S. vom 7. März 2000 mit Angaben zur Sehschärfe von 0,3 und
0,4) bei im Wesentlichen gleichen Diagnosen wie bei Erlass des Bescheides aus
dem Jahr 1995 im Rückblick die eindeutige Aussage zu, dass eine Reduzierung der
Sehschärfe auf 1/50 oder eine dem gleichzusetzende Sehschädigung zum Zeitpunkt
des Erlasses des Bescheides vom 8. Mai 1995 eindeutig nicht vorgelegen hat. Nach
dem Inhalt der Entscheidungsgründe des sozialgerichtlichen Urteils soll Dr. C.
in einer telefonischen Rücksprache mit der Vorsitzenden eine davon abweichende
Einschätzung geäußert haben. Er soll angegeben haben, er könne nicht belegen,
dass die seinerzeitige Einstellung definitiv falsch sei. Eine Begründung dieser
Auffassung des Dr. C. ist jedoch nicht dokumentiert. Zudem ist diese Beurteilung
nicht ohne Weiteres mit dem Inhalt des schriftlichen Gutachtens des Dr. C. vom
24. November 2004 in Einklang zu bringen, obwohl die schriftliche Fassung des
Gutachtens nach dem Inhalt der vorliegenden Akte erst nach der telefonischen
Erörterung zwischen der Vorsitzenden des Sozialgerichts und dem Sachverständigen fertiggestellt wurde. So führt Dr.
C. in seinem schriftlichen Gutachten -
ähnlich wie Dr. I. in seinem auf Veranlassung des Senats erstatteten Gutachten -
aus, dass bei dem inzwischen 10 Jahre alten Kläger der Krankheitsverlauf zu
einer nunmehr überprüfbaren Funktion des Sehvermögens geführt habe und dass
unzweifelhaft eine Sehbehinderung bestehe, die jedoch sicher nicht ein Ausmaß
erreiche, dass diese Beeinträchtigung einer Blindheit gleich zu achten wäre. Als
Änderung in Bezug auf die Befunde führt Dr. C. in seinem Gutachten lediglich
aus, dass die Linsenlosigkeit, welche mit Kontaktlinsen korrigiert werden
musste, inzwischen operativ mittels implantierter Kunstlinsen therapiert worden
sei und dass zu den Gesundheitsstörungen ein grüner Star hinzugekommen sei. Wie
der Sachverständige Dr. I. in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat
nachvollziehbar dargelegt hat, haben die bei dem Kläger durchgeführten
Augenoperationen nicht zu einer Verbesserung des Sehvermögens geführt. Vielmehr
sind die Operationen infolge von eingetretenen Komplikationen erforderlich
geworden. Dies gilt auch für die Implantation von Kunstlinsen.
Soweit der Sachverständige Dr. C. bei der Beantwortung der dritten Beweisfrage
(S. 6 des Gutachtens/Blatt 145 Gerichtsakte) im ersten Satz ausgeführt hat, dass
es seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995 zu einer wesentlichen Änderung
gekommen sei, beruht dies auf einem Missverständnis der Beweisfrage. Die Aussage
steht im Widerspruch zu den übrigen Ausführungen des Sachverständigen. Der Senat
hat den Sachverständigen deshalb in der mündlichen Verhandlung dazu befragt. Der
Sachverständige hat erklärt, dass seiner Angabe, nach der Änderungen eingetreten
seien, die Annahme zugrunde gelegen habe, dass er die mit Bescheid vom 8. Mai
1995 festgestellte Blindheit mit dem gegenwärtigen Zustand zu vergleichen habe.
Er habe damit keine Aussage zur Entwicklung der tatsächlichen Verhältnisse
(Änderung des Gesundheitszustands) treffen wollen. Der Sachverständige hat dann
für den Senat in jeder Hinsicht nachvollziehbar und mit dem übrigen Inhalt des
Gutachtens übereinstimmend dargelegt, dass eine Änderung des tatsächlichen
Sehvermögens seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995 jedenfalls nicht im
Sinne einer Besserung eingetreten sei, sondern dass es ab etwa 2001 sogar zu
einer Verschlechterung des Sehvermögens gekommen sei.
Die Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. C. steht auch nicht im
Widerspruch zu den im Verwaltungsverfahren von dem beklagten Land eingeholten
Gutachten der Dr. A. und des Dr. R. Beide Gutachten enthalten ausschließlich
Aussagen zum Sehvermögen des Klägers zum Zeitpunkt der Untersuchung und keine
Beurteilung zu der hier maßgebenden Frage der Änderung der tatsächlichen
Verhältnisse. Auch in den rechtlichen Verhältnissen sind keine Änderungen
eingetreten. Die AHP haben sich seit Erlass des Bescheides vom 8. Mai 1995
bezogen auf die Maßstäbe für die Beurteilung von Blindheit in den hier
maßgebenden Punkten nicht geändert.
Unter diesen Umständen kann der Senat dahingestellt lassen, ob der
Rechtsprechung des 9. Senats des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 10.
Februar 1993 - 9/9a RVs 5/91 - SozR 3 1300 § 48 Nr. 25; Urteil vom 11. Oktober
1994 - 9 RVs 9/93) zu folgen ist, nach der eine tatsächliche Vermutung dafür
spricht, dass ein GdB, der bei einer späteren Untersuchung geringer ist als bei
einer früheren Feststellung, auf eine Besserung und nicht auf einen Fehler bei
der früheren Festsetzung zurückzuführen ist (kritisch dazu u. a.: Steinwedel,
in: Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 48 SGB X, Rz. 24 sowie die
Entscheidung des 3. Senats des BSG vom 7. Juli 2005, a.a.O.). Denn auch diese
sog. "Richtigkeitsvermutung" greift nur ein, solange nicht feststeht, dass der
GdB rechtswidrig zu hoch festgesetzt oder ein Merkzeichen zu Unrecht zuerkannt
worden ist. Gerade dies ist vorliegend jedoch der Fall. Soweit der 3. Senat des
Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. Juli 2005, a.a.O.) - wohl abweichend von der
oben genannten Rechtsprechung des 9. Senats - die Korrektur eines von Anfang an
rechtswidrigen Verwaltungsakts auf der Grundlage des § 48 SGB X zulassen möchte,
kann ebenfalls dahingestellt bleiben, ob dieser Rechtsprechung zu folgen ist,
weil wie der 3. Senat des BSG in der Entscheidung betont hat eine wesentliche
Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X jedenfalls nicht bei einem unveränderten
Gesundheitszustand vorliegt.
Das Vorliegen einer wesentlichen Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X
lässt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, dass zum Zeitpunkt des
Erlasses des Bescheides vom 8. Mai 1995 der Verdacht auf das Vorliegen von
Blindheit begründet war und dass diese Verdachtsdiagnose entfallen wäre. Zwar
hat das Bundessozialgericht in einer Entscheidung vom 11. November 1987 (9a RVs
1/97 BSGE 62, 243 = SozR 1300 § 48 Nr. 43) einen auf den bloßen Verdacht einer
Erkrankung gestützten Bescheid jedenfalls dann nicht als rechtswidrig angesehen,
wenn, wie bei Krebs, schon der Verdacht besondere Maßnahmen erforderlich macht.
Voraussetzung ist dann aber jedenfalls, dass der bloße Verdacht einer Erkrankung
in dem feststellenden Bescheid deutlich erkennbar ausgesprochen worden war (vgl.
BSG, Urteil vom 11. November 1987, a.a.O., juris Rz. 12, m.w.N.). Im Grundsatz
kann der Wegfall des Verdachts nur in diesem Fall eine wesentliche Änderung
begründen. Eine Ausnahme hat das Bundessozialgericht speziell für den Fall einer
bösartigen Geschwulstkrankheit wegen humaner Rücksicht auf den Betroffenen
zugelassen.
Der Bescheid des beklagten Landes vom 8. Mai 1995 enthält keinen Hinweis darauf,
dass der Zuerkennung der Merkzeichen und der Bewertung des GdB mit 100 nur ein
Verdacht zugrunde liegt. Gründe, die einen solchen Hinweis entbehrlich machen
könnten, sind nicht ersichtlich. Im Übrigen hat das Bundessozialgericht in
seiner Entscheidung vom 11. November 1987 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass
die nachträgliche Erkenntnis einer Fehldiagnose keine Änderung der tatsächlichen
Verhältnisse im Sinne des § 48 SGB X darstellt. In solchen Fällen kann die von
vornherein unrichtig gewesene Entscheidung allein nach § 45 SGB X zurückgenommen
werden. Eine solche Entscheidung hat der Beklagte im vorliegenden Fall nicht
getroffen, und eine Umdeutung der Entscheidung des Beklagten in eine solche nach
§ 45 SGB X kommt bereits deshalb nicht in Betracht, weil der Beklagte die
Ermessensentscheidung, die in diesem Falle erforderlich wäre, nicht getroffen
hat.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.