Bayerisches Landessozialgericht L 2 U 66/03 12.01.2005 


Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Anerkennung eines MCS als Berufskrankheit.

Die Klägerin machte im März 1998 gegenüber der Beklagten ein MCS, hervorgerufen durch wesentlich erhöhte Schadstoffwerte - Formaldehyd - geltend. Sie führte dies auf Tätigkeiten in einem hochbelasteten Büroraum seit 1993 zurück. Im Sommer 1994 seien die ersten Krankheitsbeschwerden aufgetreten.

Eine Messung im Oktober 1996 hatte in dem Arbeitsraum eine Konzentration vom 0,4 ppm Formaldehyd ergeben. Der MAK-Wert war 0,5 ppm, der vom Bundesgesundheitsamt empfohlene Wert für Innenräume war weniger als 0,1 ppm. Die Konzentration könne nur aus den vorhandenen Innenräumen kommen, als Ursache komme insbesondere ein verklebter Teppichboden in Frage.

Im Jahre 1998 machte die Klägerin gegenüber dem behandelnden Hautarzt Dr. M. geltend, die Beschwerden seien immer im Büro, insbesondere beim Lagern frisch gedruckter Plakate aufgetreten. Dr. M. konstatierte bei der Klägerin im November 1996 eine toxisch induzierte Polyneuropathie. Der Neurologe und Psychiater Dr. S. kam im Juni 1997 nach entsprechenden Untersuchungen zu dem Ergebnis, für die Beschwerden der Klägerin gebe es kein organneurologisches Korrelat, es bestehe auch keine klinisch manifeste Polyneuropathie.

Im September 1998 erfolgte eine Berufskrankheitenanzeige durch Dr. M. , in der zwar zahlreiche Beschwerden, Untersuchungsbefunde, jedoch keine Krankheit genannt wurde. Der von der Beklagten gehörte Gewerbeärztliche Dienst sprach sich gegen die Anerkennung eines MCS als Berufskrankheit aus.

Mit Bescheid vom 08.04.1999 verweigerte die Beklagte die Anerkennung der Beschwerden der Klägerin (MCS) als Berufskrankheit. Als Entscheidungsgrundlage war § 9 Abs.1 SGB VII genannt. Ausgeführt war in der Begründung u.a., die Auslösung der Beschwerden durch Formaldehyd sei nicht wahrscheinlich.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und ließ ihn durch Dr. M. begründen. In dieser Begründung wurde ausgeführt, bei der Klägerin liege ein MCS vor, wobei es sich um eine neue Krankheit handle, deren Erfassung als Berufskrankheit der Gesetzgeber ausdrücklich nicht ausgeschlossen habe.

Die Beklagte holte hierzu ein Gutachten des Internisten, Nephrologen und Umweltmediziners Prof.Dr. H. vom 19.01.2000 ein. Der Sachverständige führte aus, für MCS gebe es keine spezifischen Nachweise und qualitätskontrollierten Diagnoseverfahren. Es bestehe allerdings ein direkter zeitlicher Zusammenhang der Beschwerden mit einer Formaldehydbelastung und ein anderer Zusammenhang sei nicht ersichtlich. Der Ursachenzusammenhang sei damit lückenlos, wie dies in einem Berufskrankheitenverfahren zu fordern sei. Die Voraussetzung für eine BK nach 5101 seien gegeben. Eine bestimmte Erkrankung der Klägerin nannte der Sachverständige nicht. Bei der Nr.5101 handelt es sich um schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller potenziell schädigenden Tätigkeiten gezwungen haben. Eine Hauterkrankung findet sich weder in dem Gutachten des Sachverständigen, noch in den Berichten der behandelnden Ärzte noch bei den Beschwerdenangaben der Klägerin.

Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 02.10.2000 zurück. Weder nach § 9 Abs.1 noch nach Abs.2 SGB VII sei eine Berufskrankheit anzuerkennen. Bezüglich des MCS gebe es keine neuen Erkenntnisse, wie sie für die Anerkennung einer Berufskrankheit nach § 9 Abs.2 SGB VII erforderlich seien.

Im April 2002 erfolgte eine weitere Anzeige über eine Berufskrankheit durch den Nervenarzt Dr. B.. Als Untersuchungsergebnisse mit Diagnosen wurden angegeben: Neuropathie, Myopathie, schwere Ataxie, Wesensänderung und Überempfindlichkeit. Potenziell belastende Arbeitsstoffe waren nicht genannt. Vorgelegt wurde dabei auch ein Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit an das Bayer. Landessozialgericht vom 23.10.2002, betreffend der Anerkennungsfähigkeit eines MCS bei einer Krankenschwester. Unter anderem ist dort ausgeführt, vor dem Hintergrund eines kaum eingrenzbaren Krankheitsbildes des MCS als mögliche Folge einer fast beliebig ausweitbaren Stoffexposition sei wegen der besonderen Bedingungen des Berufskrankheitenrechts eine Anerkennung derzeit nicht möglich. Insbesondere die generelle Eignung der in unterschiedlichsten Stoffkombinationen für die Verursachung von in unterschiedlichsten Ausprägungen und Formen auftretenden Krankheitsbildern als auch die Überhäufigkeit der Erkrankung im Vergleich zur übrigen Bevölkerung dürfte bei derartigen Fallgestaltungen kaum medizinisch wissenschaftlich zu belegen sein.

Vorgelegt wurde auch eine Stellungnahme des Prof.Dr. H. , worin ausgeführt ist, die Beschwerden der Klägerin könnten auch dem Krankheitsbild des MCS zugeordnet werden. Hinsichtlich der Bewertung lägen neueste Daten vor, aus denen sich ergebe, dass MCS keinem psychischen und psychosomatischen Krankheitsbild zugeordnet werden könne und dass es sich um eine Erkrankung mit besonders hohem Schweregrad handle. Bei Patienten mit nachgewiesener Chemiekalienbelastung sei eine vermehrte Inflammation mit Verminderung der Abwehrleistung nachgewiesen worden. Diese Erkenntnisse seien neu und hätten zum Zeitpunkt der Abfassung seines Gutachtens nicht vorgelegen. Er empfehle daher eine Einzelfallentschädigung als "Quasi-BK" nach § 9 Abs.2 SGB VII.

Im Klageverfahren hat die Klägerin die Anerkennung eines MCS-Syndroms als Berufskrankheit nach § 9 Abs.2 SGB VII beantragt.

Das Sozialgericht hat ein Gutachten von dem Arbeitsmediziner Prof.Dr. N. vom 21.02.2002 zu der Frage eingeholt, ob bei der Klägerin eine Berufskrankheit vorliege, und wenn ja, welche. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gekommen, dass die von ihm als gegeben unterstellte Belastung mit Formaldehyd keine hinreichende kausale Erklärung für die angegebenen Beschwerden bilde.

Bezüglich des MCS referiert der Sachverständige den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion sowohl was die Definition der Erkrankung als auch ihre Kausalität betrifft. Danach könne nicht ausgeschlossen werden, dass auch eine unterschwellige Exposition gegenüber Formaldehyd zur Auslösung eines MCS-Syndroms geführt haben könnte, nach den derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnissen könne dieser Zusammenhang jedoch nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit bejaht werden. Auch eine Anerkennung über die Öffnungsklausel des § 9 Abs.2 SGB VII sei nicht möglich, da die folgenden Voraussetzungen nicht erfüllt seien: 1. Der Erkrankte muss einer Personengruppe angehören, die bei ihrer Arbeit in erheblich höheren Grade als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist. 2. Die besonderen Einwirkungen müssen nach den Ergebnissen der medizinischen Wissenschaft generell geeignet sein, eine bestimmte Erkrankung zu verursachen. Die generelle Eignung muss anhand einer Fülle gleichartiger Gesundheitsbeeinträchtigungen und einer langfristigen zeitlichen Überwachung derartiger Krankheitsbilder nachgewiesen sein. 3. Die Erkenntnisse müssten neu sein. 4. Der ursächliche Zusammenhang der Krankheit mit der gefährdenden Tätigkeit müsse im konkreten Fall mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststehen.

Nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnissstand bestehe nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit ein Kausalzusammenhang zwischen der Formaldehydexposition in den Arbeitsräumen und der von der Klägerin beklagten Beschwerdesymptomatik.

Mit Urteil vom 15.01.2003 hat das Sozialgericht die Klage als unbegründet abgewiesen. Weder stehe das Krankheitsbild der Klägerin hinreichend fest, noch sei die geltend gemachte Exposition hinreichend nachgewiesen. Bezüglich der Anerkennungsfähigkeit des MCS als Berufskrankheit bezieht sich das Urteil auf den Sachverständigen Prof.Dr. N..

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Sie beantragt, die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgericht Augsburg vom 15.01.2003 und des Bescheids vom 08.04.1999 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.10.2000 zu verurteilen, ein MCS-Syndroms nach § 9 Abs.2 SGB VII anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen hieraus zu gewähren.

Sie stützt sich auf die Ausführungen des Dr.M. und des Prof.Dr. H ... Die Formaldehydexposition durch den Teppichboden und die Plakate hält sie für bewiesen. Für den Ursachenzusammenhang zwischen der Formaldehydexposition und ihren Beschwerden verweist sie auf Prof.Dr.H ... Sie legt hierzu auch ein Schreiben des Dr. M. vor, worin wiederholt ist, was Prof.Dr. H. als neu an den Erkenntnissen über MCS wiedergegeben hatte. Allerneueste Forschungen hätten zeigen können, dass für die Entwicklung des Krankheitsbildes MCS eine gesteigerte Erhöhung von Interferongamma entscheidend sei. Eine Erhöhung des Interferongamma sei bei der Klägerin nachgewiesen. Durch die Untersuchung sei Formaldehyd als Verursacher dieser Erhöhung entsprechend bestätigt. Da Interferongamma nicht substanzabhängig angegeben werde, könnten selbstverständlich sehr unterschiedliche Chemikalien bei verschiedenen Patienten gleiche Symptome verursachen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat die Klägerin daraufhin gewiesen, dass es sich bei Formaldehyd nicht um einen sogenannten Listenstoff handle und bei MCS nicht um eine sogenannte Listenkrankheit. Auf die Entscheidung des BSG vom 04.06.2002 Az.: B 2 U 20/01 R wurde verwiesen. Solange für die dort genannten Voraussetzungen nicht einmal genügend Anhaltspunkte vorlägen, bestehe keine Veranlassung für eine entsprechende Anfrage an den Sachverständigenbeirat beim BMA und eine andere Beweiserhebung.

Zum Verfahren beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Akten der Beklagten und die Akte des Sozialgerichts Augsburg in dem vorangegangenen Klageverfahren. Auf ihren Inhalt und das Ergebnis der Beweisaufnahme wird ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die von der Klägerin form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig; eine Beschränkung der Berufung nach § 144 SGG besteht nicht.

Die Berufung ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch darauf, dass MCS bei ihr wie eine Berufskrankheit anerkannt wird.

Der von der Klägerin verfolgte Anspruch richtet sich noch nach den bis zum 31.12.1996 geltenden Vorschriften der RVO, da der als entschädigungspflichtig geltend gemachte Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des SGB VII am 01.01.1997 eingetreten wäre (§ 212 SGB VII). Ein für den vorliegenden Fall entscheidungserheblicher Unterschied zwischen § 551 Abs.2 RVO und § 9 Abs.2 SGB VII als der für Versicherungsfälle nach dem 31.12. 1996 geltenden Vorschrift bestehen jedoch nicht.

Sowohl nach § 551 Abs.1 RVO als auch nach § 9 Abs.1 SGB VII ist Voraussetzung für die Annahme einer Berufskrankheit, dass sie durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Maße als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Es kann deshalb auch im konkreten Fall eine Berufskrankheit nicht angenommen werden, wenn die Exposition in der versicherten Tätigkeit keinen erheblich höheren Grad aufzuweisen hat, als außerhalb der versicherten Tätigkeit. Wie alle entscheidungserheblichen Tatsachen im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung bedarf auch die Exposition gegenüber einem bestimmten Schadstoff des Beweises im Maße einer mit an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit.

Eine solche notwendige Exposition gegenüber Formaldehyd, der als einziger Schadstoff im Raum steht, kann im Falle der Klägerin nicht als bewiesen angesehen werden. Insoweit steht lediglich eine einmalige Raummessung im Büro der Klägerin zur Verfügung. Als bewiesen kann deshalb lediglich angesehen werden, dass das Büro an dem betreffenden Tag die gemessene Exposition aufwies. Bezüglich der später geltend gemachten Exposition von druckfrischen Plakaten gibt es nicht einmal den Nachweis des Austritts von Formaldehyd. Die Ermittlungsergebnisse lassen keinen Schluss darauf zu, wie die Exposition der Klägerin über einen längeren Zeitraum als den eines Tages gewesen ist. Es kann damit auch nicht als bewiesen angesehen werden, dass die Klägerin Formaldehyd in höherem Maße ausgesetzt war, als außerhalb der versicherten Tätigkeit, wenn man bedenkt, dass Formaldehyd bekanntermaßen zu den sogenannten ubiquitären Stoffen gehört, denen jeder Mensch z.B. durch Zigarettenrauch, Autoabgase sowie Möbel, Farben und Textilien exponiert ist. Darüber hinaus wäre zu beachten, dass zur Quelle der Formaldehydexposition keinerlei verwertbare Feststellungen getroffen worden sind. Dass es sich bei der Quelle um den Teppichboden oder/und den verwendeten Kleber gehandelt habe, ist durch keinerlei weitere Feststellungen untermauert. Sollte dem aber so sein, wäre noch nicht ersichtlich, inwiefern die Klägerin damit eine höhere Exposition aufzuweisen hätte, als es bei der übrigen Bevölkerung im nicht beruflichen Bereich durch neuverlegte Teppichböden der Fall ist.

Darüber hinaus kommt eine Anerkennung des MCS als Berufskrankheit nach § 551 Abs.2 RVO bzw. § 9 Abs.2 SGB VII nicht in Betracht. Es fehlt, wie sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof.Dr. N. ergibt, im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Gericht an neuen Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft, wonach die Voraussetzungen für eine Bezeichnung des MCS als Berufskrankheit erfüllt wären. Der Sachverständige gibt insoweit die vom Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung aufgestellten Kriterien wieder (vgl. BSG Urteil vom 04.06.2002 Az.: B 2 U 16/01 R und 20/01 R). Die darüber hinaus in diesen Entscheidungen angesprochene Prärogative des Verordnungsgebers wäre über die vom Sachverständigen für den medizinischen Bereich genannten Kriterien hinaus zu beachten. Dabei könnte dahingestellt bleiben, ob die die in die Verfahren eingeführte Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit nicht ohnehin ergibt, dass MCS seiner Natur nach als definierte Berufskrankheit einer Anerkennung nicht zugänglich ist.

Die vom Sachverständigen Prof.Dr. N. angeführten Kriterien für die Anerkennungsfähigkeit des MCS als Berufskrankheit sind von Prof.Dr.H. und Dr. M. auch nicht ansatzweise erörtert worden. Diese Ärzte haben lediglich darzustellen versucht, was bezüglich des Krankheitsbildes selbst an Erkenntnissen neu sei. Diese Ausführungen haben jedoch keinen Bezug zu dem für die Charakterisierung einer Berufskrankheit notwendigen Kriterien und reichen nicht aus, die vom Gesetz und der Rechtsprechung geforderten Gesichtspunkte zu erbringen.

Die Berufung hat deshalb keinen Erfolg.

Die Entscheidung über die Kosten stützt sich auf § 193 SGG und folgt der Erwägung, dass die Klägerin in beiden Rechtszügen nicht obsiegt hat.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor.