Bayerisches Landessozialgericht - L 3 SB 194/12 - Urteil vom 27.03.2013
Das SGB IX kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung. Deshalb ist dann, wenn bei einem behinderten Menschen mehrere Behinderungen bestehen, nur der Gesamt-GdB festzustellen. An der Feststellung eines Einzelgrades einer einzelnen Behinderung besteht kein Rechtsschutzinteresse.
Tatbestand:
Die 1959 geborene Klägerin ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Sie begehrt die Feststellung, dass die bei ihr u.a. bestehende Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks mit einem Einzel-GdB von mindestens 20 festzustellen ist.
Die Klägerin machte mit Erstantrag vom 22.12.2003 das Vorliegen von Rückenschmerzen, Schulterbeschwerden und Kopfschmerzen geltend. Der Beklagte lehnte es mit Bescheid des Amtes für Versorgung und Familienförderung A-Stadt II vom 14.02.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 29.11.2005 ab, eine Behinderung und einen Grad der Behinderung (GdB) festzustellen. Die Funktionsbehinderung der Wirbelsäule mit Wirbelsäulenverformung bedinge keinen GdB von wenigstens 20.
Nach durchgeführtem Klageverfahren und in Ausführung des angenommenen
Anerkenntnisses des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 18.07.2006 stellte
der Beklagte mit Bescheid vom 21.08.2006 für die Zeit ab 22.12.2003 einen GdB
von 20 unter Berücksichtigung folgender Gesundheitsstörungen fest:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Fehlstatik, degenerative Veränderungen
(Einzel-GdB 20);
2. Funktionsbehinderung des Handgelenkes rechts (Einzel-GdB 10).
Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.10.2006 als unzulässig zurückgewiesen.
Die Klägerin machte mit Neufeststellungsantrag vom 24.04.2007 eine Verschlimmerung ihrer Beschwerden im rechten Handgelenk geltend.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Oberpfalz vom 02.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 07.04.2008 abgelehnt. Dr. K. habe entsprechend seinem Arztbrief vom 16.04.2007 keinen Befund am rechten Handgelenk erhoben.
Die Klägerin hob mit weiterem Neufeststellungsantrag vom 16.12.2009 u.a. hervor, dass sie am 29.05.2009 einen Arbeitsunfall erlitten habe und deswegen im Bereich des rechten Handgelenks an einem Taubheitsgefühl und permanenten Schmerzen leide.
Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales
Region Oberpfalz vom 10.03.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom
17.08.2010 abgelehnt. Der GdB betrage wie bisher 20 unter Berücksichtigung
folgender Gesundheitsstörungen:
1. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen,
Fehlstatik (Einzel-GdB 20);
2. Funktionsbehinderung des Handgelenkes rechts (Einzel-GdB 10).
Die Klägerin wies mit Neufeststellungsantrag vom 09.06.2011 auf das bei ihr vorliegende Mamma-Karzinom links hin.
Dementsprechend stellte der Beklagte mit Änderungsbescheid des Zentrums
Bayern Familie und Soziales Region Oberpfalz vom 18.07.2011 ab dem 09.06.2011
einen GdB von 60 unter Berücksichtigung folgender Gesundheitsstörungen fest:
1. Erkrankung der Brust links in Heilungsbewährung (Einzel-GdB 50);
2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, degenerative Veränderungen,
Fehlstatik (Einzel-GdB 20);
3. Funktionsbehinderung des Handgelenkes rechts (Einzel-GdB 10).
Die Klägerin legte mit weiterem Neufeststellungsantrag vom 24.10.2011 das Gutachten des Dr. S. vom 11.08.2011 vor, das dieser für die A.-Versicherung AG gefertigt hatte. Danach stieß die Klägerin am 25.05.2009 auf ihrer Arbeitsstelle in der H.-S.-S. in A-Stadt mit der rechten Hand mit voller Wucht gegen eine geschlossene Türe, wobei sie sich eine Handgelenksdistorsion rechts mit Mittelhandprellung rechts zuzog.
Der Antrag vom 24.10.2011 wurde mit Bescheid des Zentrums Bayern Familie und Soziales Region Oberpfalz vom 12.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides des Zentrums Bayern Familie und Soziales vom 13.02.2012 abgelehnt. Der Gesamt-GdB betrage unverändert 60. Dr. S. habe in seinem chirurgischen Gutachten vom 11.08.2011 eine um 1/5 eingeschränkte Funktionsfähigkeit des rechten Handgelenkes beschrieben. Handrückenwärts könne die rechte Hand bis 50 Grad und hohlhandwärts bis 30 Grad bewegt werden. Dies entspreche gemäß den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" einem Teil-GdB von 10.
Das Sozialgericht München (SG) hat die hiergegen gerichtete Klage mit Urteil vom 26.10.2012 abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch gegen den Beklagten, einen höheren (Einzel-)GdB als 10 für die Funktionsbehinderung des Handgelenks festzustellen. Entsprechend den übereinstimmend erhobenen Befunden des behandelnden Arztes Dr. O. mit Arztbrief vom 15.06.2009 und des Sachverständigen Dr. S. vom 11.08.2011 bestehe eine Funktionseinschränkung des Handgelenks von 1/5. Nehme man einen Einzel-GdB von 50 beim vollständigen Verlust einer Hand als Ausgangswert, so entspräche dies einem Einzel-GdB von 10.
Mit Berufung vom 08.11.2012 beantragt die Klägerin, für die Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks einen Einzel-GdB von mindestens 20 festzustellen. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB sei nicht ihr Anliegen.
Von Seiten des Senats werden die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten und die erstinstanzlichen Streitakten beigezogen. Der Senat weist die Klägerin mit Schreiben vom 18.12.2012 darauf hin, dass bei mehreren Funktionsstörungen die wie hier mit einem Gesamt-GdB zu bewerten sind, kein Rechtsschutzbedürfnis auf Feststellung eines Einzel-GdB bestehe. Die Frage, ob die bei der Klägerin bestehende Funktionsstörung des rechten Handgelenks mit einem Einzel-GdB von 10 oder 20 zu berücksichtigen sei, wirke sich in Berücksichtigung der Krebserkrankung in Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 50 nicht aus.
In dem nichtöffentlichen Teil der Sitzung vom 12.03.2013 erklären die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter. Nach Herstellung der Öffentlichkeit hebt die Klägerin hervor, sie könne nicht akzeptieren, dass bei ihr die Versorgungsverwaltung für die Funktionsstörung im Bereich des rechten Handgelenks bislang nur einen Einzel-GdB von 10 angenommen habe.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des Bescheides vom 12.12.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2012 sowie unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts München vom 26.10.2012 einen Einzel-GdB von mindestens 20 für die Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks festzustellen.
Die Bevollmächtigte des Beklagten beantragt,
die Berufung zurückzuweisen. Die Bevollmächtigte des Beklagten führt aus, dass es hier nicht darauf ankomme, ob ein Einzel-GdB von 10 oder 20 für die Funktionsstörung im Bereich des rechten Handgelenks zugrunde gelegt werde, weil nur der Gesamt-GdB von hier 60 förmlich festzustellen sei.
Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die beigezogenen Unterlagen des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, jedoch unbegründet. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter als Einzelrichter erklärt (§ 155 Abs. 3 und 4 SGG).
Auf Antrag des behinderten Menschen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung (GdB) fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Liegen wie hier mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX). Mit dem Tatbestandsmerkmal "in ihrer Gesamtheit" hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass nur der Gesamt-GdB förmlich festzustellen ist, nicht jedoch die zugrunde liegenden Funktionsstörungen mit den jeweiligen Einzel-GdB-Werten.
Denn wenn ein Gesamtgrad der Behinderung festgestellt ist, so fehlt das Rechtsschutzinteresse an der Feststellung des Einzelgrads einer einzelnen Behinderung (Kossens in Kossens/von der Heide/Maaß, Kommentar zum SGB IX, 3. Auflage, Rz. 26 zu § 69 mit Hinweis auf Bundessozialgericht (BSG) vom 05.05.1993 - 9/9a RVs 2/92 - in SozR 3870 § 4 Nr. 5 = Breithaupt 1993, 943 f).
Das SGB IX kennt, wie zuvor das Schwerbehindertengesetz (SchwbG), nur einen Gesamtzustand der Behinderung, nicht mehrere, nebeneinander bestehende Behinderungen (Dau in Dau/Düwell/Joussen, Kommentar zum SGB IX, 3. Auflage, Rz. 24 zu § 69 mit Hinweis auf BSG vom 10.09.1997 - 9 RVs 15/96 - in BSGE 81, 50, 53 f = SozR 3-3870 § 3 Nr. 7). Maßgebend für den Gesamt-GdB ist, wie sich die verschiedenen Beeinträchtigungen unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen in ihrer Gesamtheit auswirken. Das ist durch eine natürliche, wirklichkeitsorientierte, funktionale Betrachtung zu ermitteln, die auf medizinischen Erkenntnissen beruht. Dafür sind zunächst die Auswirkungen der verschiedenen Beeinträchtigungen jede für sich mit einem Einzel-GdB anzugeben. Aus diesen Einzelgraden lässt sich der Gesamt-GdB unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen einschätzen (Dau a.a.O. mit Hinweis auf BSG vom 14.02.2001 - B 9 V 12/00 R - in BSGE 87, 289, 292 f = SozR 3-3100 § 31 Nr. 5 mit weiteren Nachweisen und zuletzt BSG vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R - in SozR 4-3250 § 69 Nr. 10).
Nachdem die Klägerin bereits mit Berufung vom 08.11.2012 schriftsätzlich erklärt hat, dass sie nicht eine Änderung des Gesamt-GdB anstrebe, sondern nur eine Erhöhung des Einzel-GdB auf 20 für die bei ihr bestehende Funktionsstörung im Bereich des rechten Handgelenks, besteht somit kein Rechtsschutzbedürfnis in Beachtung der vorstehend zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung.
Im Übrigen kann auch aus sachlichen Gründen dahingestellt bleiben, ob die Funktionsstörung des rechten Handgelenks mit einem Einzel-GdB von 10 oder 20 zugrunde zu legen ist. Denn bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt (hier das Krebsleiden in Heilungsbewährung mit einem Einzel-GdB von 50) und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Von Ausnahmefällen abgesehen (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit), führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen ("Versorgungsmedizinische Grundsätze" - Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung - Teil A Rz. 3c und d ee). Die Bevollmächtigte des Beklagten hat somit zutreffend ausgeführt, dass es hier nicht drauf ankommt, ob ein Einzel-GdB von 10 oder 20 für die Funktionsstörung im Bereich des rechten Handgelenks zugrunde gelegt wird, weil nur der Gesamt-GdB von hier 60 förmlich festzustellen ist.
Nach alledem ist die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 26.10.2012 zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision bestehen nicht (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).