Bayerisches Landessozialgericht - L 3 SB 61/13 - Urteil vom 18.11.2014
Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" übernehmen inhaltsgleich in Teil D Rdz. 3 zur Feststellung des Merkzeichens "aG" die oben dargestellten bundesweit gültigen Verwaltungsvorschriften. Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf daher nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet würde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein. Dies ist der Fall, wenn sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen.
Tatbestand:
Der 2003 geborene Kläger ist schwerbehindert im Sinne von §§ 2 Abs. 2, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (SGB IX). Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichen "aG" (= außergewöhnlich gehbehindert) vorliegen, hilfsweise ob das sog. "kleine oder bayerischen aG" zuzuerkennen ist.
Auf den Erstantrag vom 01.06.2006 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 12.10.2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "B", "G" und "H" fest. Berücksichtigt wurden nachstehende Gesundheitsstörungen: Spastische infantile Cerebralparese, kombinierte, sprachbetonte Entwicklungsstörung, rezeptive und expressive Sprachstörung, Entwicklungsstörung der Mundmotorik, geistige Behinderung mit autistischem Verhalten.
Der Antrag auf Feststellung des Merkzeichens "aG" vom 01.08.2011 wurde mit Bescheid vom 12.09.2011 abgelehnt. Der Kläger gehöre nicht zum Kreis der außergewöhnlich Gehbehinderten, da die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden dürfe. Auch eine Bescheinigung zur Vorlage bei der Straßenverkehrsbehörde über die gesundheitlichen Voraussetzungen für Parkerleichterungen (= sog. "kleines oder bayerisches aG") könne nicht ausgestellt werden, da bei dem Kläger keine der folgenden Einschränkungen bestünden: Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten) mit GdB 80 und Merkzeichen "G" und "B"; Funktionsstörungen an den unteren Gliedmaßen (und der Lendenwirbelsäule, soweit sich diese auf das Gehvermögen auswirkten) mit GdB 70 und Herz- oder Lungenleiden mit GdB 50 und Merkzeichen "G" und "B"; Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa mit Einzel-GdB 60; künstlicher Darmausgang und künstliche Harnableitung nach außen mit Einzel-GdB 70; Conterganschädigung (Fehlen oder starke Verkürzung beider oberer Gliedmaßen) oder vergleichbare Einschränkung (Verlust oder Gebrauchsunfähigkeit beider oberer Gliedmaßen.
Der hiergegen gerichtete Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2012 zurückgewiesen. Wenngleich bei dem Kläger als Gesundheitsstörungen eine geistige Behinderung mit autistischem Verhalten mit schwerer Sprachentwicklungsstörung (Einzel-GdB 100) und eine spastische infantile Cerebralparese (Einzel-GdB 50) bestünden, sei dieser nicht außergewöhnlich gehbehindert. Es könne auch nicht empfohlen werden, bei der Straßenverkehrsbehörde eine Ausnahmegenehmigung für Parkerleichterungen zu beantragen.
Mit Klage zum Sozialgericht München (SG) vom 23.04.2012 haben die Bevollmächtigten des Klägers beantragt, ihm das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen. Auch wenn der Kläger grundsätzlich in der Lage wäre, eine längere Wegstrecke zurückzulegen, tue er dies aufgrund seiner geistigen Behinderung bzw. des Autismus nicht. Diese Störung sei mit einer neuronalen Störung gleichzusetzen.
Das SG hat Befundberichte des Facharztes für Kinder- und Jugendmedizin S. und der Orthopädin Dr. B. mit Fremdbefunden beigezogen. Herr S. hat mit Befundbericht vom 31.05.2012 dargelegt, der Kläger zeige das Vollbild eines frühkindlichen Autismus, verkompliziert durch die Hemispastik und die kognitive Entwicklungsstörung mit einem Entwicklungsrückstand von mehreren Jahren. Er spreche nur vereinzelte Wörter. Seine Mobilität sei stark eingeschränkt und bei weitem nicht altersgerecht; keinerlei Einschätzung von Eigen- oder Fremdgefährdung. Eine gezielte Kommunikation sei mit dem Kläger kaum möglich. Er braucht eine Rund-um-die-Uhr-Betreuuung.
Die Orthopädin Dr. B. hat mit Arztbrief vom 29.06.2009 dargelegt, barfuß zeige er jetzt einen guten Fußbodenkontakt mit Abrollung. Die Hüft- und Knieflexion/-extension ist passiv frei. Die Hüften lassen sich annähernd symmetrisch abspreizen in Beuge- und Streckstellung. Beide Füße können gut über die Mittelstellung bei gestrecktem Knie dorsal flektiert werden. Im Sitzen sei die Wirbelsäule im Lot.
Ergänzend hat Dr. M. (Oberarzt an der Orthopädischen Kinderklinik A.) mit Befundbericht vom 16.12.2009 dargelegt, dass der Kläger in Vorfußbelastung teilweise ohne Fersen-Boden-Kontakt links laufe. Hier sei die Nachtschiene noch indiziert. Auf der rechten Seite bestehe ein vollflächiger Fersen-Boden-Kontakt, insofern sei eine Nachtschiene nicht mehr nötig. Jedoch sei aufgrund des Plattfußes eine Schaleneinlage tagsüber rechts zu tragen.
Der Sachverständige Dr. K. hat mit nervenfachärztlichen Gutachten vom 22.10.2012 ausgeführt, dass bei dem Kläger aufgrund der spastischen Parese eine gewisse Gehbehinderung vorliege, der durch das Merkzeichen "G" ausreichend Rechnung getragen sei. Im Übrigen habe der Kläger das typische Bild eines frühkindlichen Autismus gezeigt. Er habe mit dem Sachverständigen keinen Kontakt aufgenommen, eine sprachliche Äußerung sei nicht zu erhalten gewesen, er habe durchgängig psychomotorisch unruhig gewirkt. Der Kläger sei immer wieder aufgestanden und durch das Untersuchungszimmer gelaufen und habe sich verschiedene Gegenstände angesehen. Zeitweise habe er sich auch an die Mutter geklammert. Wenn er aufgrund seiner spastischen und autistischen Behinderungen oft nicht bereit sei zu laufen bzw. getragen werden müsse, resultiere hieraus keine außergewöhnliche Gehbehinderung. Vielmehr nehme der Kläger auch am Sportunterricht teil. Laufspiele würden ihm oft Spaß machen.
Das SG hat mit Urteil vom 20.12.2012 den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 verurteilt, bei dem Kläger das Merkzeichen "Bayern-aG" ab Dezember 2012 anzuerkennen. Der Kläger sei aufgrund seiner autistischen Schwerstbehinderung nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Er lebe offensichtlich in seiner eigenen geistigen Welt, in die die Eltern nicht eindringen könnten. Somit sei das Vorbringen der Mutter des Klägers glaubhaft, wonach dieser außerhalb des Fahrzeuges lediglich zwei bis drei Schritte tue und sich dann auf den Boden setze. Von dort sei er nicht mehr zu motivieren, sich aus eigener Kraft oder mit eigenem Willen weiter fortzubewegen. Auch wenn die Behinderungen an den Gliedmaßen nicht genügten, die Voraussetzungen für das Merkzeichen "Bayern-aG" zu erfüllen, sei das Gericht der Auffassung, dass es sich hier um eine Gangstörung aufgrund der psychischen Behinderung handele, die den Kläger außerstande setze, sich außerhalb eines Fahrzeuges mehr als drei bis vier Meter fortzubewegen. Dieses psychische Fehlverhalten müsse einer schwersten Gehbehinderung gleichgestellt werden.
Der Beklagte beantragt mit Berufung vom 26.03.2013, das Urteil des SG vom 20.12.2012 aufzuheben. Das sog. "Bayern-aG" sei kein Merkzeichen im Sinne der Schwerbehindertenausweisverordnung. Es handele sich vielmehr um die schlagwortartige Umschreibung eines Verwaltungsinternums ohne Außenwirkung. Aufgabe der Versorgungsverwaltung sei insoweit lediglich eine im Wege der Amtshilfe vorzunehmende Prüfung medizinischer Vorgaben. Die entsprechende Stellungnahme werde in Form einer Bescheinigung abgegeben. Die Bescheinigung erhalte entweder der behinderte Mensch selbst (zur Vorlage bei der Straßenverkehrsbehörde) oder gehe auf Anfrage direkt an die Straßenverkehrsbehörde. Die rechtsmittelfähige Entscheidung über die Gewährung einer Parkerleichterung (Ausnahmegenehmigung) treffe allein die zuständige Straßenverkehrsbehörde.
Die Bevollmächtigten des Klägers beantragen mit Anschlussberufung vom 19.04.2013 bei dem Kläger auch das Merkzeichen "aG" festzustellen.
Von Seiten des Senats werden die Schwerbehinderten-Akten des Beklagten sowie die erstinstanzlichen Streitakten beigezogen. Der Vater des Klägers berichtet in der nicht-öffentlichen Sitzung vom 21.02.2014, dass der mittlerweile ca. 30 kg schwere Sohn immer wieder stehen bleibe und nicht dazu motiviert werden könne, sich in irgend einer Art und Weise fortzubewegen. Die Situation erscheine dem Vater wesentlich gravierender als z. B. ein behindertes Kind, das auch im Rollstuhl noch eine gewisse Mobilität habe. Z. B. müsse der Sohn von einem Weihnachtsmarkt nach Hause getragen werden, was seiner zierlichen Frau nicht mehr möglich sei.
Die stellvertretende Schulleiterin E. der M.-W.-Schule (Stiftung A.) berichtet unter dem 12.03.2014, dass der Kläger ein sehr schwieriger autistischer Schüler mit sehr hohem Betreuungsbedarf sei. Aufgrund seiner ausgeprägten Autoaggressionen bedürfe er einer permanenten engen Begleitung, um sich nicht selbst dauerhaft zu schädigen. Er habe große motorische Probleme. Sein Gang sei sehr unsicher, aufgrund der autismusspezifischen Wahrnehmungsproblematik falle es ihm schwer, sich ohne Hilfe in unbekanntem Gelände, insbesondere bei unterschiedlicher Bodenbeschaffenheit, fortzubewegen. Er bedürfe einer Person in unmittelbarer Nähe. Wie aus dem aktuellen Förderbericht zu ersehen sei, sei eine Förderung der Bereiche Grob- und Feinmotorik ein Schwerpunkt der Förderung. Im Zwischenzeugnis für das Schuljahr 2013/14 ist u. a. vermerkt, dass der Kläger im Sportunterricht sich nach einem Aufwärmspiel gerne mit Rollbrettern und neuen "Swingrollern" bewege. Dabei sei der Kläger immer mutiger geworden. Rundherum glücklich sei er jedoch nur im Wasser. Auch bei ritualisierten Arbeitsaufträgen werde der Kläger immer selbstständiger. Er mache hierbei große Fortschritte und bringe oft ohne Aufforderung seine Brotzeitbox zum Schulranzen und räume den Tisch ab. Täglich leere er die Kompostschüssel aus, inzwischen sehr gezielt, ohne den Behälter mit wegzuwerfen. Der Kläger kenne wiederkehrende Wege gut und schlage diese immer selbstständiger ein (z. B. zum Kompost, zum Bus, zur Toilette).
Der Sachverständige Dr. E. befürwortet mit orthopädisch-allgemeinärztlichem Gutachten vom 23.07.2014 die Zuerkennung des Merkzeichen "aG". Es handele sich eindeutig um ein psychisches Fehlverhalten, das eine Abweichung von den Anhaltspunkten im Sinne einer schwersten Gehbehinderung rechtfertige.
Dr. N. hat mit versorgungsärztlicher Stellungnahme vom 20.08.2014 entgegnet, es gehe um die Eigenart des Klägers, aufgrund seiner Autismus-Erkrankung und der damit verbundenen "Unzulänglichkeit" zwischenzeitlich das Gehen zu verweigern und ca. 20 Minuten am Orte auszuharren, so die Schilderung seiner Mutter. Ob die vorgeschlagene "Abweichung von den Anhaltspunkten" möglich sei oder nicht, sei eine rechtliche und keine medizinische Frage. Im Übrigen würden auch die Voraussetzungen für das sog. "Bayern-aG" nicht vorliegen.
Die Bevollmächtigten des Klägers haben den Antrag Prof. Dr. N. vom 16.05.2013 auf eigenes Kostenrisiko zu hören nicht mehr aufrecht erhalten, sondern mit Schriftsatz vom 05.09.2014 mitgeteilt, dass die Angelegenheit entscheidungsreif sei. In der mündlichen Verhandlung vom 18.11.2014 bestätigt der Vater des Klägers, dass sich dieser je nach Tagesform beim Ein- und Aussteigen aus dem Auto unterschiedlich verhält. An schlechten Tagen bleibt er stehen und - dies ist für die Eltern das Schlimmste - gibt sich dann selbst Ohrfeigen. An guten Tagen geht er auch mit, aber das ist eben nicht jeden Tag so.
Der Bevollmächtigte des Beklagten stellt den Antrag, das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.12.2012 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 abzuweisen.
Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt, das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.12.2012 abzuändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 zu verurteilen, bei dem Kläger das Merkzeichen "aG" festzustellen.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der beigezogenen Schwerbehindertenakten des Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist gemäß §§ 143, 144 und 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Gleiches gilt für die Anschlussberufung des Klägers vom 19.04.2013 (§ 202 SGG i. V. m. § 524 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Die Berufung des Beklagten ist begründet, die Anschlussberufung des Klägers unbegründet. Der Kläger hat weder aus § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) noch aus § 44 Abs. 1, 2 SGB X jeweils in Verbindung mit §§ 69 Abs. 1, 4 SGB IX einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (unter 1.). Der Beklagte ist auch nicht verpflichtet, eine Ausnahmebescheinigung zur Vorlage bei den Straßenverkehrsbehörden (sog. "Bayern-aG") auszustellen (unter 2.).
1. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung ermächtigt, Rechtsverordnungen mit Zustimmung des Bundesrates über "die Schaffung von Parkmöglichkeiten für schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung" zu erlassen. Davon hat das Bundesministerium mit § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) Gebrauch gemacht, ohne die Voraussetzungen der außergewöhnlichen Gehbehinderung näher zu präzisieren. Wegen der bundesweiten Auswirkungen hat das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung von seiner in § 46 Abs. 2 Satz 3 StVO gegebenen Ermächtigung zum Erlass von bundesweit gültigen Verwaltungsvorschriften mit den Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO), zuletzt in der ab dem 01.09.2009 gültigen Fassung vom 17.07.2009, Gebrauch gemacht und dabei in Ziff. 129 f. Folgendes vorgegeben: "Als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen: Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig oberschenkelamputierte Menschen, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach Versorgung ärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind."
Nach § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung (GdB) nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX i. V. m. § 30 Abs. 1 und 16 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sind zur Beurteilung der jeweiligen Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" (Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung in der jeweiligen Fassung) zugrunde zu legen, welche Rechtsnormcharakter haben (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2009 - B 9 SB 3/08 R - Juris). Sie haben die vormals geltenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht 1996 ff., 2008" mit Wirkung zum 01.01.2009 abgelöst.
Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 4 SGB IX). Dies gilt für die Zuerkennung von Merkzeichen, hier das Merkzeichen "aG".
Die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" übernehmen inhaltsgleich in Teil D Rdz. 3 zur Feststellung des Merkzeichens "aG" die oben dargestellten bundesweit gültigen Verwaltungsvorschriften. Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf daher nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet würde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein. Dies ist der Fall, wenn sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen.
Im Übrigen enthalten die "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" in Teil D Rdz. 3 keine vergleichbare Regelung zu Teil D Rdz. 1 f., nach welcher auch bei bestimmten geistigen Behinderungen mit Störung der Orientierungsfähigkeit das Merkzeichen "G" (= Vorliegen einer erheblichen Gehbehinderung) zuerkannt werden kann.
Das BSG geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass für eine weite Auslegung im Rahmen der Prüfung die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" kein Raum ist. Der Nachteilsausgleich soll allein die neben der Personenkraftwagenbenutzung unausweichlich anfallende tatsächliche Wegstrecke soweit wie möglich verkürzen. Dies bedeutet zugleich, dass der Personenkreis eng zu fassen ist. Denn mit der Ausweitung des Personenkreises steigt nicht nur die Anzahl der Benutzer, dem an sich mit einer Vermehrung entsprechender Parkplätze begegnet werden könnte. Mit jeder Vermehrung der Parkflächen wird aber dem gesamten Personenkreis eine durchschnittlich längere Wegstrecke zugemutet, weil ortsnaher Parkraum nicht beliebig geschaffen werden kann. Auch hier ist bei einer an sich vielleicht wünschenswerten Ausweitung des begünstigten Personenkreises zu bedenken, dass dadurch der in erster Linie zu begünstigende Personenkreis wieder benachteiligt würde (BSG, Urteil vom 03.02.1988 - 9/9 a RVs 19/86 - Juris).
Der Maßstab zur Gleichstellung muss sich daher strickt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz - Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung - orientieren (BSG, Urteile vom 29.03.2007 - B 9 a SB 1/06 R - vom 10.12.2002 - B 9 SB 7/01 R -, vom 13.12.1994 - 9 RVs 3/94 - und vom 03.02.1988 - 9/9 a RVs 19/86 - Juris). Das BSG vertritt damit unzweifelhaft die Auffassung, dass eine erweiternde Auslegung der hier maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nach dem Zweck des Schwerbehindertenrechts nicht zulässig ist (Bayer. Landessozialgericht, Urteile vom 27.05.2010 - L 15 SB 155/07 - und vom 28.02.2013 - L 15 SB 113/11 - Juris).
Hiervon ausgehend haben sowohl der erstinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. K. mit Gutachten vom 22.10.2012 als auch der zweitinstanzlich gehörte Sachverständige Dr. E. mit Gutachten vom 23.07.2014 übereinstimmend bestätigt, dass der Kläger trotz seines spastischen Gangbildes selbstständig und hilfsmittelfrei gehen kann. Dies ergibt sich auch aus dem Zwischenzeugnis der M.-W.-Schule für das Schuljahr 2013/14, wenn dort vermerkt ist, dass der Kläger wiederkehrende Wege gut kennt und diese immer selbstständiger einschlägt (z. B. zum Kompost, zum Bus und zur Toilette). Im Sportunterricht machen ihm auch Laufspiele Spaß. Auf Rollbrettern und neuen "Swingrollern" ist er immer mutiger geworden.
Ebenfalls übereinstimmend mit den Feststellungen der gerichtlich bestellten Sachverständigen haben die Eltern des Klägers geschildert, es bestehe aufgrund seiner Autismus-Erkrankung die Besonderheit, dass er zwischenzeitlich das Gehen immer wieder verweigert und ca. 20 Minuten am Ort ausharrt. So musste der Kläger z. B. von einem Christkindlmarkt nach Hause getragen werden. In unbekannter Umgebung, z. B. auf dem Parkplatz eines Supermarktes, weigert er sich bereits nach zwei bis vier Metern nach Verlassen des Pkw weiterzugehen. Je nach Tagesform verhält sich der Kläger unterschiedlich bei dem Ein- und Aussteigen aus dem PKW. An schlechten Tagen bleibt er stehen und zeigt ein für die Eltern sehr belastendes autoaggressives Verhalten. An guten Tagen geht er auch mit. Es handelt sich somit nicht um einen Dauerzustand, sondern um ein situationsabhängiges wechselndes Verhalten von Fall zu Fall.
Entgegen dem medizinischen Votum des Sachverständigen Dr. E. mit Gutachten vom 22.10.2012 ist das Merkzeichen "aG" bei dem vorstehend beschriebenen Sachverhalt aus rechtlichen Gründen nicht zuzuerkennen. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist für eine erweiterte Auslegung im Rahmen der Prüfung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" kein Raum. Voraussetzung für das Merkzeichen "aG" ist vielmehr, dass der Behinderte praktisch ab den ersten Schritten die für das Merkzeichen "aG" erforderlichen ganz erheblichen Beeinträchtigungen der Gehfähigkeit hat und es sich dabei um einen dauerhaften Zustand handelt. Nicht ausreichend ist, wenn die massive Beeinträchtigung der Gehfähigkeit nur zeitweise vorliegt (Bayer. Landessozialgericht (BayLSG), Urteil vom 28.02.2013 - L 15 SB 113/11 - Juris).
Wenn der Sachverständige Dr. E. mit Gutachten vom 23.07.2014 eine Abweichung von den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" im Hinblick auf die zeitweise immer wieder auftretende Verweigerungshaltung des kindlichen Klägers, meist in fremder Umgebung, befürwortet und aus medizinischer Sicht das Merkzeichen "aG" festgestellt wissen will, ist diesem Votum aus den vorstehend dargelegten rechtlichen Gründen nicht zu folgen. Er missversteht auch die herrschende Kommentarmeinung zu den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" von Wendler/Schillings, wenn dort auf Seite 366 zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ausgeführt ist, eine geistige Behinderung mit einem GdB von 100 rechtfertigt keine Gleichstellung, es sei denn, dass die Gehfähigkeit einschränkende körperliche Defizite - auch Störungen des zentralen Nervensystems - vorliegen (Beirat vom 07./08.11.2001: "Gutachtliche Beurteilung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung bei geistig behinderten Menschen"). Denn der kindliche Kläger ist in einer ihm vertrauten Umgebung trotz seiner spastischen Einschränkung der Gehfähigkeit in einem das Merkzeichen "aG" überschreitendendem Maß mobil. Wie bereits erwähnt, legt er z. B. auch den Weg von der M.-W.-Schule zum Bus zu Fuß zurück. Im Übrigen handelt es sich wie bereits dargelegt nicht um einen Dauerzustand, sondern um ein wechselndes situationsabhängiges Verhalten von Fall zu Fall.
2. Soweit der Kläger hilfsweise eine Bescheinigung im Sinne einer Ausnahmegenehmigung für Parkerleichterungen begehrt (sog. "kleines" oder "Bayern aG"), hat der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16.04.2012 zutreffend darauf hingewiesen, dass hierfür eine entsprechender Antrag bei der Straßenverkehrsbehörde einzureichen ist. Denn nach § 6 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i. V. m. § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) und der hierzu ergangenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VwV) obliegt der Vollzug bzw. die Erteilung entsprechender Ausnahmegenehmigungen nicht der Versorgungsverwaltung bzw. dem Beklagten in seiner Eigenschaft als Sozialbehörde, sondern den Straßenverkehrsbehörden, deren Entscheidungen ggf. von den Verwaltungsgerichten zu überprüfen sind. Insoweit ist eine Klage vor den Sozialgerichten bereits unzulässig. Dem Kläger fehlt bereits ein Rechtsschutzbedürfnis, da kein Antrag bei der zuständigen örtlichen Straßenverkehrsbehörde gestellt wurde. Nach Art. 3 Abs. 2 Nr. 4 Bayerisches Gesetz über die Zuständigkeiten im Verkehrswesen (ZustGVerk) ist hierfür die Stadt A-Stadt zuständig. Insoweit liegt auch keine Passivlegitimation des Beklagten vor.
Wenn der Beklagte mit Bescheid vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 dennoch hierauf umfassend eingegangen ist, begründet dies keine Zuständigkeit als Straßenverkehrsbehörde. Es sollte hierdurch dem Bürger und auch der Straßenverkehrsbehörde die straßenrechtliche Entscheidung erleichtert werden. Die diesbezüglichen Ausführungen können jedoch nicht isoliert angefochten und von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit überprüft werden.
Nach alledem ist das Urteil des Sozialgerichts München vom 20.12.2012 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 12.09.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.04.2012 abzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf §§ 183, 193 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision wegen Zuerkennung des Merkzeichens "aG" liegen im Hinblick auf die vorstehend zitierte höchstrichterliche Rechtsprechung des BSG nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).