Tatbestand:

Streitig ist die Feststellung der HIV-Infektion als Berufskrankheit (BK) Nr. 3101.

Die 1966 geborene Klägerin absolvierte im Rahmen ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit bei der J. von Ende Juli 1982 bis Mitte August 1982 ein Praktikum in der Privatklinik Dr. S. (Chirurgie, Orthopädie, Innere Medizin u.a.) in B-Stadt. Während dieser Praktikantentätigkeit erlitt sie mehrmals Schnitt- bzw. Stichverletzungen an gebrauchten Kanülen bzw. Skalpellen. Nach ihren Angaben hatte sie sich dabei auch nach der Blutentnahme bei einem Patienten, nachdem sie gestolpert war, versehentlich mit einer mit Blut (ca. 0,5 ml) gefüllten Spritze gestochen. Im nachfolgenden vierwöchigen Familienurlaub in Spanien traten grippeähnliche Symptome (Durchfall, Fieber, Übelkeit) und Hauterscheinungen auf; die Klägerin war damals zwei Wochen bettlägerig.

Sie legte 1984 die Mittlere Reife ab, durchlief von 1985 bis 1988 die Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und war anschließend in diesem Beruf in einer Kinderklinik tätig. Am 07.04.1987 und im November 1987 wurde mittels einer Laboruntersuchung (ELISA) eine HIV-Infektion festgestellt. Die Klägerin wurde mit dem Medikament Retrovir behandelt. Sie informierte die Beklagte anlässlich einer persönlichen Vorsprache am 14.12.1988 über diese Ereignisse.

In der gutachtlichen Stellungnahme vom 28.01.1989 teilte Professor Dr. G. (P.-Institut B-Stadt) der Beklagten mit, das serologische Anti-HIV-Muster der Klägerin könne mit einer Infektion zum Zeitpunkt des Praktikums in Übereinstimmung gebracht werden; ein Nadelstich sei weder dokumentiert noch belegt. Die Ermittlungen an Hand der Krankenunterlagen in der S.-Klinik waren bezüglich der Identifizierung eines Patienten mit HIV erfolglos.

Bei einer weiteren persönlichen Vorsprache am 13.06.1985 verweigerte die Klägerin Angaben zu ihrem Arbeitgeber. Die Beklagte lehnte daraufhin mit dem bindend gewordenen Bescheid vom 21.03.1990 Leistungen aus Anlass der HIV-Infektion wegen mangelnder Mitwirkung der Klägerin ab; sie habe Angaben zu ihren früheren Beschäftigungsverhältnissen bzw. Betriebspraktika verweigert.

Anfang 2007 nahm der Klägerbevollmächtigte das Verwaltungsverfahren wieder auf. Nach Erinnerung der Klägerin habe sie sich nach der Blutentnahme bei einem Patienten mit dem Namen K., der Steward bei einer amerikanischen Fluggesellschaft gewesen sei, versehentlich mit der Spritze (in den Daumen) gestochen. Damals habe es keine Verhaltensregeln für einen Spritzenunfall in der Klinik gegeben und ein HIV-Test sei noch nicht bekannt gewesen.

Die von der Beklagten gehörte Regierung von Oberbayern (Gewerbeaufsichtsamt) vertrat in der Stellungnahme vom 02.06.2009 (Internist Dr. W.) die Auffassung, dass bei der Verwendung der Spritze wahrscheinlich die für eine Infektion erforderliche Mindestmenge von 1,0 µl infizierten Blutes nicht erreicht worden sei. Alle Angaben der Klägerin seien nicht bewiesen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 25.06.2009 die Anerkennung der HIV-Infektion als Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Berufskrankheiten-Liste sowie einen Leistungsanspruch ab; es sei nach der Stellungnahme der Regierung von Oberbayern nicht nachgewiesen, dass sich die Klägerin durch ihre berufliche Tätigkeit infiziert habe.

Die Beklagte wies den dagegen eingelegten Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23.09.2009 zurück. Für die Feststellung der Berufskrankheit sei der Nachweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit erforderlich. Es sei im Anschluss an das Praktikum kein HIV-Test durchgeführt worden und es könne auch nicht nachgewiesen werden, dass der angegebene Patient tatsächlich mit HIV infiziert gewesen sei.

Die Klägerin hat hiergegen am 26.10.2009 beim Sozialgericht München (SG) Klage erhoben. Sie macht geltend, sie habe sich am 12.08.1982 bei einem Spritzenunfall nach der Blutentnahme bei dem Patienten K. mit HIV-verseuchtem Blut infiziert. Eine andere Infektionsmöglichkeit scheide aus. Sie habe im Zeitraum von 1984 bis 1987 fünf Sexualpartner gehabt, die alle negativ auf HIV getestet worden sind. Vor 1984 habe sie keine Intimkontakte gehabt. Die Beklagte habe es während des früheren Verwaltungsverfahrens versäumt, den Sachverhalt aufzuklären.

Das SG hat im Erörterungstermin vom 26.08.2010 die Klägerin angehört, die ihre Angaben zu der Tätigkeit als Praktikantin in der S.-Klinik, den ersten Symptomen nach der Infektion, zu ihrer beruflichen Entwicklung und den mit Professor Dr. G. erfolglos verlaufenen Versuchen zur Aufklärung des Sachverhalts (Einsichtnahme in die Krankenakten der Klinik während des Praktikums) bestätigt hat. Das SG hat außerdem die Mutter der Klägerin als Zeugin zu den Krankheitssymptomen während des Urlaubs nach dem Praktikum gehört.

Das SG hat ein ärztliches Sachverständigengutachten von Prof. Dr. C. (Institut für Virologie und Immunbiologie der Universität C-Stadt) vom 15.11.2011 eingeholt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin ein signifikant erhöhtes Risiko von beruflich exponiertem medizinischen Personal im Vergleich zur weiblichen Allgemeinbevölkerung bestanden habe, sich auch vor 1987 mit HIV infiziert zu haben. Sie habe nicht zur Risikogruppe der Homosexuellen und Drogensüchtigen gehört. Vor 1987 habe ein lockerer Umgang mit Schutzmaßnahmen gegen die Infektion mit HIV geherrscht. Nach einer Primärinfektion komme es in mehr als in 50 % der Fälle zu einer grippeähnlichen Symptomatik und die Erkrankung Aids trete dann nach fünf bis zehn Jahren auf. Der Beginn der Erkrankung sei im April 1987 bzw. im Jahr 1989 anzunehmen; die Minderung der Erwerbsfähigkeit betrage 70 v. H.

Mit Urteil vom 12.03.2012 hat das SG festgestellt, dass die HIV-Infektion der Klägerin eine Berufskrankheit nach Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ist. Die Klägerin sei als Praktikantin im Gesundheitswesen tätig gewesen und sei dort einer besonderen Infektionsgefahr ausgesetzt gewesen. Die Infektion während des Praktikums sei auch nachgewiesen. Kurz nach Beendigung des Praktikums seien die ersten Symptome der Erkrankung aufgetreten. Es sei auch belegt, dass die geringe Menge von mit HIV-verseuchten Blut aus der Spritze zur Infektion ausgereicht habe. Weitere Infektionsquellen hätten nicht vorgelegen. Die Ansteckungsgefahr bei heterosexuellen Kontakten sei geringfügig.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten vom 26.06.2012. Die Klägerin habe den Namen des Patienten, mit dessen Blut sie sich infiziert habe, anfangs nicht genannt. Es sei auch dessen HIV-Infektion nicht nachgewiesen. Der Senat hat unter anderem eine Auskunft der B. E. und Befundberichte von Dr. J.-G., Dr. F. sowie Privatdozent Dr. S. (Klinikum der Universität B-Stadt) mit Nebenbefunden beigezogen und eine ergänzende gutachtliche Stellungnahme des Sachverständigen Professor Dr. C. vom 01.07.2013 eingeholt. Der Sachverständige hat seine früheren Feststellungen bestätigt, dass die Klägerin bei dem Praktikum in der S.-Klinik einem signifikant erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen sei. Im Rahmen dieser Tätigkeit sei es zu einer tiefen Nadelstichverletzung mit Übertragung von Patientenblut gekommen. Der Nachweis einer Infektion mit HIV zum damaligen Zeitpunkt (1982) sei nicht möglich gewesen; entsprechende Testsysteme hätten in Deutschland erst seit 1985 zur Verfügung gestanden. Die Angaben der Klägerin zur Nadelstichverletzung und den nachfolgenden akuten retroviralem Syndrom, der zeitliche Ablauf der HIV-Infektion und die Entwicklung der ersten Symptome im Frühjahr 1987 seien schlüssig und eher nachzuvollziehen als eine spätere Infektion mit deutlich schnellerem Verlauf.

Die Beklagte beantragt, 

das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, 

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Beigezogen zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurden die Akten der Beklagten und des SG. Auf den Inhalt der beigezogenen Akten und die Sitzungsniederschrift wird im Übrigen Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143, 1 Abs. 1 S. 2, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Sie ist unbegründet. Das Urteil des SG ist nicht zu beanstanden; denn es hat zu Recht bei der Klägerin die streitige Berufskrankheit Nr. 3101 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 20.6.1968 (BGBl I S. 721) festgestellt.

Hier entscheidet das Gericht über eine Feststellungsklage gemäß § 55 Abs. 1 SGG. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist eine Klage auf Feststellung zulässig, dass ein Unfall ein Arbeitsunfall ist; dies gilt auch für Berufskrankheiten entsprechend. Ein Antrag, einen Kläger wegen der Folgen des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit dem Grunde nach zu entschädigen, ist als Antrag auf Feststellung des Arbeitsunfalls oder der Berufskrankheit auszulegen (Keller in Meyer-Ladewig Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage, § 55, Rn. 13b m.w.N.).

Im vorliegenden Fall ist das frühere Recht der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzuwenden, weil der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs VII (SGB VII) am 1.1.1997 eingetreten ist (§ 212 SGB VII; BSG vom 18.11.1997, MedR 1999, 45). Die Ausnahmeregelung des § 214 Abs. 3 SGB VII, wonach die Vorschriften über Renten usw. auch für Versicherungsfälle gelten, die vor dem Tag des Inkrafttretens des Gesetzes eingetreten sind, wenn diese Leistungen nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes erstmals festzusetzen sind, greift hier nicht ein (Becker in Becker, Franke, Molkentin, SGB VII, 3. Auflage, § 214, Rn. 5). Denn festzusetzen in diesem Sinne sind Leistungen, wenn der Anspruch entstanden ist (§ 40 Abs. 1 Sozialgesetzbuch I). Nach dieser gesetzlichen Regelung ist ein Anspruch entstanden, sobald die im Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmten Voraussetzungen vorliegen. Der Anspruch ist mit dem vor dem 1.1.1997 eingetretenen Versicherungsfall der Infektion entstanden.

Die Klägerin war während ihrer Praktikantentätigkeit gesetzlich unfallversichert gemäß § 539 Abs. 1 Nr. 7 RVO. Danach sind in der Unfallversicherung die im Gesundheits- oder Veterinärwesen oder in der Wohlfahrtspflege Tätigen gesetzlich versichert. § 551 Abs. 1 RVO regelt, dass als Arbeitsunfall ferner eine Berufskrankheit gilt. Berufskrankheiten sind die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrats bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet. Die Bundesregierung ist ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. Sie kann dabei bestimmen, dass die Krankheiten nur dann Berufskrankheiten sind, wenn sie durch die Arbeit in bestimmten Unternehmen verursacht worden sind. Zum damaligen Zeitpunkt der Praktikantentätigkeit galt die Berufskrankheiten-Verordnung in der Fassung vom 8.12.1976 (BGBl I S. 3329), in dessen Anlage 1 unter Nr. 3101 als Berufskrankheit Infektionskrankheiten anerkannt sind, "wenn der Versicherte im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium tätig oder durch eine andere Tätigkeit der Infektionsgefahr in ähnlichem Maße besonders ausgesetzt war."

Nach der Rechtsprechung des BSG sind § 539 Abs. 1 Nr. 7 RVO und Nr. 3101 Anlage 1 zur BKVO im Zusammenhang zu sehen. Die Einbeziehung der in Nr. 7 genannten Personen in den Kreis der Pflichtversicherten wird mit dem erhöhten Ansteckungsrisiko bezüglich Infektionskrankheiten beim Umgang mit bestimmten Bevölkerungsgruppen gesehen (BSG vom 25.8.1961, BSGE 15, 41, 45; BSG vom 27.10.1961, BSGE 15, 190,193). Dieser der Anlage zur BKVO zu Grunde liegende Gesetzeszweck, der Grund für die Aufnahme der Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten usw. in den Katalog der gefährlichen Betriebsarten war, besteht auch weiterhin (Schlegel in Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd. 2, Unfallversicherungsrecht, § 17, Rn. 2 f.). Ausreichend ist hiernach für die Entschädigung als Berufskrankheit der Nachweis einer Infektionskrankheit und die (frühere) Tätigkeit in einem Unternehmen des Gesundheitsdienstes oder der Wohlfahrtspflege. Ein ursächlicher Zusammenhang in der Gestalt, dass die Infektionskrankheit gerade auf diese Tätigkeit - und nicht z.B. auf einen privaten Urlaub in Übersee mit hoher Ansteckungsgefahr, z.B. bei Typhus - zurückzuführen ist, muss nicht bewiesen werden. Dieser Zusammenhang wird vielmehr vermutet.

Auch wenn die Verletzung mit einer infizierten Spritze im Rahmen einer Heilbehandlung im Krankenhaus ein geschützter Arbeitsunfall ist, muss im vorliegenden Fall jedoch bezüglich der Tatbestandsvoraussetzungen zwischen Arbeitsunfall und Berufskrankheit unterschieden werden. Die für das Berufskrankheitenrecht typischen Schwierigkeiten im Feststellungsverfahren beruhen auf einer Entstehungsursache, die sich vom klassischen Arbeitsunfall mit seinem leicht erkennbaren, plötzlichen, zeitlich eng auf einer Arbeitsschicht begrenzten Geschehen unterscheidet. Bei Berufskrankheiten geht es überwiegend um oft langwierige, allmähliche Entwicklungsprozesse von Erkrankungen und um vielfältige Entstehungsursachen. Dies schließt aber nicht aus, dass auch bei einer Berufskrankheit eine unfallartige Entstehung, also ein einmaliges Ereignis zu Grunde liegen kann. Es besteht dann eine Anspruchsgrundlagenkonkurrenz mit dem Vorrang der Vorschriften über die Berufskrankheiten (Koch in Schulin, a.a.O., § 35, Rn. 26; BSG vom 18.11.1997, a.a.O.; BSG vom 24.7.1985, SozR 5670 Anlage 1, Nr. 3102, Nr. 1).

Die Voraussetzungen der Nr. 3101 sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Klägerin war als Praktikantin in einer Klinik im Gesundheitsdienst tätig. Wesentlicher Inhalt des Begriffs Gesundheitsdienst ist der Dienst zum Schutz, zur Erhaltung, Förderung oder Wiederherstellung der Gesundheit gefährdeter Menschen oder zur Pflege unheilbar Kranker oder Gebrechlicher. Alle Tätigkeiten im Rahmen der "geschlossenen" Gesundheitsfürsorge sind darunter zu verstehen, z.B. die Tätigkeit in Krankenhäusern, Heil- und Pflegeanstalten, wobei das gesamte Personal in den Schutzbereich dieser Regelung einbezogen ist. Denn bei jedem Beschäftigten eines Krankenhauses besteht das erhöhte Risiko, sich an einer Infektionskrankheit anzustecken (Merkblatt zur BK-Nr. 3101 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung, I. Vorkommen und Gefahrenquelle; Schoenberger, Mehrtens, Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 704).

Ein Gesundheitsschaden im Sinne eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes ist hiernach eine Berufskrankheit, wenn sämtliche Tatbestandsmerkmale des § 551 Abs. 1 S. 2 RVO in Verbindung mit einer in der Anlage 1 zu BKVO aufgeführten Krankheit erfüllt sind. Als regelwidrig wird ein Körperzustand beurteilt, der von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm abweicht. Eine derartige Erkrankung ist auch eine HIV-Infektion (Merkblatt BK-Nr. 3101 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung, III. Krankheitsbilder und Diagnosen, Nr. 3. HIV-Infektion/ Aids). Zu den Tatbestandsmerkmalen können im Allgemeinen auch versicherungsrechtliche Begriffe zählen, so vor allem das Element des Zwangs zur Tätigkeitsaufgabe. Diese ist im vorliegenden Fall jedoch nicht erforderlich.

Die Klägerin war aufgrund der Praktikantentätigkeit in der S.-Klinik einer Infektionsgefahr in besonderem Maße ausgesetzt. Der Senat schließt sich der ständigen Rechtsprechung des BSG an, die sich insbesondere mit den Beweisanforderungen bezüglich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Berufstätigkeit und des erhöhten Ansteckungsrisikos befasst hat (BSG vom 18.11.1997, a.a.O., BSG vom 21.3.2006, UV-Recht Aktuell 2006, 216 f.; BSG vom 2.4.2009, NZS 2010, 345 f.; BSG vom 2.04.2009, BSGE 103, 45 ff.; BSG vom 2.04.2009, NZS 2010, 404 ff.; BSG vom 15.9.2011, NZS 2012, 151 f.). Dieser Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass bei dem Nachweis einer erhöhten Infektionsgefahr durch eine berufliche Tätigkeit in einem Krankenhaus und einer Infektionskrankheit ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der versicherten Tätigkeit vorliegt (siehe auch BSG vom 30.5.1988 USK 8887). Die zumindest erforderliche Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen der versicherten Tätigkeit und einer Infektionskrankheit ist grundsätzlich gegeben, wenn nachgewiesen ist, dass der Versicherte bei der Berufstätigkeit - sei es durch einen Patienten, einen Mitarbeiter oder auf sonstige Weise - einer besonderen, über das normale Maß hinausgehenden Ansteckungsgefahr ausgesetzt war. Bei diesem Nachweis kann dann in der Regel auch davon ausgegangen werden, dass der Versicherte sich die bei ihm aufgetretene Infektionskrankheit durch die besondere berufliche Exposition zugezogen hat. Im Gegensatz dazu ist eine freiwillige sexuelle Betätigung stets unversichert. Der Schluss von einer berufsbedingt erhöhten Ansteckungsgefahr auf eine berufliche Ursache der aufgetretene Suchtkrankheit ist somit gerechtfertigt, wenn neben der Gefährdung durch die versicherte Tätigkeit keine anderen, den privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisiken bestanden haben. Kommen sowohl berufliche als auch außerberufliche Verrichtungen als Ansteckungsquelle in Betracht, von denen aber nur eine allein die Krankheit ausgelöst haben kann, muss entschieden werden, ob sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine der unter Versicherungsschutz bestehenden Handlungen als Krankheitsursache identifizieren lässt. Hierbei kommt es auf eine Gesamtwürdigung der beiden Risikobereiche an.

Der Verordnungsgeber nimmt somit typisierend bei einer besonderen Infektionsgefahr im Sinne der BK 3101 an, dass bei Vorliegen der Infektionskrankheit die haftungsbegründende Kausalität grundsätzlich gegeben ist. In diesem Fall tritt aufgrund der Nachweisschwierigkeit eines konkreten Infektionsvorgangs die Infektionsgefahr an die Stelle der Einwirkungen, die entsprechend den Anforderungen an das Merkmal der Einwirkungen im Vollbeweis nachzuweisen ist. Diese besondere Gefahrenexposition kann sich aufgrund der Durchseuchung des Umfelds der Tätigkeit, nämlich des Personenkreises oder der Objekte, mit oder an denen zu arbeiten ist, und der Übertragungsgefahr der ausgeübten Verrichtungen ergeben, die sich nach dem Übertragungsmodus der jeweiligen Infektionskrankheit und nach der Art, der Häufigkeit und der Dauer der vom Versicherten verrichteten gefährlichen Handlungen bestimmt. Dabei genügt nicht eine schlichte Infektionsgefahr, vielmehr setzt die BK 3101 eine erhöhte Infektionsgefahr voraus (BSG vom 2.4.2009, a.a.O.).

Hat ein Versicherter während der in Betracht kommenden Ansteckungszeit einen potentiell geeigneten Kontakt zu einer nachweislichen Infektionsquelle (Personen mit HIV-positivem Befund oder infektiösen Untersuchungsmaterialien), liegt die besondere Ansteckungsgefährdung nahe. Der Nachweis wird erhärtet, wenn direkt nach der Exposition (Nadelstich- oder Schnittverletzungen) eine Blutprobe entnommen wird und in diesem Zeitpunkt keine HIV-Antikörper nachweisbar sind, diese jedoch bei späteren Nachuntersuchungen auftreten. Gehören potentielle infektionsgeeignete Kontakte, wie Schnitt- und Nadelstichverletzungen, nachweislich zum Tätigkeitsprofil, kann je nach den Umständen, der Nachweis eines solchen Ereignisses gegenüber der nachweislich infizierten Person entbehrlich sein (Mehrtens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, Kommentar, Stand Januar 2010, BK 3101, Rn. 22.3 m.w.N. der Rechtsprechung).

Im vorliegenden Fall hat eine (im Vergleich zum allgemeinen Infektionsrisiko der Bevölkerung) erhöhte Infektionsgefahr bei der Klägerin bestanden, weil sie in einem Krankenhaus für Chirurgie und innere Medizin tätig war und dort bereits im Zusammenhang mit Blutentnahmen einer signifikant erhöhten Ansteckungsgefahr im Umgang mit Spritzen ausgesetzt war.

Der Nachweis einer infizierten Kontaktperson legt zwar eine erhöhte Infektionsgefahr nahe. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 2.04.2009, NZS 2010, 404 ff.) ist dieser Schluss jedoch nicht zwingend. Daraus entnimmt das Gericht, dass der hier nicht gelungene Nachweis der von der Klägerin angegebenen Patienten nicht allein zur Ablehnung der BK 3101 führen kann. Maßgebend ist vielmehr eine Gesamtwürdigung der o.g. Tatbestandsmerkmale unter Einbeziehung eines dem privaten Lebensbereich zuzuordnenden Infektionsrisikos sowie her vorliegenden Beweiserleichterungen (BSG vom 2.4.2009, BSGE 103, 45 ff; BSG vom 21.3.2006, UV-Recht Aktuell 2006, 216 ff.).

Bezüglich des Beweismaßstabes ist hier zu beachten, dass grundsätzlich alle anspruchsbegründenden Tatsachen zur Überzeugung des Gerichts im Sinne des sogenannten Vollbeweises nachgewiesen werden müssen. Für die Kausalzusammenhänge wird die sogenannte hinreichende Wahrscheinlichkeit als ausreichend erachtet. Vollbeweis bedeutet, dass die Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen ist. Er ist dann erbracht, wenn kein vernünftiger Mensch noch Zweifel am Vorliegen der zu beweisenden Tatsache hat (BSG vom 17.4.2013, Die Sozialgerichtsbarkeit 2013, 345; Ziegler in Becker, Franke, Molketin, a.a.O., § 8, Rn. 17 f. m.w.N.). Ein Vollbeweis kann auch auf Grund von Indizien bzw. einer Indizienreihe bestehen.

Im Rahmen der Beweiswürdigung können auch bei einem Vollbeweis ausnahmsweise die Beweisanforderungen im Einzelfall herabgesetzt werden. Eine solche Herabsetzung der Beweisanforderungen ist dann zulässig, wenn besondere Umstände der versicherten Tätigkeit sonst mögliche Beweismittel ausschließen (z.B. bei dem Betriebsbann, LSG Schleswig-Holstein vom 23.10.2003, Die Sozialgerichtsbarkeit 2004, 422).

Im vorliegenden Fall ist von einer Beweiserleichterung zu Gunsten der Klägerin auszugehen, weil zur Zeit der Infektion (Juli bis August 1982) nach den Feststellungen des Sachverständigengutachtens eine geeignete Untersuchungsmethode zum Nachweis einer HIV-Infektion in Deutschland sowie Verhaltensregeln von Klinikpersonal gegenüber an HIV-erkrankten Patienten und Dokumentationspflichten bei hier auftretenden Spritzenunfällen noch nicht vorhanden gewesen sind. Zum anderen ist auch zu berücksichtigen, dass die Einschränkung der Ermittlungen durch Prof. Dr. G. in der S.-Klinik im Jahr 1987 auf Patienten mit einer Sternal-Punktion nicht die denkbaren Infektionsrisiken durch eine Stichverletzung mit einer infizierten Spritze völlig erfasst hat. Insofern waren die damaligen Ermittlungen bei der Klinik nicht ausreichend und sie können auch nicht mehr nachgeholt werden (Ziegler, a.a.O., Rn. 22). Für den Kausalzusammenhang - hier der erhöhten Infektionsgefahr bei der Tätigkeit in der S.-Klinik - genügt als Beweismaßstab die hinreichende Wahrscheinlichkeit. Sie ist gegeben, wenn die für das Vorliegen des ursächlichen Zusammenhangs sprechenden Gründe deutlich überwiegen (Ziegler, a.a.O., § 8 Rn. 21; Brandenburg in Becker, Franke, Molkentin, SGB VII, 3. Aufl., § 9, Rn. 52 ff. m.w.N.).

Der Senat ist aufgrund des ärztlichen Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. C. und dessen ergänzender Stellungnahme vom 1.7.2013 der Überzeugung, dass die Klägerin während der Praktikantentätigkeit in der S.-Klinik im Juli und August 1982 einer besonderen Gefahr ausgesetzt gewesen ist, an einer HIV-Infektion zu erkranken. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass in Deutschland in den Großraumregionen wie Berlin, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Frankfurt und B-Stadt ein erhöhtes Infektionsrisiko für Aids bestand und dass durch den Flugverkehr internationale Gäste mit unbekanntem Infektionsstatus nach B-Stadt kommen. Vor allem ist, wie schon ausgeführt wurde, zu beachten, dass die Klägerin bei der Mithilfe bei Blutentnahmen in der Klinik einem besonderen Infektionsrisiko ausgesetzt war. Es gab zum damaligen Zeitpunkt noch keine Hygiene-Verhaltensregeln für den Umgang mit beruflich bedingten Nadelstichverletzungen. Bei dieser Praktikantentätigkeit ist es nach den glaubwürdigen Angaben der Klägerin zu einer tiefen(!) Nadelstichverletzung mit der Übertragung von Patientenblut gekommen. Die von ihr beschriebene Symtomatik im Anschluss an die Praktikantentätigkeit ist ein Indiz für einen in mehr als 50 % der Fälle beschriebenen Krankheitsverlauf. Nach der Primärinfektion kommt es nach dem Sachverständigen zum akuten retroviralen Syndrom mit einer der Grippe ähnlichen Symtomatik (fieberhafte Erkrankungen mit Mund- und Rachenschleimhautentzündung, Herpes labialis, Durchfälle, Hautausschlag). Darauf folgt eine Phase, die unbehandelt nach mehreren Jahren (5 bis 10 Jahre) zum Vollbild Aids führt. Während dieser Phase ist ein Patient häufig nicht als mit HIV-infiziert auszumachen, weil klinisch keine bis wenige Symptome bestehen. Der Sachverständige hat auch betont, dass der Inhalt einer mit infiziertem Blut gefüllten Spritze bei der Blutabnahme für die Infektion mit HIV ausreicht.

Der Senat ist ferner im Anschluss an das Sachverständigengutachten der Überzeugung, dass die Klägerin nicht zur typischen Risikogruppe für HIV-Infektion zählt. Das allgemeine Risiko, sich mit HIV zu infizieren (z.B. durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr) kann für Frauen aus der Allgemeinbevölkerung, wenn sie nicht bestimmten Risikogruppen angehören, als gering und damit nicht messbar bezeichnet werden. Risikogruppen sind in erster Linie Drogenabhängige, Partnerinnen bisexueller Männer, Menschen mit Hämophilie oder Multitransfusions-Empfänger. Nach dem Sachverständigen muss aufgrund der schlüssigen Angaben der Klägerin zur Nadelstichverletzung von 1982 und dem nachfolgenden akuten retroviralen Syndrom zugrundegelegt werden, dass der zeitliche Ablauf einer HIV-Infektion mit dem Infektionszeitpunkt im Sommer 1982 und der Entwicklung erster Symptome im Frühjahr 1987 eher nachgewiesen ist als eine spätere Infektion mit deutlich schnellerem Verlauf.

Schließlich geht der Senat im Hinblick auf die glaubwürdigen Angaben der Klägerin auch davon aus, dass vor oder während der Praktikantentätigkeit eine Gefahr der Ansteckung mit dem HIV-Virus nicht bestanden hat, da sie vor 1984 keinen Geschlechtsverkehr hatte.

Gemäß § 551 Abs. 3 RVO gilt als Zeitpunkt des Versicherungsfalles der Beginn der Krankheit, oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Der Sachverständige legt hier den Zeitpunkt der ersten Diagnose der HIV-Infektion zu Grunde, nämlich den März 1987. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin die Infektion bereits im Juli bzw. August 1982 erlitten hat. Denn es ist zwischen der Infektion als Entstehungsquelle der Krankheit und der Krankheit selbst, die nachgewiesen sein muss, zu unterscheiden.

Der Sachverständige hat im Gutachten festgestellt, dass die MdE im Hinblick auf die HIV-Enzephalopathie, Lipodystrophie und Zerstörung des Immunsystems 70 v.H. beträgt. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin 1994 ihren Beruf als Kinderkrankenschwester aufgegeben hat und in diesen Beruf wegen HIV-Infektion auch nicht mehr zurückkehren konnte bzw. kann.

Die Kostentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG).