Hessisches Landessozialgericht - L 4 B 103/05 SB - Beschluss vom 18.11.2005
Wenn die Verwaltung nur über einen Teil der belastenden Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsaktes und damit nur unvollständig über einen Widerspruch entschieden hat, ist der anschließende Rechtsstreit nicht auszusetzen, um der Verwaltung Gelegenheit zur Nachholung des fehlenden Entscheidungsteils (hier Nachteilsausgleiche) zu geben. Es reicht schon aus, dass mit Abschluss des Vorverfahrens eine für den Kläger zumindest teilweise erfolglose Verwaltungsentscheidung ergangen ist; es ist kein weiteres Vorverfahren erforderlich, wenn die Verwaltung das ihr eingeräumte Prüfungsrecht im Vorverfahren teilweise ungenutzt gelassen hat. Anmerkung: Offen bleibt nach dem Entscheidungstext, ob nach Beschränkung des Klagebegehrens - hier ausdrücklich auf Feststellung eines höheren GdB - die spätere "Klageerweiterung" auf Nachteilsausgleiche zulässig ist; denn wenn im Widerspruchsbescheid auch eine Ablehnung der Feststellung von Nachteilsausgleichen enthalten ist, spricht einiges dafür, dass diese dann auch - mangels rechtzeitiger Klage - bindend geworden ist.
Gründe
I.
Mit Bescheid vom 13. Oktober 1986 hatte der Beklagte die Behinderungen des Klägers mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt. Am 10. Juli 2003 stellte der Kläger einen Änderungsantrag wegen Verschlimmerung der bisher festgestellten Behinderungen und begehrte die Feststellung eines höheren GdB sowie weiterer Merkzeichen, ohne jedoch näher zu spezifizieren, welche Merkzeichen er meinte. Der Beklagte zog Befunde der behandelnden Ärzte bei und erteilte nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme seines beratungsärztlichen Dienstes am 4. November 2003 einen Änderungsbescheid, worin der Bescheid vom 13. Oktober 1986 abgeändert und der GdB auf 60 erhöht sowie die Feststellung von Merkzeichen abgelehnt wurden. Dagegen legte der Kläger am 11. November 2003 Widerspruch ein. Er wies darauf hin, dass es seit Mitte des Jahres 2003 zu einer Zunahme der Beschwerden gekommen sei. Insbesondere beim längeren Stehen oder Gehen, beim Ankleiden oder beim Waschen verspüre er starke Schmerzen an der Wirbelsäule, am rechten Bein und am rechten Hoden. Seine Gesamtkörpergröße habe sich seit dem Jahre 1982 um sechs Zentimeter verringert. Eine Wiederherstellung der deformierten Gelenke sei nicht möglich. Infolge der bekannten Beschwerden sei bei ihm am 3. September 1985 Erwerbsunfähigkeit anerkannt worden. Da er in einem Vorort von A-Stadt wohne und die nächsten Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte, Apotheken etc. ca. zwei Kilometer entfernt seien, sei er auf sein Kraftfahrzeug angewiesen.
Nach Auswertung weiterer medizinischer Befunde wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2004 den Widerspruch zurück. In der Begründung wies der Beklagte u.a. darauf hin, dass Umstände, die ausschließlich auf örtlichen Gegebenheiten im Umfeld des Einzelnen beruhen würden, bei der Entscheidung nicht berücksichtigt werden könnten.
Dagegen hat der Kläger am 4. März 2004 bei dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts Darmstadt (SG) Klage erhoben und - zunächst - beantragt, "über die Höhe meines Grades der Behinderung neu zu entscheiden".
Das SG hat Sachermittlungen bei den vom Kläger benannten Ärzten eingeleitet, die aber ergebnislos verlaufen sind. Im Erörterungstermin vom 6. Juli 2005, der von dem Beklagten nicht wahrgenommen worden ist, hat der Kläger auf rechtlichen Hinweis durch den Vorsitzenden den Klageantrag dahin gefasst, dass die Merkzeichen "G" und "aG" von dem Beklagten festzustellen seien. Der Vorsitzende hat weiter Hinweis erteilt, dass bei wohlwollender Auslegung des Widerspruchs des Klägers auch ein Widerspruch gegen die Versagung von Merkzeichen entnommen werden könne. Insoweit habe der Beklagte aber nicht über den Widerspruch entschieden.
Mit Beschluss vom 7. Juli 2005 hat das SG den Rechtsstreit ausgesetzt, um dem Beklagten Gelegenheit zu geben, hinsichtlich der Merkzeichen "G" und "aG" das Widerspruchsverfahren nachzuholen.
Dagegen hat der Beklagte am 19. Juli 2005 Beschwerde bei dem Hessischen Landessozialgericht eingelegt. Er vertritt die Auffassung, mit dem Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2005 sei auch die Feststellung der Merkzeichen "G" und "aG" abgelehnt worden. Die Nachbesserung einer vermeintlich lückenhaften Widerspruchsbegründung sei gesetzlich nicht vorgesehen und wenig sinnvoll. Es bestünden keinerlei Hindernisse, z.B. durch Urteil über den Klageantrag zu entscheiden, wenn die Bescheide als rechtswidrig angesehen würden.
Im Nichtabhilfebeschluss vom 4. August 2005 hat das SG die Auffassung vertreten, das Widerspruchsverfahren sei vorliegend nachzuholen, weil einerseits der Kläger bei einer wohlwollenden Auslegung seinen Widerspruch auch auf die Zuerkennung von Merkzeichen erstreckt habe und andererseits der Beklagte weder mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2004 noch anderweitig hierüber entschieden habe. Aus den Gründen des Widerspruchsbescheides sei nicht ersichtlich, dass der Beklagte die Zuerkennung von Merkzeichen im Widerspruchsverfahren geprüft habe, weil sie sich allein auf die Höhe des GdB bezögen. Auch die Anmerkung in der Begründung, die örtlichen Gegebenheiten könnten bei dem Kläger keine Berücksichtigung finden, sei nicht erkennbar auf eine Entscheidung über Merkzeichen bezogen. Damit bleibe offen, ob der Beklagte im Gegensatz zur Auffassung der Kammer den Widerspruch des Klägers allein als auf die Höhe des GdB gerichtet angesehen habe.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen sowie wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Beschwerdeakte, die Gerichtsakte des SG (Az.: S 5 SB 84/04) sowie die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist auch begründet. Der Aussetzungsbeschluss des SG vom 7. Juli 2005 war aufzuheben.
Sofern die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist, so kann das Gericht gem. § 114 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsstelle auszusetzen ist. Diese Regelung ist nach herrschender Meinung entsprechend anzuwenden, wenn Klage vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhoben wird. In diesem Fall weist das Gericht die Klage nicht als unzulässig ab, sondern setzt den Rechtsstreit bis zur Widerspruchsentscheidung aus (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig, SGG, § 78 Rdnr. 3a).
Vorliegend steht indes fest, dass der Kläger gegen den Bescheid vom 4. November 2003 Widerspruch eingelegt hat und dass der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2004 den Widerspruch zurückgewiesen hat. Zunächst ist der Ausgangspunkt des SG zutreffend. Der Kläger hatte sowohl die Feststellung eines höheren GdB als auch die Zuerkennung von Merkzeichen beantragt. Über beide Komplexe hat der Beklagte im Bescheid vom 4. November 2003 eine Entscheidung getroffen. So wurde der GdB von 50 auf 60 erhöht und die Feststellung von Merkzeichen abgelehnt. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Widerspruch eingelegt. Es bedarf keiner "wohlwollenden" Auslegung des Widerspruchsschreibens vom 10. November 2003, dass Gegenstand des Widerspruchsverfahrens auch die Ablehnung der Merkzeichen geworden ist. Die Mindesterfordernisse zur Einlegung eines Widerspruchs sind in § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG geregelt. Danach ist der Widerspruch binnen eines Monats nach Bekanntgabe schriftlich oder zur Niederschrift bei der Stelle einzureichen, die den Verwaltungsakt erlassen hat. Insbesondere muss der Widerspruch weder einen Antrag enthalten noch ist grundsätzlich eine Begründung erforderlich. So ergreift der Widerspruch im Zweifel alle Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsaktes (BSG, Urteil vom 28. Oktober 1965, Az.: 8 RV 721/62; Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O., § 84 Rdnr. 2 m.w.N.). Selbst die Beschränkung in der Widerspruchsbegründung auf einzelne Gesichtspunkte bietet noch keinen hinreichenden Anhalt für die Beschränkung des Widerspruchs (BSG, Urteil vom 28. Oktober 1965, a.a.O.; Leitherer in Meyer-Ladewig, a.a.O.). Zutreffend geht das SG weiter davon aus, dass nicht mit der notwendigen Sicherheit angenommen werden kann, der Beklagte habe im Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 2004 über die Versagung der Merkzeichen "G" und "aG" entschieden. Zwar findet sich in der Begründung ein Hinweis, dass die örtlichen Gegebenheiten nicht berücksichtigt werden könnten. In diesem Zusammenhang wäre daran zu denken, dass diese Wendung sich auf das Merkzeichen "G" beziehen könnte, denn die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - SGB IX - , 2004) beinhalten die Aussage (Ziffer 30 Abs. 2), dass es bei Prüfung dieser Frage nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalls ankommt. Letztlich braucht dies aber nicht entschieden zu werden, denn eine Aussetzung des Rechtsstreits ist damit nicht zu rechtfertigen. Denn mit der herrschenden Meinung ist der Senat der Auffassung, dass dem Prozesserfordernis des Vorverfahrens auch dann genügt ist, wenn die Verwaltung nur über einen Teil der belastenden Verfügungssätze des angefochtenen Verwaltungsaktes und damit nur unvollständig über den Widerspruch entschieden hat (so grundlegend: BSG, Urteil vom 28. Oktober 1965, a.a.O.; vgl. auch BSG, Urteil vom 15. November 1979, Az.: 7 RAr 75/78; Urteil vom 28. Juni 1990, Az.: 7 RAr 114/89; Blei in Gesamtkommentar, SGG, § 78 Anm. 2c; Kummer, Das sozialgerichtliche Verfahren, Rdnr. 116; Rohwer-Kahlmann, SGG, § 78 Rdnr. 9; Binder in Hk-SGG, § 78 Rdnr. 6). Denn § 78 SGG verlangt als Zulässigkeitsvoraussetzung ausschließlich, dass zur Erhebung der Anfechtungs- bzw. Verpflichtungsklage ein Vorverfahren durchzuführen ist. Mit dem Abschluss dieses Verfahrens muss eine für den Kläger zumindest teilweise erfolglose Verwaltungsentscheidung ergangen sein, wobei Erfolglosigkeit dann gegeben ist, wenn die im Verwaltungsakt liegende Beschwer nicht restlos beseitigt ist (Rohwer-Kahlmann, a.a.O.). Es genügt vielmehr das Vorliegen eines sich äußerlich als Widerspruchsbescheid darstellenden Bescheides (Blei, a.a.O.; Rohwer-Kahlmann, a.a.O.). Es ist insbesondere kein weiteres Vorverfahren erforderlich, wenn die Verwaltung das ihr eingeräumte Prüfungsrecht im Vorverfahren teilweise ungenutzt gelassen hat (BSG, Urteil vom 28. Oktober 1965, a.a.O.). Damit unterscheidet sich diese Fallkonstellation erheblich von der, die der o.g. entsprechenden Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG üblicherweise zugrunde liegt. Denn dort hat regelmäßig der Kläger, ohne den Abschluss des Widerspruchsverfahrens abzuwarten, Klage erhoben, während hier der Kläger das Widerspruchsverfahren ordnungsgemäß eingeleitet und lediglich der Beklagte dieses möglicherweise fehlerhaft durchgeführt hat. Will man im ersten Fall mit der Aussetzung die Abweisung der Klage als unzulässig vermeiden, sprechen hier gewichtige - auch prozessökonomische - Gründe dafür, das Klageverfahren fortzusetzen. Denn die notwendigen Sachermittlungen kann das SG im Einzelfall ohne weiteres selbst durchführen. So bleiben Zeitverzögerungen auf jeden Fall aus.
Diese Entscheidung kann mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht nicht angefochten werden (§ 177 SGG).