Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der Beklagten nach Schwerbehindertenrecht.

Der im Jahre 1961 in der Türkei geborene, mit Aufenthaltsberechtigung in Hamburg lebende Kläger stellte im Februar 2004 bei der Beklagten einen Erstantrag nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen -. Mit Bescheid vom 28. Juli 2004 stellte die Beklagte für den Kläger einen Grad der Behinderung von 30 fest. Der mit Rechtsbehelfsbelehrung versehene Bescheid wurde am 29. Juli 2004 mit einfacher Post an den Kläger abgesandt. Vom 30. Juli 2004 bis 27. August 2004 (Freitag) befand sich der Kläger auf einer Urlaubsreise; er fand den Bescheid der Beklagten nach Urlaubsrückkehr zu Hause vor. Mit Faxschreiben seiner Bevollmächtigten vom 10. September 2004 legte der Kläger Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2004 ein und bat um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Widerspruchsfrist.

Die Beklagte wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 27. September 2004 als unzulässig zurück. In der Begründung heißt es, der Bescheid gelte gemäß § 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) mit dem dritten Tag nach Aufgabe zur Post, also mit dem 1. August 2004, als bekanntgegeben. Die einmonatige Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) habe gemäß § 64 SGG am 1. September 2004 geendet. Sie sei daher mit Einlegung des Widerspruchs am 10. September 2004 nicht gewahrt. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG sei nicht zu gewähren, da der Kläger nicht ohne Verschulden gehindert gewesen sei, die Frist einzuhalten. Es sei ihm zuzumuten gewesen, der Behörde unmittelbar nach Rückkehr aus dem Urlaub eine kurze schriftliche Mitteilung über die Erhebung des Widerspruchs zuzusenden.

Der Widerspruchsbescheid ist am 27. September 2004 zur Post gegeben worden. Am 27. Oktober 2004 hat der Kläger vor dem Sozialgericht Hamburg Klage erhoben mit dem Begehren, die Beklagte zu verurteilen, einen höheren Grad der Behinderung festzustellen.

Das Sozialgericht hat dem Kläger mit Beschluss vom 3. Februar 2005 hinsichtlich der Versäumnis der Frist zur Einlegung des Widerspruchs Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 67 SGG gewährt und zur Begründung ausgeführt, der Kläger habe das Recht, sich Rechtsrat einzuholen und dann zu entscheiden, ob er Widerspruch einlegen wolle. Eine Frist von drei Tagen sei hierfür zu kurz gewesen; er habe sich frühestens am 30. August 2004 (Montag) um einen Termin beim Anwalt bemühen können.

Das Sozialgericht hat sodann Ermittlungen in der Sache angestellt, anschließend die Klage mit Gerichtsbescheid vom 9. Mai 2006 abgewiesen und dabei der Beklagten einen Teil der Verfahrenskosten auferlegt. In den Entscheidungsgründen heißt es, die Beklagte hätte dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stattgeben müssen. Er habe das Recht, sich vor Erhebung des Widerspruchs innerhalb einer Frist von 14 Tagen nach Rückkehr aus dem Urlaub anwaltlich beraten zu lassen. Um einen Besprechungstermin bei seiner Bevollmächtigten habe er sich unverzüglich bemüht und am 10. September 2004 einen solchen erhalten. Soweit die Klage darauf gerichtet sei, einen höheren Grad der Behinderung zugesprochen zu erhalten, sei sie nicht begründet.

Der Gerichtsbescheid ist dem Kläger am 23. Mai 2006 zugestellt worden. Am 20. Juni 2006 hat er Berufung eingelegt und sein Begehren in der Sache weiter verfolgt.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass die Zulässigkeit der Klage wegen verspäteter Einlegung des Widerspruchs zweifelhaft erscheine. Der Kläger hat daraufhin vorgetragen, die Entscheidung des Sozialgerichts, ihm wegen der Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung zu gewähren, es sei für die zweite Instanz bindend.

Der Kläger beantragt,

unter Abänderung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Hamburg vom 9. Mai 2006, die Beklagte zu verurteilen, den Bescheid vom 28. Juli 2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, bei dem Kläger einen Grad der Behinderung von mindestens 50 anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt die Sachentscheidung des Sozialgerichts.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter im schriftlichen Verfahren einverstanden erklärt.

Die den Kläger betreffenden Schwerbebehindertennakten der Beklagten haben vorgelegen. Auf ihren sowie den Inhalt der Prozessakten wird wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts ergänzend Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet durch den Berichterstatter als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung (§ 155 Abs. 3 und 4, § 124 Abs. 2 SGG). Die Beteiligten haben zugestimmt.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und daher zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Die Klage ist nämlich nicht zulässig.

An der Zulässigkeit der Klage fehlt es, weil ein ordnungsgemäßes Vorverfahren als Klagevoraussetzung gemäß § 78 SGG nicht durchgeführt worden ist; der Kläger hat nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat (§ 84 Abs. 1 SGG) Widerspruch gegen den angefochtenen Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2004 eingereicht. Zutreffend führt die Beklagte im Widerspruchsbescheid aus, dass der am 29. Juli 2004 zur Post gegebene Bescheid gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, also am 1. August 2004, als bekannt gegeben galt. Dass der Bescheid möglicherweise bereits früher in der Wohnung des Klägers angekommen ist, wäre unerheblich (von Wulffen, SGB X, Kommentar, 5. Auflage, § 37 Rdnr. 12). Die einmonatige Widerspruchsfrist des § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG endete daher gemäß § 64 SGG am 1. September 2004 (Mittwoch). Der am 10. September 2004 eingegangene Widerspruch konnte infolgedessen die Frist nicht wahren.

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts war dem Kläger nicht gemäß § 67 SGG wegen Versäumung der Widerspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Bestimmung setzt voraus, dass jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Im Falle des Klägers ist jedoch nicht ersichtlich, was ihn gehindert haben sollte, in der Zeit vom 27. August 2004 (Urlaubsrückkehr) bis zum 1. September 2004 bei der Beklagten oder einer anderen Behörde (vgl. § 84 Abs. 2 SGG) ein Widerspruchsschreiben einzureichen. Selbst wenn er dazu ohne anwaltliche Hilfe nicht in der Lage gewesen sein sollte, wäre die Einschaltung eines Anwalts bis zum 1. September 2004 ohne Weiteres möglich gewesen, auch wenn der Kläger, wie das Sozialgericht annimmt, sich erst am 30. August 2004 (Montag) um einen Termin bei seiner Rechtsanwältin hätte kümmern können. Im Übrigen gibt es die vom Sozialgericht angenommene Frist von 14 Tagen nach Urlaubsrückkehr zur Inanspruchnahme anwaltlicher Beratung nicht.

Die Klage ist nicht deswegen zulässig, weil das Sozialgericht dem Kläger Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Widerspruchsfrist gewährt hat und diese Entscheidung für das Berufungsgericht bindend wäre. Zwar wird die Auffassung vertreten, dass eine Wiedereinsetzungsentscheidung des Sozialgerichts gemäß § 67 SGG für die übergeordnete Instanz nicht nachprüfbar sei. Das kann jedoch allenfalls für eine Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Klagefrist gelten. Eine Bindung für das Rechtsmittelgericht tritt im Falle einer positiven Entscheidung über Wiedereinsetzung im Widerspruchsverfahren demgegenüber nicht ein, da § 67 Abs. 4 Satz 2 SGG nicht eingreift (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, Kommentar, 8. Auflage, § 67 Rdnr. 19). Eine andere Auffassung ließe im Übrigen außer acht, dass angesichts der von der Behörde im Widerspruchsverfahren getroffenen Entscheidung Streitgegenstand des Verfahrens gerade auch die Frage ist, ob der Widerspruch des Klägers zu Recht als unzulässig zurückgewiesen werden durfte. Ließe man darüber eine für alle Instanzen verbindliche Entscheidung des Sozialgerichts zu, wäre der Streitgegenstand zum Teil unzulässigerweise einer Überprüfung im Berufungsverfahren entzogen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein Grund, gem. § 160 Abs. 2 SGG die Revision zuzulassen, ist nicht gegeben.