Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 03.11.2005 - Az.: L 5 KR 173/04 -
1. Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für ein sog. Magenband kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten der Patientin und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist.
2. Der Klägerin kann auch nicht entgegengehalten werden, die chirurgische Therapie der Adipositas sei generell keine Leistung der Krankenversicherung, weil sie (noch) nicht ausreichend erprobt sei und es weder definierte Behandlungsstandards noch ausreichende Erkenntnisse über den langfristigen Erfolg einer derartigen Behandlung gebe.
3. Die chirurgische Behandlung der extremen Adipositas setzt jedoch voraus, dass bei dem jeweiligen Versicherten die Indikation für eine solche Therapie gegeben ist. Nach den Leitlinien der Fachgesellschaften (z.B. Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft) wird die Implantation eines Magenbandes nur als ultima ratio gewährt (BSG a.a.O.).
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte die Implantation eines sog. Magenbandes zu erbringen hat.
Die im Jahr 1964 geborene Klägerin, die bei der Beklagten krankenversichert ist, beantragte im November 2001 unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung von Dr. S, Chefarzt der Abteilung für Plastische Chirurgie im E-krankenhaus X, die Implantation eines Magenballons. Bei der Untersuchung durch Dr. S im Oktober 2001 hatte die Klägerin bei einer Größe von 169 cm ein Körpergewicht von 160 kg (BMI = 56,02). Sie gab an, wegen des Übergewichtes erhebliche psychische Probleme zu haben.
Nach Einholung eines Gutachtens vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) Nordrhein lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 02.01.2002 die beantragte Leistung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass aus der vorgelegten Bescheinigung nicht hervorgehe, wie lange und welche Methoden der Gewichtsabnahme bisher versucht worden seien; notwendig seien zu allererst eine diätische Behandlung unter ärztlicher Leitung und ausreichende körperliche Bewegung. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben.
Mit ihrem Widerspruch legte die Klägerin eine Bescheinigung der hausärztlichen Gemeinschaftspraxis Dres. C und G in U vor. Darin wird ausgeführt, bisherige diätische Maßnahmen auch unter ärztlicher Leitung seien erfolglos gewesen bzw. ein Diäterfolg habe nicht lange gehalten werden können; aus hausärztlicher Sicht werde die erneute Prüfung des Antrages mit persönlicher Vorstellung der Klägerin beim MDK empfohlen.
Die Klägerin gab an, bisher folgende Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung durchgeführt zu haben: "Sechs Wochen Kur in Bad P im Alter von 12 Jahren, immer wieder Diäten gemacht (Mutter hat gekocht nach Brigitte- oder Freundin-Diäten), bei Weight-Watchers im Alter von 16 Jahren, ab dem 20. Lebensjahr Appetitzügler, zweimal bei verschiedenen Ärzten gewesen, um mittels Akupunktur abzunehmen, diätische Mittel wie Multaben, Slim Fast, Xenical, BMI 23, Antiadipositum X-1125 genommen, in einem Fitness-Studio angemeldet."
Nach nochmaliger Anhörung des MDK wies die Beklagte den Widerspruch mit Bescheid vom 24.05.2002 mit im Wesentlichen gleicher Begründung wie im Ausgangsbescheid zurück.
Mit ihrer Klage hat die Klägerin ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und die auch schon im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen überreicht.
Die Klägerin hat beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 02.01.2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2002 zu verurteilen, ihr ein Magen-Banding zu leisten.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat auf die Ausführungen in ihren Bescheiden Bezug genommen und ergänzend dargelegt, dass eine Gewichtsreduktion unter ärztlicher Aufsicht und/oder eine Einbeziehung der vorhandenen vielschichtigen Möglichkeiten (diätische Therapie, Bewegungstherapie, Verhaltens- bzw. Psychotherapie etc.) nicht im erforderlichen Maße stattgefunden hätten; derartige Konzepte seien auf einen langfristigen Zeitraum ausgelegt. Bevor der beantragte chirurgische Eingriff vorgenommen werden könne, seien die konservativen Behandlungsmöglichkeiten zunächst auszuschöpfen.
Die Beklagte hat ein Gutachten des MDK von Dr. L vorgelegt. Darin ist der Gutachter zu dem Ergebnis gelangt, dass die bei der Klägerin bestehende Essstörung für das Anlegen eines Magenbandes nicht geeignet sei; insbesondere fehle es an der notwendigen Disziplin der Klägerin für die Zeit nach dem operativen Eingriff; es seien vorrangig konservative Maßnahmen geboten.
Das Sozialgericht (SG) hat Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Prof. Dr. M, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universität C. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass sowohl die Implantation eines Magenbandes als auch ein Gastric-Banding wissenschaftlich anerkannte Methoden seien, wobei das Magenband als komplikationsärmere und effektivere Methode mit einer Gewichtsabnahme von ca. 50 % des Ausgangsgewichts anzusehen sei; das Magenband könne auch mehr als eine psychotherapeutische Intervention bei Übergewicht leisten.
Mit Urteil vom 06.07.2004 hat das SG Köln die Beklagte verurteilt, der Klägerin ein Magen-Banding zu leisten. Zur Begründung hat es ausgeführt, Abnahmeversuche durch Kalorienreduktion seien seit der Kindheit der Klägerin immer wieder in Angriff genommen worden, aber erfolglos geblieben; es sei auch eine Reduktion unter ärztlicher Betreuung durchgeführt worden, ohne dass ein langfristiger Gewichtserfolg eingetreten sei; ein kontinuierliches Bewegungsprogramm sei zwar grundsätzlich geeignet, jedoch aufgrund der festgestellten Bewegungseinschränkung nicht möglich; medikamentöse Behandlung habe nicht den nötigen Erfolg gebracht, insgesamt sei die Kammer überzeugt, dass der Klägerin jetzt nur noch mit einem Magen-Banding geholfen werden könne.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit ihrer Berufung. Sie trägt unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 19.02.2003 (B 1 KR 1/02 R - BSGE 90, 289 ff.) vor, dass die Implantation eines Magenbandes nur als ultima ratio in Betracht komme; bei der Klägerin kämen als konservative Behandlungsmöglichkeiten insbesondere Therapieprogramme unter stationären Bedingungen, Rehabilitationsmaßnahmen (ambulant und/oder stationär), Selbsthilfegruppen oder eigenverantwortliche Diätmaßnahmen unter ärztlicher Kontrolle in Betracht; daneben sollten auch Bewegungstherapien nachgewiesen werden. Die von der Versicherten bisher vorgenommenen Maßnahmen zur Gewichtsreduzierung seien nicht ausreichend; wie die Klägerin gegenüber Dr. L geschildert habe, habe sie in der Vergangenheit lediglich in Eigenregie und ohne ärztliche Begleitung Diätmaßnahmen durchgeführt; diese seien jedoch an dem Willen der Klägerin gescheitert. Im Ergebnis sei festzustellen, dass die konservativen Maßnahmen im Hinblick auf die Leitlinie der Deutschen Adipositas-Gesellschaft bisher nicht erfolglos ausgeschöpft worden seien; das vom SG eingeholte Sachverständigengutachten sei insgesamt nicht überzeugend. Unter Berücksichtigung der Grundsätze in der Entscheidung des BSG könne eine Leistungspflicht der Beklagten nicht begründet werden.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 07.06.2004 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Der Senat hat Behandlungsberichte der Dres. W, Ärzte für Allgemeinmedizin in U, sowie der Dres. C und B eingeholt. Dres. W haben mitgeteilt, dass sie die Klägerin einmal wegen Diabetes mellitus und Adipositas beraten haben; Dr. C hat angegeben, mit der Klägerin am 15.01.2000 ein Erstgespräch über die Möglichkeiten einer Gewichtsreduktion geführt zu haben; im November 2001 hätten ein Gespräch über operative Möglichkeiten der Magenverkleinerung und am 29.05.2002 nochmals ein ausführliches Gespräch über die dringende Notwendigkeit der Gewichtsreduktion und "Abnehmstrategien" bei neu diagnostiziertem Diabetes mellitus stattgefunden. Er habe die Klägerin dringend gebeten, eine "Schwerpunktpraxis" aufzusuchen.
Der Senat hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass das erstinstanzliche Urteil keinen Bestand haben könne, da die Voraussetzungen für die begehrte Leistung nicht vorlägen; die Operation komme als ultima ratio nur in Betracht, wenn zunächst ernsthafte Versuche zur Gewichtsabnahme unter ärztlicher Anleitung erfolglos geblieben seien; das lasse sich nicht feststellen. Die Klägerin hat sich dazu nicht geäußert.
Die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf den Inhalt dieser Akten und der Streitakten wird - insbesondere hinsichtlich des Vorbringens der Beteiligten - ergänzend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Implantation eines Magenbandes. Der Bescheid der Beklagten vom 02.01.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.05.2002 ist rechtmäßig und beschwert die Klägerin nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Das Begehren der Klägerin scheitert nicht daran, dass die Beklagte im Verwaltungsverfahren keine Entscheidung über die Implantation eines Magenbandes, sondern allein über die Implantation eines Magenballons getroffen hat. Denn die Umstellung des Klagebegehrens im erstinstanzlichen Verfahren stellt eine zulässige Klageänderung i.S.v. § 99 SGG dar, da die Beklagte in diese Klageänderung gemäß § 99 Abs. 2 SGG dadurch eingewilligt hat, dass sie sich, ohne der Änderung zu widersprechen, in der mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen hat.
Rechtsgrundlage für die mit der Klage beanspruchte Sachleistung ist § 27 Abs. 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die bei der Klägerin bestehende Adipositas hat Krankheitswert. In der Medizin besteht Einigkeit darüber, dass bei starkem Übergewicht (im allgemeinen ab einem BMI )/= 30) eine Behandlung mit dem Ziel der Gewichtsreduktion erforderlich ist, weil andernfalls ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von Begleit- und Folgeerkrankungen besteht (BSGE 90, 289 ff.).
Die Leistungspflicht der Krankenversicherung für eine chirurgische Therapie dieser Krankheit kann nicht mit der Erwägung verneint werden, dass für das Übergewicht das krankhafte Essverhalten der Patientin und nicht eine Funktionsstörung des Magens verantwortlich ist. Es trifft zwar zu, dass die operative Verkleinerung des Magens keine kausale Behandlung darstellt, sondern die Verhaltensstörung der Klägerin durch eine zwangsweise Begrenzung der Nahrungsmenge lediglich indirekt beeinflussen soll. Eine solche mittelbare Therapie wird jedoch vom Leistungsanspruch grundsätzlich mit umfasst (BSG a.a.O.; BSGE 85, 56, 60).
Der Klägerin kann auch nicht entgegengehalten werden, die chirurgische Therapie der Adipositas sei generell keine Leistung der Krankenversicherung, weil sie (noch) nicht ausreichend erprobt sei und es weder definierte Behandlungsstandards noch ausreichende Erkenntnisse über den langfristigen Erfolg einer derartigen Behandlung gebe. Denn § 137c SGB V enthält - anders als § 135 SGB V für die (ambulante) vertragsärztliche Versorgung - keinen Erlaubnisvorbehalt. Das hat zur Folge, dass im Krankenhaus grundsätzlich auch neuartige Verfahren keiner vorherigen Zulassung bedürfen, sondern zu Lasten der Krankenversicherung angewendet werden können, solange der Ausschuss Krankenhaus sie nicht ausgeschlossen hat (BSG a.a.O.).
Die chirurgische Behandlung der extremen Adipositas setzt jedoch voraus, dass bei dem jeweiligen Versicherten die Indikation für eine solche Therapie gegeben ist. Da das Behandlungsziel einer Gewichtsreduktion auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, kommt eine vollstationäre chirurgische Behandlung nur dann in Betracht, wenn sie unter Berücksichtigung der Behandlungsalternativen (diätische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) notwendig und wirtschaftlich ist (§ 12 Abs. 1, § 39 Abs. 2 Satz 1 SGB V) und nach dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Diskussion aus medizinischer Sicht die Voraussetzungen für eine chirurgische Intervention gegeben sind. Nach den Leitlinien der Fachgesellschaften (z.B. Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft) wird die Implantation eines Magenbandes nur als ultima ratio gewährt (BSG a.a.O.).
Bei der Klägerin ist die Implantation eines Magenbandes nicht die ultima ratio i.S.d. oben genannten Rechtsprechung. Denn die Klägerin hat die anderen Behandlungsalternativen (diätische Therapie, Bewegungstherapie, medikamentöse Therapie, Psychotherapie) bisher überhaupt oder zumindest nicht in einem relevanten Maße versucht. Dabei kann dahinstehen, ob eine Bewegungstherapie - wie der erstinstanzlich gehörte Sachverständige ausgeführt hat - zur Zeit in Betracht kommt. Denn die Klägerin hat bisher keine diätische Therapie unter ärztlicher Aufsicht über einen längeren Zeitraum durchgeführt. Die von der Klägerin im Verwaltungsverfahren angeführten diätischen Maßnahmen erfolgten alle ohne Hinzuziehung eines Arztes. Dies ergibt sich aus den im Berufungsverfahren eingeholten Auskünften der behandelnden Ärzte. Die Klägerin kann dem auch nicht entgegenhalten, dass eine diätische Therapie zu keiner Gewichtsreduktion führt. Denn sie hat gegenüber Dr. L (MDK Nordrhein) angegeben, dass die von ihr in Eigenregie durchgeführten Diätmaßnahmen im Jahr 1999 dazu geführt hätten, dass sie 25 kg abgenommen habe; das Gewicht habe sie ca. ein halbes Jahr halten können.
Eine psychotherapeutische Behandlung ist bisher nicht durchgeführt worden, obwohl die Klägerin bei der Beantragung der streitigen Leistung angegeben hat, wegen des Übergewichtes erhebliche psychische Probleme zu haben. Die Klägerin hat lediglich im Sommer 2002 einmalig den Psychiater Dr. X aufgesucht. Letztlich ist auch eine medikamentöse Therapie (ambulant oder stationär) bisher nicht erfolgt.
Erst wenn die o.g. Behandlungsalternativen durchgeführt worden sind und erfolglos waren, besteht ein Anspruch der Klägerin auf Implantation eines Magenbandes.
Die Kostenentscheidung erfolgt gemäß §§ 183, 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen gemäß § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.