Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 AS 52/10 B - Beschluss vom 29.11.2010
Auf die im sozialgerichtlichen Verfahren anfallenden Gebühren ist die Beratungshilfegebühr, nicht nach Nr. 2503 Abs. 2 S. 1 VV RVG anzurechnen. Die Vorschrift der Nr. 2503 Abs. 2 S. 1 VV RVG ist nicht auf Verfahren anzuwenden, in denen sich an die Beratungshilfe ein gerichtskostenfreies sozialgerichtliches Verfahren anschließt. In diesen Fällen ist die Gebührenvorschrift der Nr. 3103 VV RVG als die Anrechnung einer Vorbefassung abschließend regelnde Sondervorschrift anzusehen.
Gründe:
I.
Streitig ist die Höhe der von der Staatskasse im Rahmen der Prozesskostenhilfe zu erstattenden Vergütung des beschwerdeführenden Rechtsanwalts, hier die Anrechnung der Geschäftsgebühr im Rahmen der Beratungshilfe auf die Gebühren für das gerichtliche Verfahren.
Am 02.05.2006 erhob die Klägerin beim SG Detmold zwei Klagen gegen verschiedene Bescheide der Beklagten wegen ihrer Auffassung nach fehlerhafter Berechnungen der Kosten der Unterkunft. Die Verfahren wurden unter den Aktenzeichen S 4 AS 62/06 und S 4 AS 63/06 geführt und dem Beschwerdeführer jeweilig Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Beschwerdeführers bewilligt. Mit Beschluss vom 04.10.2007 erfolgte eine Verbindung zum Aktenzeichen S 4 AS 62/06.
Nach Erledigung der Streitsache in einem Erörterungstermin im November 2008 hat der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 17.11.2008, geändert durch Schreiben vom 28.11.2008 beantragt, seine Vergütung aus der Staatskasse auf 753,27 Euro festzusetzen:
Verfahren S 4 AS 63/06
Verfahrensgebühr gem. Nr. 3102 VV RVG 170,00 Euro
Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV RVG 20,00 Euro
Verfahren S 4 AS 62/06
Verfahrensgebühr gem. Nr. 3102 VV RVG 170,00 Euro
Terminsgebühr gem. Nr. 3106
VV RVG 200,00 Euro
Auslagenpauschale gem. Nr. 7002 VV RVG 20,00 Euro
Fahrtkosten
gem. Nr. 7003 VV RVG 33,00 Euro
Tage- und Abwesenheitsgeld gem. Nr. 7005 VV RVG
20,00 Euro
19 % Mehrwertsteuer gem. Nr. 7008 VV RVG 120,27 Euro
= 753,27 Euro.
Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle hat die zu zahlende Vergütung am 04.12.2008 auf 711,62 Euro festgesetzt. Dabei hat sie die Gebühr für Beratungshilfe, die der Beschwerdeführer wegen voriger Beratung der Klägerin auf Anweisung des Amtsgerichts Paderborn erhalten hatte, gemäß Nr. 2503 Abs. 2 VV RVG zur Hälfte (35,00 Euro) auf die Verfahrensgebühr nach Nr. 3103 VV RVG angerechnet und die Mehrwertsteuer entsprechend reduziert. Die vom Beschwerdeführer gegen die Kürzung am 16.12.2008 eingelegte Erinnerung hat das SG Detmold mit Beschluss vom 09.12.2009 zurückgewiesen. Zur Begründung hat es auf einen Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 29.10.2009, L 1 B 6/09 AS verwiesen. Die Beschwerde an das Landessozialgericht hat das SG zugelassen.
Gegen den am 17.12.2009 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 31.12.2009 Beschwerde eingelegt. Grundsätzlich sei es nachvollziehbar, dass eine übermäßige Vergütung für das gerichtliche Verfahren bei vorangegangener Beratungshilfe vermieden werden solle. Allerdings reduziere sich bei einer vorangegangenen Tätigkeit im Verwaltungsverfahren der Betragsrahmen der Verfahrensgebühr für das gerichtliche Verfahren von 250,00 Euro netto auf 170,00 Euro netto. Eine Doppelanrechnung aber sei im Gesetz nicht vorgesehen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten verwiesen; dieser ist Gegenstand der Beratung und Entscheidung gewesen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Die aus der Staatskasse zu zahlende Vergütung des Bevollmächtigten der Klägerin beträgt insgesamt 753,27 Euro. Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere statthaft, §§ 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 2 des Gesetzes über die Vergütung der Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Rechtsanwaltsvergütungsgesetz - RVG, vgl. hierzu auch LSG NRW, Beschluss vom 25.01.2010, L 1 B 19/09 AS m.w.N. zum Vorrang dieser Spezialvorschriften gegenüber den Vorschriften des Sozialgerichtsgesetzes - SGG). Das Sozialgericht (SG) Detmold hat die Beschwerde wegen der grundsätzlichen Bedeutung der zur Entscheidung stehenden Frage zugelassen. Die Beschwerde ist fristgerecht innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Beschlusses des Sozialgerichts an den Beschwerdeführer erhoben worden (§§ 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 S. 3 RVG). Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Beschluss vom 04.01.2010, § 56 Abs. 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 4 S. 1 1. HS RVG). Beschwerdeführer ist nicht die Klägerin selbst, sondern deren Prozessbevollmächtigter (§ 56 Abs. 1 und 2 S. 1 i.V.m. § 33 Abs. 3 RVG i.V.m. § 55 Abs. 1 S. 1 RVG). Das Rubrum ist von Amts wegen entsprechend berichtigt worden.
Die Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom 04.12.2008 zurückgewiesen. Die Gebühren der Beratungshilfe sind nicht auf die gerichtlichen Verfahrenskosten anzurechnen.
Nach § 55 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 45 Abs. 1 RVG erhält der im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordnete Rechtsanwalt eines Klägers für anwaltliche Tätigkeiten die gesetzliche Vergütung. Dies sind sämtliche Gebühren und Auslagen, die sich aus seiner Tätigkeit ab Wirksamwerden seiner Beiordnung ergeben (§ 48 Abs. 1 S. 1 RVG). In Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz - wie hier (gemäß § 183 SGG) - nicht anzuwenden ist, entstehen nach § 3 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 2 Abs. 2 RVG i.V.m. Teil 3 Abschnitt 1 der Anlage 1 zum RVG (Vergütungsverzeichnis) Betragsrahmengebühren. Bei Rahmengebühren bestimmt gemäß § 14 Abs. 1 S. 1 RVG der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (§ 14 Abs. 1 S. 3 RVG).
Als Gebühren und Auslagen, die gesetzlich geltend gemacht werden können, sind hier - unstreitig - die Verfahrensgebühren, die Terminsgebühr, die Auslagenpauschalen und das Tage- und Abwesenheitsgeld angefallen und die vom Beschwerdeführer vorgenommene Bestimmung verbindlich.
Auf die angefallenen Gebühren ist die Beratungshilfegebühr, die der Beschwerdeführer auf Anweisung des Amtsgerichts Paderborn erhalten hat, nicht nach Nr. 2503 Abs. 2 S. 1 VV RVG anzurechnen.
Zur Überzeugung des Senats ist die Vorschrift der Nr. 2503 Abs. 2 S. 1 VV RVG nicht auf Verfahren anzuwenden, in denen sich an die Beratungshilfe ein gerichtskostenfreies sozialgerichtliches Verfahren anschließt (ebenso LSG NRW, Beschluss vom 16.12.2009, L 19 B 180/09 AS Rn 70 m.w.N. auch zur gegenteiligen Auffassung). In diesen Fällen ist die Gebührenvorschrift der Nr. 3103 VV RVG als die Anrechnung einer Vorbefassung abschließend regelnde Sondervorschrift anzusehen.
Der Wortlaut der Nr. 2503 Abs. 2 S. 1 VV RVG selbst schließt zwar eine Kürzung der Gebühren für ein nachfolgendes kostenprivilegiertes Verfahren nicht aus. Eine einschränkende Auslegung ist aber durch Sinn und Zweck der Anrechnungsvorschrift geboten. Mit der Anrechnung der nach Nr. 2503 Abs. 1 VV RVG für die Tätigkeit in einem behördlichen Verfahren anfallenden Beratungshilfegebühr auf die Gebühren des nachfolgenden gerichtlichen Verfahrens soll berücksichtigt werden, dass aufgrund der Vorbefassung für den bevollmächtigten Rechtsanwalt regelmäßig ein geringerer Arbeitsaufwand entsteht. Der Zweck der Vorschrift liegt somit darin, eine übermäßige Vergütung zu verhindern, wenn die Vorbefassung des Anwalts mit der Angelegenheit für den Arbeitsaufwand im Klageverfahren einen Synergieeffekt zeitigt (vgl. hierzu LSG NRW, Beschluss vom 16.12.2009, L 19 B 180/09 AS unter Hinweis auf die gesetzliche Entwicklung der Vorschrift). Anders als in den Verfahren mit streitwertgebundenen Wertgebühren wird Synergieeffekten bei einer Vorbefassung in gerichtskostenprivilegierten sozialgerichtlichen Verfahren bereits durch eine Minderung des Gebührenrahmens Rechnung getragen. So bestimmt der Gebührentatbestand der Nr. 3103 VV RVG, dass sich die erstinstanzliche Verfahrensgebühr, die nach Nr. 3102 VV RVG 40,00 bis 460,00 Euro beträgt, bei einer vorausgegangenen Tätigkeit im Verwaltungsverfahren auf 20,00 bis 320,00 Euro mindert. Ein sachlicher Grund, der es rechtfertigt, die Vorbefassung des Rechtsanwalts nach dieser Minderung noch ein weiteres Mal durch Anrechnung der Beratungshilfegebühr nach Nr. 2503 Abs. 2 VV RVG ist nicht ersichtlich. Aus der Gesetzesbegründung zu Nr. 2503 VV RVG (vormals: Nr. 2603 VV RVG) ist nicht erkennbar, dass der Gesetzgeber ausnahmsweise eine doppelte Berücksichtigung beabsichtigt hat (vgl. LSG NRW, a.a.O. m.w.N.). Auch die Gesetzessystematik spricht gegen eine auf dem selben Umstand beruhende zweifache Gebührenminderung. An keiner anderen Stelle sieht das RVG eine doppelte Berücksichtigung von Arbeitsersparnis vor. Für die Bemessung der Gebührenhöhe innerhalb des Gebührenrahmens nach Nr. 3103 VV RVG wird vielmehr sogar ausdrücklich festgelegt, dass eine Anrechnung der Arbeitsersparnis wegen Vorbefassung lediglich einmal erfolgen darf (Anmerkung 1 zu Nr. 3103 VV RVG). Darüber hinaus wäre nicht erklärlich, warum ein Rechtsanwalt, der für einen Kläger im vorausgegangenen Widerspruchsverfahren im Rahmen der Beratungshilfe tätig war, eine geringere Gebühr erhält als derjenige, dessen Mandant in diesem Zeitraum die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Beratungshilfe nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Beratungshilfegesetzes (BerHG) noch nicht erfüllt hat. Dies gilt um so mehr als die Rechtsanwälte nach § 49a S. 1 Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) verpflichtet sind, Beratungshilfe zu gewähren. Bei Vorlage eines Beratungshilfescheins ist ein Rechtsanwalt verpflichtet, das Mandat zu übernehmen, unabhängig davon, wie er die Erfolgsaussichten des Begehrens beurteilt. Des Weiteren muss er einen Auftraggeber bei begründetem Anlass auf den möglichen Anspruch aus Beratungshilfe hinweisen (§ 16 Abs. 1 BRAO). Eine Verletzung dieser Pflicht kann den Rechtsanwalt schadensersatzpflichtig machen (LSG NRW, a.a.O., Rn 77). Stellt aber die Heranziehung der Rechtsanwälte zur Gewährung von Beratungshilfe einen Eingriff in ihre in Art. 12 Grundgesetz geschützte freie Berufsausübung dar, hat der Staat hierfür eine angemessene Entschädigung zu leisten (BVerfG, Beschluss vom 04.12.2006, 1 BvR 1198/06 Rn 14 m.w.N.). Dies würde bei einer doppelten Anrechnung in Frage gestellt.
Ist die Beratungshilfegebühr damit nicht anzurechnen, ergibt sich unter weiterer Berücksichtigung der nach Nr. 7008 VV RVG anrechenbaren Umsatzsteuer der vom Beschwerdeführer beantragte Vergütungsansatz von 753,27 Euro.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 56 Abs. 2 S. 2 und 3 RVG.
Diese Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).