Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 B 25/09 SB - Beschluss vom 29.09.2009
Wird die Erhöhung des GdB begehrt, kann Prozesskostenhilfe in der Regel nicht mit der Begründung verneint werden, dass der Antragsteller aus einem günstigen Urteil auf absehbare Zeit wohl keinen Vorteil ziehen kann. Nach dem System des Schwerbehindertenrechts hat jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des maßgeblichen GdB unabhängig davon, ob sich seine gegenwärtige rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Ein besonderes Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) ist nicht erforderlich.
Gründe:
I.
Streitig ist, ob dem Kläger im Rechtsstreit um die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen ist.
Bei dem 1954 geborenen, erwerbslosen und im Leistungsbezug nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) stehenden Kläger war durch Bescheid des damals für ihn zuständigen Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie in O. vom 14.11.2008 wegen eines depressiven Syndroms mit somatoformer Schmerzstörung und Tinnitus (Einzel-GdB 30) sowie eines Wirbelsäulensyndroms in zwei Abschnitten (Einzel-GdB 20) der GdB 40 ab Erstantragstellung im August 2008 festgestellt worden. Auf den Widerspruch des Klägers vom 21.11.2008 hin erhöhte die infolge Umzugs des Klägers zuständig gewordene Beklagte mit Teilabhilfebescheid vom 02.03.2009 den GdB auf 50 ab Antragstellung unter Berücksichtigung einer Sehminderung beiderseits sowie Hörminderung beiderseits (jeweils Einzel-GdB 20). Den Rechtsbehelf hat die Bezirksregierung M. im Übrigen durch Widerspruchsbescheid vom 16.04.2009 zurückgewiesen.
Dagegen hat der Kläger am 22.04.2009 bei dem Sozialgericht (SG) D. Klage auf Feststellung des GdB von mindestens 70 erhoben und zugleich die Bewilligung von PKH beantragt. Zur Klagebegründung hat er schwerwiegende psychische und körperliche Beeinträchtigungen geltend gemacht, auf einen laufenden Rentenantrag hingewiesen und zudem ausgeführt, er möchte öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Mit Richterbrief vom 25.06.2009 hat das SG darauf aufmerksam gemacht, dass ein höherer GdB keinen Einfluss auf den Ausgang des Rentenverfahrens habe. Insbesondere habe der GdB keine Bedeutung für die Antwort auf die Frage nach dem Ausmaß körperlicher Leistungsfähigkeit im Berufsleben. Andererseits könne der Kläger bereits jetzt öffentliche Verkehrsmittel benutzen. Soweit die kostenlose Nutzung gemeint sein sollte, sei der Nachteilsausgleich "G" nicht Gegenstand des Klageverfahrens.
Im Hinblick darauf hat der Kläger erwidert, bei ihm sei ein wesentlich höherer GdB festzustellen. Die Durchführung der Klage diene im Übrigen insbesondere dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit.
Das SG hat durch Beschluss vom 21.07.2009 den PKH-Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Rechtsverfolgung sei mutwillig. Der Kläger habe auch bei einem für ihn günstigen Ausgang des Rechtsstreits keine Vorteile davon. Er beziehe allein Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II, habe kein Vermögen und könne daher einen höheren Steuerfreibetrag bei erhöhtem GdB nicht ausschöpfen. Andere relevante Vorteile seien weder erkennbar noch vorgetragen. Aus dem Vorbringen, die Durchführung der Klage diene dem Rechtsfrieden, der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit, hat das SG im Übrigen auf einen Rechtsstreit "aus Prinzip" geschlossen. Ein verständiger bzw. nicht bedürftiger Beteiligter würde bei einer solchen Konstellation unter Beachtung des Prozessrisikos einen Prozess um die Erhöhung des GdB, bei dem er aus einem günstigen Urteil auf absehbare Zeit keinen Vorteil ziehen könne, nicht führen.
Gegen diesen ihm am 24.07.2009 zugestellten Beschluss hat der Kläger am selbigen Tage Beschwerde eingelegt, mit er sich insbesondere gegen die vom SG angenommene Mutwilligkeit der gerichtlichen Rechtsverfolgung wendet. Zur Begründung hat er auf mögliche Erleichterungen durch einen höheren, noch festzustellenden GdB u.a. im Fall einer erfolgreichen Arbeitsplatzvermittlung, aber auch als Voraussetzung für die etwaige spätere Feststellung von Merkzeichen wie "GL", "H", "RF" bzw. "G" oder "aG" hingewiesen. Das SG habe den GdB im Wege der Amtsermittlung zu überprüfen.
Ergänzend wird zum Sachverhalt auf die Schwerbehindertenakte der Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Ihm steht PKH zu.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter unter bestimmten persönlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen PKH, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Hinreichende Erfolgsaussicht besteht, wenn das Gericht den Standpunkt des Antragstellers auf Grund der Sachverhaltsschilderung und der vorliegenden Unterlagen für zutreffend oder doch für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 73 a Rn 7a; Senatsbeschluss vom 29.08.2005, L 6 B 10/05 SB m.w.N.). Allerdings wird PKH trotz Erfolgsaussicht des Rechtsmittels dann nicht gewährt, wenn die Rechtsverfolgung mutwillig ist. Dabei ist in der Sozialgerichtsbarkeit Mutwillen im Sinne von § 114 ZPO eher die Ausnahme ( vgl. ebenso Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 73 a Rn. 8, m.w.N.). So ist Mutwilligkeit bei einer gerichtlichen Rechtsverfolgung etwa dann anzunehmen, wenn das rechtliche Begehren auf einfacherem Wege zu erreichen ist oder es zweckmäßig erscheint, die Entscheidung in einem Parallelfall abzuwarten und dem Kläger hieraus kein rechtlicher Nachteil erwächst (a.a.O.).
Entgegen der Auffassung des SG liegt auch hier kein Fall mutwilligen Verhaltens vor. Es kann dem Kläger namentlich nicht entgegen gehalten werden, ein verständiger bzw. nicht bedürftiger Beteiligter würde bei einer solchen Konstellation unter Beachtung des Prozessrisikos keinen Prozess um die Erhöhung des GdB, ohne aus einem günstigen Urteil auf absehbare Zeit einen Vorteil ziehen zu können, führen. Jedenfalls ist die Rechtsverfolgung nicht deshalb mutwillig, weil etwa das Rechtsschutzbedürfnis für die Durchführung des Klageverfahrens nach dem SGB IX fehlen würde. Insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24.04.2008, B 9/9a SB 8/06 R, insbes. Juris Rn. 10, 11.
Dort heißt es u.a., dass als (Prozess-)Voraussetzung einer jeden gerichtlichen Rechtsverfolgung ein Bedürfnis nach Rechtsschutz (Rechtsschutzinteresse) zu fordern ist. Das BSG hält es jedoch zugleich für unrichtig, das Rechtsschutzbedürfnis mit der Begründung zu verneinen, dass für einen Kläger ein von 60 auf 70 erhöhter GdB zweck- und nutzlos sei und keinen Sinn oder Verwendungszweck hätte. Vielmehr fehlt es nach dieser Entscheidung im Allgemeinen nur dann am Rechtsschutzbedürfnis, wenn eine Klage für den Kläger offensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (vgl. ebenfalls Bundesverwaltungsgericht = BVerwGE 121, 1 RdNr. 19; BSGE 82, 176, 177, 182 f = SozR 3-3870 § 4 Nr. 24 S 94, 100; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, vor § 51 RdNr. 16a). Die Nutzlosigkeit muss also eindeutig sein. Ob - geringfügige - GdB-Erhöhungen unter- oder oberhalb des die Schwerbehinderteneigenschaft begründenden GdB 50 für den behinderten Menschen in diesem Sinne eindeutig nutzlos sind, braucht nicht jeweils im Einzelfall ermittelt und festgestellt zu werden, weil der Gesetzgeber diese Frage generell verneint hat. Nach dem System des Schwerbehindertenrechts im SGB IX hat jeder behinderte Mensch Anspruch auf Feststellung des maßgeblichen GdB unabhängig davon, ob sich seine gegenwärtige rechtliche und/oder wirtschaftliche Situation dadurch unmittelbar verbessert. Ein besonderes Feststellungsinteresse (Rechtsschutzbedürfnis) ist nicht erforderlich. Das folgert das BSG bereits aus dem Wortlaut des § 69 Abs. 1 Satz 6 SGB IX: "Eine Feststellung ist nur zu treffen, wenn ein Grad der Behinderung von wenigstens 20 vorliegt." Damit wird pauschal die Schutzwürdigkeit von GdB-Feststellungen ab 20 statuiert.
Zudem führt das BSG (a.a.O., Juris Rn.14) aus, die Berechtigung und der Sinn eines nach Zehnerstufen gradgenauen Feststellungsbescheides (und des ggf. daraus abgeleiteten Schwerbehindertenausweises) als "Eintrittskarte" in die unüberschaubar vielfältige Welt der Nachteilsausgleiche, Vergünstigungen und sonstigen Vorteile für behinderte Menschen zeige sich auch bei dem GdB 70 anhand diverser Vorteile. Dies gelte im Einzelfall etwa für freien Eintritt in bestimmte botanische Gärten bzw. Museen, Befreiungen bzw. Ermäßigungen von Kurabgaben oder auch ermäßigte Eintrittspreise für die Benutzung städtischer Bäder. Nach alledem war hier kein Mutwillen i.S.v. § 114 ZPO anzunehmen.
Schließlich hat die beabsichtigte Rechtsverfolgung bei der gebotenen summarischen Prüfung des PKH-Antrags auch hinreichende Erfolgsaussicht. Eine abschließende Prüfung der Erfolgsaussicht muss nicht vorgenommen werden. Sie ist im gegenwärtigen Stand des Verfahrens auch nicht nötig. Die Anforderungen an die Erfolgsaussicht dürfen nicht überspannt werden. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische PKH-Verfahren zu verlagern mit der Folge, dass dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens tritt. Das PKH-Verfahren will somit den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz i.V.m. Art. 3 Grundgesetz (GG) erfordert, nicht selbst bieten, sondern zugänglich machen. Daher müssen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht stets konkretisiert und begrenzt werden durch den Zweck der PKH, dem Unbemittelten weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen (Bundesverfassungsgericht -BVerfG - , Beschluss vom 20.02.2002, 1 BvR 1450/00, Juris ).
Das SG wird sich nunmehr in der Sache mit dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch zu befassen haben und dazu nach pflichtgemäßen Ermessen geeignete weitere Sachaufklärung betreiben, etwa durch Beiziehung aussagekräftiger ärztlicher Befund- und Behandlungsberichte, etwaiger Gutachten über die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers aus dem Rentenantragsverfahren oder auch durch eigene Einholung medizinischer Sachverständigengutachten zur GdB-Höhe von Amts wegen.
Da auch die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH gegeben sind, war dem mittellosen Kläger ab Bewilligungsreife, d.h. ab 22.04.2009, antragsgemäß ratenfreie PKH unter Beiordnung von Rechtsanwalt K. zu bewilligen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind gem. § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO nicht zu erstatten.
Die Entscheidung ist nicht anfechtbar, § 177 SGG.