LSG NRW - L 6 B 4/05 VG - Beschluss vom 01.03.2006
Wird ein Vergewaltiger Opfer eines aus Rache der Vergewaltigten - bzw. deren näheren Umfelds - begangenen tätlichen Angriffs, ist zweifelhaft, ob sein Entschädigungsanspruch nach dem OEG durch § 2 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. OEG (Unbilligkeit) ausgeschlossen ist.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Voraussetzungen der PKH ist grundsätzlich der Zeitpunkt der Beschlussfassung des Gerichts. Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn das Gericht die Entscheidung über einen vollständigen und entscheidungsreifen PKH-Antrag ohne erkennbaren sachlichen Grund erst nach Abschluss des Verfahrens trifft. Das Gericht ist gehalten, den Beschluss zeitlich vor oder spätestens zu Beginn der mündlichen Verhandlung zu fassen und den Beteiligten bekannt zu geben.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Leistungen nach dem
Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1974 geborene Antragsteller war mit der im Jahre 2000 19-jährigen B.
verlobt. Im August 2000 beendete B. die Beziehung und zog aus der gemeinsamen
Wohnung aus. Am 31.10.2000 wurde sie in der Wohnung des Antragstellers von
diesem vergewaltigt. Das Landgericht Bochum verurteilte den vorbestraften
Antragsteller wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit versuchter Nötigung zu
einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und drei Monaten (Urteil vom 11.04.2002,
22 Kls 36 J 593/00 I 55/01, rechtskräftig).
Am 02.11.2000 verletzte C., der Vater der B., den Antragsteller vorsätzlich mit
einem Messer und Faustschlägen. Das Amtsgericht Recklinghausen verurteilte den
B. wegen gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit fahrlässiger
Trunkenheit im Verkehr zu einer Freiheitsstrafe von 1 Jahr und 9 Monaten sowie
zu einer Geldstrafe (Urteil vom 20.06.2002, 26 Ls 11 Js 710/00, rechtskräftig).
Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Der Antragsteller stellte am 24.03.2004 bei dem Beklagten einen Antrag auf
Gewährung von Versorgung nach dem OEG. Unter Beifügung von Arztberichten des
Anstaltsarztes der Justizvollzugsanstalt D. vom 04.02.2004, des Neurologen und
Psychiaters Dr. E. vom 16.02.2001 und des Allgemeinmediziners Dr. F. vom
16.12.2002 gab er an, wegen der Messerstiche des C. an erheblichen
Funktionsstörungen der Hand sowie an Platzangst, Angstgefühlen und Schlafstörung
zu leiden. Der Beklagte zog das Erkrankungsverzeichnis der DAK, einen Arztbrief
der Chirurgischen Abteilung des G.-Krankenhauses H. vom 16.04.2004 sowie die
Akten der Staatsanwaltschaft Bochum (11 Js 710/00 - Strafverfahren gegen B.) und
des Landgerichts Bochum (1 O 281/03 - Schadensersatzklage T1./. W) bei.
Mit Bescheid vom 01.12.2004 lehnte der Beklagte den Antrag auf Versorgung ab.
Zur Begründung gab er an, dass Leistungen nach § 2 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. OEG
versagt werden müssten, wenn dem Gewaltopfer die erlittene Schädigung
zuzurechnen sei. Eine solche Zurechnung müsse angenommen werden, wenn der
Angriff - wie hier - im Rahmen einer Auseinandersetzung über eine vorangegangene
Straftat des Gewaltopfers erfolge.
Den Widerspruch des Antragstellers vom 23.12.2004 wies der Beklagten mit
Widerspruchsbescheid vom 19.05.2005 zurück.
Der Antragsteller hat am 28.06.2005 Klage beim Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen
erhoben und am 28.07.2005 bzw. 04.08.2005 die Bewilligung von Prozesskostenhilfe
(PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt I. beantragt.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 15.09.2005 abgewiesen und den Antrag auf
Gewährung von PKH mit Beschluss vom gleichen Tag abgelehnt. Es hat in der am
14.10.2005 zur Geschäftsstelle gegebenen Urteilsbegründung ausgeführt, dass die
Gewährung von Leistungen gem. § 2 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. OEG unbillig wäre, weil
der Kläger sich mit der Vergewaltigung der B. außerhalb der staatlichen
Rechtsgemeinschaft gestellt habe. Zwar werde auch das Verhalten von C. nicht von
der Rechtsordnung gebilligt, da Selbstjustiz ausgeschlossen sei. Allerdings habe
die Gewalttat des Klägers einen viel höheren Unrechtsgehalt als die darauf
folgende Körperverletzung. Nach seiner gravierenden Straftat, der
Vergewaltigung, habe der Kläger damit rechnen müssen, dass von B. oder ihrem
nächsten Umfeld eine Reaktion erfolge. Das OEG, das unschuldige Opfer von
Straftaten schützen solle, werde pervertiert, wenn Täter von so gravierenden
Straftaten wie einer Vergewaltigung eine Entschädigung aufgrund von Straftaten
mit einem geringeren Gewicht, nämlich einer Körperverletzung erhielten. Die
Ablehnung des PKH-Antrags hat das SG in dem ebenfalls am 14.10.2005 zur
Geschäftsstelle gegebenen Beschluss damit begründet, dass die Prozessführung des
Antragstellers keine hinreichende Aussicht auf Erfolg biete. Der Antragsteller
habe sich durch seine vorangegangene Vergewaltigung außerhalb der Rechtsordnung
gestellt. Im Übrigen hat das SG auf die Entscheidungsgründe des Urteils
verwiesen.
Gegen Urteil und Beschluss des SG hat der Antragsteller am 04.11.2005 Berufung
bzw. Beschwerde eingelegt. Die Beschwerde gegen die Ablehnung von PKH hat er
damit begründet, dass der PKH-Antrag bereits mit Einreichung der vollständigen
Unterlagen am 04.08.2005 entscheidungsreif gewesen sei. Diese Entscheidung habe
das Gericht dann aber bis zum Termin in der Sache verzögert. Noch in der
mündlichen Verhandlung sei die Frage intensiv diskutiert worden, ob die
Vergewaltigung einen Fall rechtsfeindlicher Betätigung darstelle. Hierzu habe er
in der Verhandlung zu bedenken gegeben, dass der Staat sich gerade in einer
Situation, in der möglicherweise mit "Racheakten" zu rechnen sei, besonders um
den Schutz des potentiellen Opfers bemühen müsse. Darüber hinaus habe kein enger
zeitlicher Zusammenhang zwischen der verübten Straftat des Antragstellers und
der Straftat des Vaters des Opfers vorgelegen. Vor dem Hintergrund, dass die
Sach- und Rechtslage noch im Termin ausführlich diskutiert worden sei, zeige
sich, dass das Gericht seine Auffassung über die Erfolgsaussicht der Klage bis
zum Termin gerade noch nicht festgelegt habe. Schon von daher sei der PKH-Antrag
positiv zu bescheiden gewesen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet.
Dem Kläger ist für das Klageverfahren PKH zu bewilligen.
Voraussetzung für die Gewährung von PKH ist nach § 73 a Abs.1 Satz 1 des
Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i.V.m. § 114 der Zivilprozessordnung (ZPO) unter
anderem, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf
Erfolg bietet. Dies ist der Fall, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des
Klägers für zumindest vertretbar hält (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl. 2005, §
73 a Rn 7a; st. Rspr. des LSG NRW, z.B. Beschluss vom 29.08.2005, L 6 B 10/05
SB). Lediglich dann, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin
ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist, darf PKH
verweigert werden (BVerfG, Beschluss vom 13.07.2005, 1 BvR 175/05 = NJW 2005,
3489 f. m.w.N.). Wird eine Rechtsfrage aufgeworfen, die in der Rechtsprechung
noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss PKH bewilligt werden (BVerfG,
Beschluss vom 10.12.2001, 1 BvR 1803/97 = NJW-RR 2002, 793 ff.; Beschluss vom
13.03.1990, 2 BvR 94/88 = BVerfGE 81, 347 ff.). Die bedürftige Person muss die
Möglichkeit haben, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren zu vertreten
und u.U. Rechtsmittel einlegen können.
Diesen Anforderungen wird die streitige Entscheidung über die Ablehnung der PKH
nicht gerecht. Das SG hatte über eine schwierige und klärungsbedürftige
Rechtsfrage zu befinden. Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt maßgeblich von
der Frage ab, ob ein Gewaltopfer, das sich zeitlich zuvor selbst einer
Vergewaltigung strafbar gemacht hat, bei "Racheakten" oder - wie das SG wohl
meint - zumindest bei den Racheakten, die in ihrer Schwere hinter der
Vergewaltigung zurückstehen, mit Ansprüchen nach dem Opferentschädigungsgesetz
gem. § 2 Abs. 1 S. 1, 2. Alt. OEG (Unbilligkeit) ausgeschlossen ist. Diese Frage
ist bisher in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht geklärt. Entgegen der
Auffassung des SG lässt sich die vorliegende Fallgestaltung auch nicht ohne
Weiteres unter die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG)
subsumieren, nach der sich das spätere Opfer mit einer im Vorfeld der Tat
liegenden eigenen rechtsfeindlichen Betätigung selbst außerhalb der staatlichen
Rechtsgemeinschaft gestellt hat (BSG, Urteil vom 24.03.1993, 9/9a RVg 3/91 =
SozR 3-3800 § 2 Nr. 2). Diese Rechtsprechung des BSG bezog sich lediglich auf
einen Sachverhalt, bei dem das spätere Opfer einem "Milieu" bzw. einer "Szene"
angehört (hat), in denen Straftaten an der Tagesordnung waren. So liegt der Fall
hier aber gerade nicht.
Der Gewährung von PKH steht nicht entgegen, dass das SG im Zeitpunkt der
PKH-Entscheidung das klageabweisende Urteil bereits verkündet hatte. Der
ablehnende PKH-Beschluss vom 15.09.2005, der das Datum des Tages der mündlichen
Verhandlung trägt, ist nach dem Aktenverlauf am 14.10.2005 zur Geschäftsstelle
gelangt und damit wohl am 14.10.2005, jedenfalls erst nach dem für den Kläger
erfolglosen Abschluss des Klageverfahrens, ergangen. Zu diesem Zeitpunkt hatte
die - bereits abgewiesene - Klage naturgemäß keine Aussicht auf Erfolg mehr. Das
SG hat bei der Prüfung der Erfolgsaussicht zu Unrecht auf diesen Zeitpunkt
abgestellt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Voraussetzungen der
PKH ist zwar grundsätzlich der Zeitpunkt der Beschlussfassung des Gerichts (LSG
NRW, Beschluss vom 10.05.2004, L 6 B 4/04 P; Thomas/Putzo, ZPO 27. Aufl. 2005, §
119 Rn 4). Etwas Anderes gilt jedoch dann, wenn das Gericht die Entscheidung
über einen - hier seit dem 04.08.2005 - vollständigen und entscheidungsreifen
PKH-Antrag ohne erkennbaren sachlichen Grund erst nach Abschluss des Verfahrens
trifft. Das Gericht ist gehalten, den Beschluss zeitlich vor oder spätestens zu
Beginn der mündlichen Verhandlung zu fassen und den Beteiligten bekannt zu
geben. Anderenfalls würde das Recht eines bedürftigen Antragstellers auf
Gewährung von Prozesskostenhilfe unvertretbar beschnitten und damit der
Grundsatz des fairen Verfahrens missachtet. Denn das "Liegenlassen" von
PKH-Anträgen bis nach Klageabweisung zöge dann zwangsläufig immer auch den
Verlust des Rechts auf Prozesskostenhilfe nach sich. Dies aber widerspricht den
Anforderungen des Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit dem
Rechtsstaatsprinzip (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.07.2005, 1 BvR 175/05, a.a.O.).
Da der Kläger die Kosten der Prozessführung nach den von ihm angegebenen
persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht aufbringen kann, ist ihm
ratenfreie Prozesskostenhilfe zu gewähren.
Die Entscheidung kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht
angefochten werden (§ 177 SGG).