Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 SB 110/08 - Urteil vom 31.03.2009
Stehen die Auswirkungen von drei Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 30 und 2mal einen "mittleren" GdB von 20 bedingen, unabhängig nebeneinander, so ist ein Gesamt-GdB von 50 angemessen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten darüber, welcher Grad der Behinderung (GdB) bei dem Kläger nach dem Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch - (SGB IX) festzustellen ist.
Mit Bescheid vom 14.07.2000 stellte das Versorgungsamt F bei dem 1945 geborenen Kläger wegen der Gesundheitsstörungen
1. Funktionsstörung der Kniegelenke durch Verschleiß, Meniskusoperation bds., operierter Kreuzbandriß links (GdB 20)
2. Bluthochdruck (GdB 10)
einen GdB von 20 fest.
Am 14.12.2004 beantragte der Kläger die Feststellung eines höheren GdB. Das Versorgungsamt F holte einen Bericht der HNO-Klinik F vom 12.10.2004, der Internisten Dr. G vom 29.01.2005 und Dr. G1 vom 18.02.2005 sowie des Chirurgen Dr. T vom 16.03.2005 mit weiteren Fremdarztberichten ein. Nach Auswertung dieser Unterlagen lehnte es den Antrag auf Feststellung eines höheren GdB als 20 mit Bescheid vom 05.04.2004 ab. Den hiergegen gerichteten Widerspruch des Klägers vom 11.04.2005 wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 07.06.2005 zurück.
Mit der am 11.07.2005 beim Sozialgericht Duisburg (SG) erhobenen Klage hat der Kläger die Feststellung eines GdB von 50 begehrt. Das SG hat die Akten des Rentenstreitverfahrens des Klägers (S 10 R 246/05) beigezogen und Befundberichte des Augenarztes Dr. F vom 13.11.2005 und des Internisten Dr. G1 vom 19.11.2005 eingeholt. Anschließend hat es den Neurologen und Psychiater Dr. S sowie den Chirurgen Dr. C um Erstellung eines Gutachtens gebeten. Die Sachverständigen haben in ihren Gutachten vom 11.05.2006 bzw. 22.05.2006 die Feststellung eines Gesamt-GdB von 20 im Wesentlichen wegen des Knieleidens des Klägers bestätigt. Des weiteren hat das SG Arztbriefe des M-hauses F vom 09.03.2006 und 14.07.2006 beigezogen und ein internistisches Gutachten des Dr. X vom 21.07.2007 eingeholt. Dieser hat die Schädigung der unteren Extremitäten des Klägers mit einem GdB von 30 und ein Lungenleiden mit einem GdB von 20 sowie den Gesamt-GdB mit 40 bewertet.
Mit Urteil vom 26.05.2008 hat das SG den Beklagten verurteilt, einen GdB von 40 festzustellen. Bei dem Kläger bestünden fortgeschrittene verschleißbedingte Veränderungen des linken Kniegelenks mit Bewegungseinschränkung sowie Instabilität nach Kreuzbandruptur mit wiederholten bewegungs-/belastungsabhängigen Reizerscheinungen, verschleißbedingten Kniegelenkveränderungen rechts, eine Senk-Spreizfußdeformität bds. mit Zehenfehlstellung rechts sowie eine Ödembildung in Folge venöser Abflussstörungen im Bereich beider Beine und diskrete sensible Restbeschwerden nach traumatischer Peronaeusparese rechts (Unfall 03/2004). Dieses Leiden sei nach den Nummern 26.18 und 26.9 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Anhaltspunkte) mit einem GdB von 30 zu bewerten. Des weiteren bestehe bei dem Kläger eine Gesundheitsschädigung von Brustkorb, tieferen Atemwegen und Lungen bei chronischer Atemwegsentzündung (chronisch obstruktive Atemwegserkrankung - COPD). Diese Erkrankung sei nach Nummer 26.8 der Anhaltspunkte mit einem GdB von 20 zu bemessen. Ein Herz-/Kreislaufleiden des Klägers bedinge ebenso wie eine Wirbelsäulenerkrankung je einen GdB von 10. In der Gesamtheit sei für die Leiden ein GdB von 40 anzusetzen, da die Lungeneinschränkung im Hinblick auf die Erkrankung der unteren Extremitäten zu einer Zunahme des Gesamtmaßes der Behinderungen um 10 auf 40 führe.
Der Kläger hat gegen das ihm am 21.06.2008 zugestellte Urteil am 03.07.2008 Berufung eingelegt und sein Begehren eines GdB von 50 weiter verfolgt.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat die Rentenstreitakten des Klägers (S 10 R 4/07) sowie einen Bericht des B Klinikums F über eine bei dem Kläger im November 2008 festgestellte Schlafapnoe beigezogen.
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der von der Beklagten beigezogenen Verwaltungsakten verwiesen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig und teilweise begründet.
Richtige Beklagte ist im Berufungsverfahren seit dem 01.01.2008 die für den Kläger örtlich zuständige Stadt F (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung im Bereich des Schwerbehindertenrechts Urteil des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06 - Rev.Az.: B 9 SB 1/08 R; Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 - Rev.Az.: B 9 SB 3/08 R; ebenso im Bereich des Sozialen Entschädigungsrechts Urteil des erkennenden Senats vom 11.03.2008, L 6 (10) VS 29/07, bestätigt durch BSG, Urteil vom 11.12.2008, B 9 VS 1/08 R).
Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass die Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 05.04.2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 07.06.2005 und des Ausführungsbescheides vom 07.07.2008 bei ihm einen Gesamt-GdB von 50 ab November 2008 feststellt.
Das Knieleiden des Klägers ist nach den vorliegenden ärztlichen Befunden mit einem GdB von 30 zu bewerten. Nach den seit dem 01.01.2009 geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (im Folgenden: VMG - , Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008, Anlageband zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57 vom 15.12.2008, vormals: Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz) sind ausgeprägte Knorpelschäden eines Kniegelenks je nach Stadium (II-IV) mit einem GdB von 10-30 zu bewerten, wenn Bewegungseinschränkungen hinzukommen mit einem GdB von 20-40 (VMG Teil B Nr. 18.14, S.100). Bei dem Kläger bestehen ausweislich der Sachverständigengutachten ausgeprägte Knorpelschäden (Grad IV), die mit von ihm regelmäßig beklagten Schmerzen am Knie einhergehen. Das linke Kniegelenk weist eine deutliche Konturvergröberung auf und es zeigen sich Wulstungen der Gelenkkanten und Kapselverdickungen als Ausdruck eines chronischen Reizzustandes. Die Beweglichkeit ist mäßiggradig eingeschränkt (0-5-110). Hinzu kommen eine Instabilität nach Kreuzbandruptur, Ödembildung, Senk-Spreizfußdeformität und diskrete sensible Restbeschwerden nach traumatischer Peronaeusparese rechts. In der Gesamtheit rechtfertigt dies die Feststellung eines Einzel-GdB von 30.
Das Lungenleiden des Klägers ist mit einem GdB von 20 zu bewerten. Der Kläger leidet an einer chronisch-obstruktiven Atemwegserkrankung (COPD oder COLD). Bei der Lungenfunktionsuntersuchung war eine kombiniert zentrale und periphere Atemwegsobstruktion festzustellen. Die periphere Obstruktion hat dabei auch unter medikamentöser Bronchospasmolyse persistiert. Eine Erkrankung der Atemorgane mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wie hier vom Sachverständigen festgestellt, ist mit einem GdB von 20 bis 40 zu bewerten (VMG Teil B Nr. 8.3, S. 44). Im Hinblick auf die festgestellte Minderung der Lungenfunktion ist ein GdB von 20 angemessen.
Die nunmehr beim Kläger festgestellte Schlafapnoe mit Maskenpflichtigkeit seit November 2008 ist nach Teil B, Nr. 8.7, S. 45 der VMG ab diesem Zeitpunkt mit einem GdB von 20 zu bewerten.
In der Gesamtheit sind die Leiden seit Feststellung der Schlafapnoe im November 2008 mit 50 zu bemessen. Zu dem mit einem GdB von 30 bewerteten Knieleiden sind durch das Atemwegsleiden und die Schlafapnoe jeweils 10 Punkte hinzuzufügen, so dass sich ein Gesamt-GdB von 50 ergibt. Einer Anhebung des Gesamtmaßes des Leidens durch die Atemwegserkrankung und die Schlafapnoe steht nicht Teil A Nr. 3 d) ee), S. 10 der VMG (vormals Nr. 19 (4) der Anhaltspunkte) entgegen. Nach dieser Vorschrift ist es bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Diese Regelung ist nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. auch schon Urteil vom 18.05.2004, L 6 SB 130/03) so auszulegen, dass Leiden, die mit einem GdB von "gerade eben" 20, also einem "schwachen" GdB von 20 bewertet werden, grundsätzlich nicht in die Gesamt-GdB-Bildung einfließen. Vorliegend sind jedoch sowohl das Atemwegsleiden als auch die Schlafapnoe unter Berücksichtigung der erhobenen ärztlichen Befunde und der Bewertung der VMG als "mittlere" 20er Werte anzusehen. Leiden, die mit einem "mittleren" oder "hohen" GdB von 20 bewertet werden, sind dann geeignet, das Gesamtmaß der Beeinträchtigung zu erhöhen, wenn sie unabhängig nebeneinander und neben der Hauptbeeinträchtigung stehen oder sich untereinander oder mit dem Hauptleiden verstärken bzw. besonders nachteilig aufeinander auswirken. Sie sind hingegen dann nicht zu bewerten, wenn sich in den Auswirkungen im täglichen Leben Überschneidungen ergeben (vgl. Teil A Nr. 3 d VMG). Derartige Überschneidungen ergeben sich bei den Leiden des Klägers nicht. Vielmehr stehen die Atemwegserkrankung und die Schlafapnoe unabhängig nebeneinander und neben der Schädigung der unteren Extremitäten. Die Gesundheitsschädigung beider unterer Extremitäten führt zu Funktionsstörungen insbesondere im Hinblick auf die Bewegungsfähigkeit betreffend lange Gehstrecken, häufiges Treppen steigen, Knien und Hocken. Die Atemwegserkrankung verbietet Expositionen gegenüber inhalativen Noxen wie Gasen, Stäuben, Dämpfen und Rauch sowie gegen ausgeprägte Nässe, Kälte, Zugluft und Klimaschwankungen. Darüber hinaus ist die Atmung eingeschränkt und eine Medikamenteneinnahme zur Normalisierung von Atemwegsobstruktionen erforderlich. Die Schlafapnoe schließlich erfordert nachts das Tragen einer Maske bzw. führt ohne diese zu Müdigkeit und Leistungsminderung im Tagesverlauf. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen im Alltag überschneiden sich somit nicht, sondern summieren sich vielmehr, so dass das Ausmaß der Behinderungen in der Gesamtschau ab November 2008 einen Gesamt-GdB von 50 rechtfertigt.
Soweit der Kläger einen GdB von 50 statt 40 auch für den Zeitraum ab Antragstellung (Dezember 2004) bis November 2008 begehrt, hat das SG die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass die Beklagte im Zeitraum Dezember 2004 bis November 2008 einen höheren GdB als 40 feststellt. Dies hat das Sozialgericht zutreffend festgestellt. Die vor November 2008 allein bestehende Schädigung der unteren Extremitäten und die Atemwegserkrankung lassen lediglich die Feststellung eines Gesamt-GdB von 40 zu. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Mit der Teilung der Kosten hat der Senat zum einen dem Umstand Rechnung getragen, dass der Kläger allein aufgrund einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Laufe des Verfahrens (teilweise) obsiegt hat. Dieser Verschlechterung hätte er auch in einem Verwaltungsverfahren Rechnung tragen können. Zum anderen ist hier berücksichtigt worden, dass die Beklagte den ab November 2008 bestehenden Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 50 nicht unverzüglich nach Kenntnis des Berichts über die Diagnose der Schlafapnoe anerkannt hat.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) nicht als gegeben angesehen.