Tatbestand

Die Klägerin begehrt einen Grad der Behinderung (GdB) von 100.

Bei der 1957 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28.03.2001 einen GdB von 60 und das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest.

Auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 19.02.2004 holte der Beklagte Befundberichte von dem Neurologen und Psychiater Dr. A. (Bericht vom 26.03.2004), von dem Orthopäden Dr. B. (Bericht vom 08.04.2004) und von dem Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. C. (Bericht vom 29.06.2004 mit weiteren ärztlichen Unterlagen) ein und stellte mit Bescheid vom 20.09.2004 den GdB seit 19.02.2004 mit 70 fest, wobei er eine chronische Magenschleimhautentzündung (Einzel-GdB10), eine arterielle Verschlusskrankheit beider Beine (Einzel-GdB 50), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und einen Bluthochdruck (Einzel-GdB jeweils 10) sowie eine chronische Bronchitis, eine Depression und eine Hauterkrankung (Einzel-GdB jeweils 20) berücksichtigte. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13.01.2005).

Dagegen erhob die Klägerin am 18.02.2005 Klage vor dem Sozialgericht Mannheim (SG) und machte geltend, der GdB müsse 100 betragen. Der Beklagte habe ihre Gehbeschwerden unzureichend gewürdigt. Nachdem die Klägerin auf Anfrage des SG mitgeteilt hatte, sie sei gegenwärtig nicht einkommensteuerpflichtig, wies das SG mit Gerichtsbescheid vom 08.09.2005 die Klage ab. Die Klage sei wegen des fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Denn die begehrte Feststellung verbessere die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung der Klägerin nicht, da sie nicht der Einkommensteuerpflicht unterliege und andere Vorteile rechtlicher oder wirtschaftlicher Art weder erkennbar noch geltend gemacht worden seien. Dass eine GdB-Erhöhung möglicherweise Vorteile bewirke, die im Zeitpunkt der Entscheidung noch nicht zu konkretisieren seien, reiche nicht aus.

Dagegen hat die Klägerin am 06.10.2005 Berufung eingelegt. Das SG habe das Rechtsschutzbedürfnis zu Unrecht verneint.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 08.09.2005 aufzuheben und den Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Mannheim zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Akten des SG und des Senats sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die form und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig. Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht vor.

Die Berufung der Klägerin ist auch begründet.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das LSG durch Urteil eine angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.

Das SG hat zu Unrecht das Rechtsschutzbedürfnis für die erhobene Klage verneint und sie deshalb, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, als unzulässig abgewiesen.

Das SG durfte nicht allein deshalb, weil die Klägerin derzeit nicht einkommenssteuerpflichtig ist, das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage verneinen. Ob im Hinblick auf die Regelung in § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB) IX, wonach die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den GdB - nach Zehnergraden abgestuft - festzustellen haben, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt, das Rechtsschutzbedürfnis überhaupt zu prüfen oder gar von der Klägerin dargelegt werden muss, wie das SG offensichtlich meint, kann dahingestellt bleiben. Das Rechtsschutzinteresse kann jedenfalls nur dann verneint werden, wenn unzweifelhaft ist, dass die begehrte Feststellung die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung der Klägerin nicht verbessern würde. Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden.

Abhängig von der Höhe des GdB können behinderte Menschen - neben unterschiedlich hohen Freibeträgen bei der Einkommensteuer - vielfältige Vorteile erhalten (so bei einem GdB von 100 z. B. einen - höheren - Freibetrag beim Wohngeld, § 13 Abs. 1 Nr. 1 Wohngeldgesetz (WoGG)), die für den Betroffenen und auch die Gerichte nicht immer ohne weiteres ersichtlich sind. Selbst wenn man bereits im Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer Klage auf Feststellung eines höheren GdB umfangreiche Ermittlungen - von Amts wegen - durchführen würde, könnte praktisch nie unzweifelhaft festgestellt werden, dass die begehrte Feststellung die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung nicht verbessern würde. Entgegen der Auffassung des SG genügt es daher für die Bejahung des Rechtsschutzbedürfnisses, dass mit der Höhe des GdB vielfältige Vorteile verbunden sind, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht zu konkretisieren sind (so auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005, Rdnr.16a vor § 51). Der Entscheidung des 8. Senats des LSG Baden-Württemberg vom 05.07.1999 (Az. L 8 SB 4422/98 = Breith. 1999, 187), auf die sich das SG für seine Auffassung beruft, folgt der erkennende Senat aus den angegebenen Gründen nicht. Diese Entscheidung ist auch, soweit ersichtlich, vereinzelt geblieben. Der 8. Senat hält an ihr nicht mehr fest.

Gegen die Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses spricht im vorliegenden Fall auch, dass die Klägerin jederzeit einkommensteuerpflichtig werden kann. Es ist ihr nicht zuzumuten, so lange abzuwarten und dann die Feststellung eines höheren GdB zu betreiben, wobei sie dann entweder den Nachweis einer wesentlichen Änderung seit der letzten Feststellung (§ 48 SGB X) oder den Nachweis der Unrichtigkeit der letzten Feststellung (§ 44 SGB X) führen müsste.

Nach § 159 Abs. 1 SGG hat das LSG unter den dort aufgeführten Voraussetzungen dieser Vorschrift unabhängig von einer Antragstellung (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO, Rdnr. 5 zu § 159) von Amts wegen nach seinem Ermessen zu befinden, ob es in der Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Dabei hat das LSG zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits und dem Verlust einer Instanz andererseits abzuwägen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO).

Der Senat kommt im vorliegenden Fall zum Ergebnis, dass eine Zurückverweisung an das SG angemessen ist. Zwar könnte der Senat die zur Entscheidung in der Sache notwendigen Ermittlungen selbst durchführen. Jedoch würde die Klägerin dadurch eine Gerichtsinstanz verlieren. Deshalb und weil die Klägerin selbst die Zurückverweisung beantragt hat, hat zunächst das SG die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und dann in der Sache zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten.