LSG B-W - L 6 SB 4102/05 - Urteil vom 16.03.2006
Eine auf Feststellung des Grades der Behinderung gerichtete Klage kann allenfalls dann wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses abgewiesen werden, wenn unzweifelhaft ist, dass die begehrte Feststellung die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung des Klägers nicht verbessern würde.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt einen Grad der Behinderung (GdB) von 100.
Bei der 1957 geborenen Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28.03.2001
einen GdB von 60 und das Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der
Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) fest.
Auf den Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 19.02.2004 holte der Beklagte
Befundberichte von dem Neurologen und Psychiater Dr. A. (Bericht vom
26.03.2004), von dem Orthopäden Dr. B. (Bericht vom 08.04.2004) und von dem
Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. C. (Bericht vom 29.06.2004 mit weiteren
ärztlichen Unterlagen) ein und stellte mit Bescheid vom 20.09.2004 den GdB seit
19.02.2004 mit 70 fest, wobei er eine chronische Magenschleimhautentzündung
(Einzel-GdB10), eine arterielle Verschlusskrankheit beider Beine (Einzel-GdB
50), eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule und einen Bluthochdruck
(Einzel-GdB jeweils 10) sowie eine chronische Bronchitis, eine Depression und
eine Hauterkrankung (Einzel-GdB jeweils 20) berücksichtigte. Der Widerspruch der
Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 13.01.2005).
Dagegen erhob die Klägerin am 18.02.2005 Klage vor dem Sozialgericht Mannheim
(SG) und machte geltend, der GdB müsse 100 betragen. Der Beklagte habe ihre
Gehbeschwerden unzureichend gewürdigt. Nachdem die Klägerin auf Anfrage des SG
mitgeteilt hatte, sie sei gegenwärtig nicht einkommensteuerpflichtig, wies das
SG mit Gerichtsbescheid vom 08.09.2005 die Klage ab. Die Klage sei wegen des
fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Denn die begehrte Feststellung
verbessere die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung der Klägerin nicht, da
sie nicht der Einkommensteuerpflicht unterliege und andere Vorteile rechtlicher
oder wirtschaftlicher Art weder erkennbar noch geltend gemacht worden seien.
Dass eine GdB-Erhöhung möglicherweise Vorteile bewirke, die im Zeitpunkt der
Entscheidung noch nicht zu konkretisieren seien, reiche nicht aus.
Dagegen hat die Klägerin am 06.10.2005 Berufung eingelegt. Das SG habe das
Rechtsschutzbedürfnis zu Unrecht verneint.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 08.09.2005 aufzuheben und den Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Mannheim zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der
Beteiligten wird auf die Akten des SG und des Senats sowie auf die
Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die form und fristgemäß eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig.
Berufungsausschließungsgründe nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) liegen nicht
vor.
Die Berufung der Klägerin ist auch begründet.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 1 SGG kann das LSG durch Urteil eine angefochtene
Entscheidung aufheben und die Sache an das SG zurückverweisen, wenn dieses die
Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache selbst zu entscheiden.
Das SG hat zu Unrecht das Rechtsschutzbedürfnis für die erhobene Klage verneint
und sie deshalb, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, als unzulässig
abgewiesen.
Das SG durfte nicht allein deshalb, weil die Klägerin derzeit nicht
einkommenssteuerpflichtig ist, das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage
verneinen. Ob im Hinblick auf die Regelung in § 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch (SGB)
IX, wonach die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen
Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und
den GdB - nach Zehnergraden abgestuft - festzustellen haben, wenn ein GdB von
wenigstens 20 vorliegt, das Rechtsschutzbedürfnis überhaupt zu prüfen oder gar
von der Klägerin dargelegt werden muss, wie das SG offensichtlich meint, kann
dahingestellt bleiben. Das Rechtsschutzinteresse kann jedenfalls nur dann
verneint werden, wenn unzweifelhaft ist, dass die begehrte Feststellung die
rechtliche oder wirtschaftliche Stellung der Klägerin nicht verbessern würde.
Hiervon kann jedoch nicht ausgegangen werden.
Abhängig von der Höhe des GdB können behinderte Menschen - neben unterschiedlich
hohen Freibeträgen bei der Einkommensteuer - vielfältige Vorteile erhalten (so
bei einem GdB von 100 z. B. einen - höheren - Freibetrag beim Wohngeld, § 13
Abs. 1 Nr. 1 Wohngeldgesetz (WoGG)), die für den Betroffenen und auch die
Gerichte nicht immer ohne weiteres ersichtlich sind. Selbst wenn man bereits im
Rahmen der Prüfung der Zulässigkeit einer Klage auf Feststellung eines höheren
GdB umfangreiche Ermittlungen - von Amts wegen - durchführen würde, könnte
praktisch nie unzweifelhaft festgestellt werden, dass die begehrte Feststellung
die rechtliche oder wirtschaftliche Stellung nicht verbessern würde. Entgegen
der Auffassung des SG genügt es daher für die Bejahung des
Rechtsschutzbedürfnisses, dass mit der Höhe des GdB vielfältige Vorteile
verbunden sind, die im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch nicht zu
konkretisieren sind (so auch Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl. 2005,
Rdnr.16a vor § 51). Der Entscheidung des 8. Senats des LSG Baden-Württemberg vom
05.07.1999 (Az. L 8 SB 4422/98 = Breith. 1999, 187), auf die sich das SG für
seine Auffassung beruft, folgt der erkennende Senat aus den angegebenen Gründen
nicht. Diese Entscheidung ist auch, soweit ersichtlich, vereinzelt geblieben.
Der 8. Senat hält an ihr nicht mehr fest.
Gegen die Verneinung des Rechtsschutzbedürfnisses spricht im vorliegenden Fall
auch, dass die Klägerin jederzeit einkommensteuerpflichtig werden kann. Es ist
ihr nicht zuzumuten, so lange abzuwarten und dann die Feststellung eines höheren
GdB zu betreiben, wobei sie dann entweder den Nachweis einer wesentlichen
Änderung seit der letzten Feststellung (§ 48 SGB X) oder den Nachweis der
Unrichtigkeit der letzten Feststellung (§ 44 SGB X) führen müsste.
Nach § 159 Abs. 1 SGG hat das LSG unter den dort aufgeführten Voraussetzungen
dieser Vorschrift unabhängig von einer Antragstellung (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer,
aaO, Rdnr. 5 zu § 159) von Amts wegen nach seinem Ermessen zu befinden, ob es in
der Sache selbst entscheiden oder zurückverweisen will. Dabei hat das LSG
zwischen den Interessen der Beteiligten an einer Sachentscheidung und dem
Grundsatz der Prozessökonomie einerseits und dem Verlust einer Instanz
andererseits abzuwägen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, aaO).
Der Senat kommt im vorliegenden Fall zum Ergebnis, dass eine Zurückverweisung an
das SG angemessen ist. Zwar könnte der Senat die zur Entscheidung in der Sache
notwendigen Ermittlungen selbst durchführen. Jedoch würde die Klägerin dadurch
eine Gerichtsinstanz verlieren. Deshalb und weil die Klägerin selbst die
Zurückverweisung beantragt hat, hat zunächst das SG die notwendigen Ermittlungen
durchzuführen und dann in der Sache zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung des SG vorbehalten.