Sächsisches Landessozialgericht - L 6 SB 55/04 - Urteil vom 25.05.2005
Das Institut der sog. Heilungsbewährung greift nicht immer. Die Statistiken, aus denen die üblichen Heilungsbewährungszeiten abgeleitet werden, haben nur Relevanz für das Erstrezidiv. Ist jedoch bereits ein Rezidiv aufgetreten, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass auch in Zukunft weitere Rezidive auftreten werden, signifikant höher, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handelt, bei der der Begriff der Heilungsbewährung fehl am Platze ist, erhöht sich von Rezidiv zu Rezidiv.
Tatbestand
Streitig ist noch, ob der GdB im Zeitraum vom 28.03.1997 - 30.04.2001 auf 50 heraufzusetzen ist, wie der Kläger meint, oder ob die Feststellungen des Beklagten, wonach der GdB vom 28.03.1997 bis zum 07.10.1997 (Bescheid vom 13.03.1997) 20 und vom 08.10.1997 bis zum 30.04.2001 (Bescheid vom 19.06.2000) 30 beträgt, zutreffend sind. Über die Zeit davor (GdB 80, Bescheid vom 24.09.2000) und danach (GdB 50, Bescheid vom 22.02.2002) besteht zwischen den Beteiligten kein Streit.
Bei dem Kläger traten im Februar 1984 Darmblutungen auf, histologisch wurde nach erfolgter Dickdarmteilresektion ein Adenokarzinom des Caecums gesichert. Ihm wurde daher vom Rat der Stadt L. mit Wirkung ab Februar 1984 ein Schwerbeschädigtenausweis der Stufe II + SB zuerkannt. Der am 13.04.1993 zum Beklagten gestellte Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz führte zur bescheidmäßigen Feststellung (Bescheid vom 11.10.1993) einer "Dickdarmerkrankung in Heilungsbewährung" als Behinderung im Sinne des Schwerbehindertengesetzes und zur Zuerkennung eines GdB von 50. Inzwischen war dem Kläger schon zum 2. mal ein Teil seines Dickdarms entfernt worden, diesmal wegen eines Sigma-Adenoms.
Der Schwerbehindertenausweis wurde zunächst nur mit einer Gültigkeitsdauer bis Februar 1997 ausgestellt. Vor Ablauf dieser Frist holte der Beklagte bei dem Internisten Dr. K. einen Befundbericht ein, in welchem einerseits Coloskopie und Tumormarker als unauffällig bezeichnet, andererseits aber auch Hinweise auf eine erhebliche Kachexie mit Schwindelgefühlen, Belastungsatemnot und Unruhezuständen gegeben wurden. Mit Schreiben vom 19.01.1997 hörte der Beklagte den Kläger daraufhin zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB von 50 auf 20 an. "Nach dem Ergebnis der ärztlichen Überprüfung" sei eine Heilungsbewährung eingetreten. Der Name des Arztes und der Inhalt des Befundberichtes wurden allerdings nicht mitgeteilt.
Nachdem der Kläger von der ihm angebotenen Möglichkeit zur Stellungnahme binnen Monatsfrist keinen Gebrauch gemacht hatte, änderte der Beklagte mit Bescheid vom 13.03.1997 die Bezeichnung der Behinderung in "Dickdarmteilresektion" ab und setzte den GdB auf 20 herab. Ein Rechtsbehelf gegen diese Entscheidung wurde nicht ergriffen.
Mit Schreiben vom 06.10.1999, eingegangen beim Beklagten am 08.10.1999, beantragte der Kläger eine Überprüfung der Entscheidung vom 13.03.1997. Der Beklagte behandelte diesen Antrag als Verschlimmerungsantrag und setzte mit Bescheid vom 19.06.2000 den GdB für die Zeit ab Abtragstellung, also ab dem 08.10.1999 auf 30 herauf. Der hiergegen eingelegte Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 07.06.2001), das anschließende Klageverfahren beim SG Dresden (Az: S 13 SB 86/01) endete in der mündlichen Verhandlung am 15.05.2002 damit, dass der Beklagte wegen eines zwischenzeitlichen weiteren Rezidivs mit Operation einen GdB von 50 mit Wirkung ab 01.05.2001 anerkannte und sich im Übrigen bereit erklärte, den Antrag des Klägers vom 08.10.1999 auch als Antrag nach § 44 SGB X zu verbescheiden.
Der Beklagte lehnte dann aber mit dem - streitgegenständlichen - Bescheid vom 23.07.2002 diesen Antrag, "den Bescheid vom 13.03.1997 zurückzunehmen" mit der Begründung ab, der eingeholte Befundbericht von Dr. K. habe keine Befunde ergeben, die für ein Rezidiv gesprochen hätten, daher sei der GdB von 20 ab 28.03.1997 und ein GdB von 30 wegen des reduzierten Körpergewichts ab 10/99 angemessen.
Auf die Klage zum SG Dresden hat dieses ein medizinisches Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. S, D ., eingeholt, in welchem die Auffassung vertreten wird, aufgrund des Stadiums T3-4 N0 Mx sei der GdB entsprechend den Anhaltspunkten schon nach der zweiten Operation im Jahre 1991 bis zum Ablauf der Heilungsbewährung auf 80 festzusetzen gewesen, desgleichen nach der dritten Operation im Jahre 2001. In der Zwischenzeit also in dem fraglichen Zeitraum 28.03.1997 - 30.04.2001 habe der GdB 50 betragen. Der Kläger leide nämlich an einem erblichen, genetisch bedingten Dickdarmkrebs (HNPCC = hereditary non polyposis colorectal cancer), was eine molekulargenetische Analyse gezeigt habe. Die Merkmalsträger hätten ein deutlich erhöhtes Krebsrisiko, auch für Erkrankungen anderer innerer Organe, daher seien hier die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 nur bedingt anzuwenden, und zwar insbesondere, was die Heilungsbewährung angehe. In dem streitigen Zeitraum habe der Kläger, der - für das Krankheitsbild typisch - eher zur Dissimulation tendiere, unter breiigen bis dünnflüssigen Stuhlentlehrungen 5-7 mal täglich gelitten, die er kaum habe kontrollieren können. Er habe deswegen ständig mit Beschmutzung der Unterwäsche und der Hose rechnen müssen und sei deswegen ständig mit Reinigungsmöglichkeiten beschäftigt und mit Ersatzhosen unterwegs gewesen. Dank der Abwesenheit anderer Personen in seiner Werkstatt habe er die Folgen solcher Entleerungen immer wieder diskret beseitigen können. Allerdings hätten auch Kundengespräche deswegen abgebrochen werden müssen. Auch psychisch sei der Kläger infolge des Wissens um die Neigung zu familiärem Darmkrebs und um das Risiko eigener weiterer Rückfälle überdurchschnittlich belastet gewesen. Gleichzeitig habe der berufliche Druck zur Aufrechterhaltung der Firma bestanden, die er 1990 gegründet und erst nach der dritten Operation dem Sohn habe übertragen können. Er habe deshalb die Probleme eher verdrängt und sich zum Durchhalten gezwungen.
Der Beklagte hat sich insoweit den gutachterlichen Einschätzungen angeschlossen, als er durch Bescheid vom 24.09.2003 während des Klageverfahrens den GdB für die (nicht streitgegenständliche) Zeitspanne 24.03.1993 - 27.03.1997 nachträglich von 50 auf 80 heraufsetzte, für den sich unmittelbar anschließende anschließenden Zeitraum vertrat er allerdings nach wie vor die Auffassung, dass der GdB 20 betragen habe. Eine psychische Belastung sei nicht auszuschließen, müsse aber unberücksichtigt bleiben, da sie nicht zur neurologischen bzw. medikamentösen Behandlung geführt habe. Dem Risiko der Wiedererkrankung könne bei der GdB-Einstufung nicht Rechnung getragen werden. Um eine ergänzende Stellungnahme gebeten, hat der Sachverständige ausgeführt, die Anhaltspunkte seien auf den Durchschnittsfall von Kolonkarzinomen und Operationsfolgen zugeschnitten. Bei dem Kläger liege aber eine Ausnahmesituation vor. Aufgrund des HNPCC seien die Krankheitsfolgen, die Risiken von Neuerkrankungen und die psychischen Belastungen erheblich stärker ausgeprägt als bei den üblichen Fällen von Dickdarmkrebs mit Teilentfernung des Darms.
Das SG hat die Klage daraufhin mit Gerichtsbescheid vom 12.08.2004 abgewiesen. Entgegen den gutachterlichen Ausführungen habe der GdB in dem streitigen Zeitraum 20 bzw. 30 betragen, denn von einer Minderung des Kräftezustandes habe bei einer Belastbarkeit bis zu 130 Watt (Ergometerkontrolle) und einem Gewicht von 70 kg bei einer Körpergröße von 179 cm nicht die Rede sein können. Psychische Begleiterscheinungen seien erst zu berücksichtigen, wenn sie zu einer Behandlung geführt hätten, wobei diese Behandlung auch eine Psychotherapie sein könne.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers. Es wird gerügt, dass das Sozialgericht sich über die wissenschaftlichen Ausführungen des Prof. Dr. S. hinweggesetzt habe.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
unter Aufhebung des Gerichtsbescheides vom 12.08.2004, Az.: S 7 SB 89/03, und des Bescheides vom 23.07.2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.02.2003 den Beklagten zu verpflichten, nach der Rechtsauffassung des Gerichts hinsichtlich der Rücknahme der Änderungsbescheide vom 13.03.1997 und vom 19.06.2000 ihm einen GdB von mindestens 50 für den Zeitraum 28.03.1997 - 30.04.2004 zuzuerkennen und entsprechend neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 12.09.2004 zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die beigezogene Schwerbehindertenakte des Beklagten verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist auch begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für den streitbefangenen Zeitraum. Eine Herabsetzung des GdB auf zunächst 20 und dann - ab dem 08.10.1997- 30 wegen "Heilungsbewährung" wird der besonderen Situation des Klägers nicht gerecht.
Der Begriff der Heilungsbewährung wurde erstmals 1965 in die Anhaltspunkte übernommen. Er geht zurück auf die Rechtsprechung des BSG zu wesentlichen Änderungen im Sinne des § 62 BVG bei Lungentuberkulosen. In seinem Urteil vom 22.05.1962 (BSGE 17, 63) hatte das BSG entschieden, wenn die Inaktivität einer Lungentuberkulose längere Zeit - etwa fünf Jahre - ohne Rückfälle andauere, könne die damit eingetretene klinische Heilung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse darstellen, die eine Rentenentziehung oder Herabsetzung rechtfertige. Dies bedeute im Umkehrschluss, dass während der Bewährungszeit die MdE höher zu beurteilen sei, als sie sich allein aus dem verbliebenen funktionellen Schaden ergebe. Die Grundsätze der Heilungsbewährung wurden in den jeweiligen Anhaltspunkten wiederholt modifiziert, wobei bei den jeweiligen Änderungen die Fortschritte der medizinischen Wissenschaft beachtet wurden. Dies hat unter anderem dazu geführt, dass das Abwarten einer Heilungsbewährung bei der Tuberkulose (vgl. dazu Jungblut, MEDSACH 1987, 156 ff.) wegen der Wirksamkeit der modernen Chemotherapie in aller Regel nicht mehr erforderlich ist. Auch bei Herzinfarkten (vgl. dazu Lorenz, MEDSACH 1997, 100 ff.) wird nach den Anhaltspunkten im Gegensatz zu früher im Regelfall die Berücksichtigung einer Heilungsbewährung nicht mehr als notwendig angesehen. Nach den derzeit gültigen AHP soll eine Heilungsbewährung bei einer Reihe von Erkrankungen abgewartet werden. Dazu zählen die Schizophrenie, die Alkoholkrankheit, die Drogenabhängigkeit, die multiple Sklerose, der Zustand nach Herz- und Nierentransplantation sowie die chronische Osteomyelitis. Im Vordergrund stehen jedoch nach wie vor die Krebserkrankungen. In diesem Zusammenhang wird von medizinischer Seite immer wieder darauf hingewiesen, dass pauschale Zeitspannen nicht den besonderen Umständen des Einzelfalls gerecht werden (vgl. dazu: Woitowitz MEDSACH 2001, 66 ff. mit Erwiderung von Triebig/Hoffmann a.a.O. S. 302 und Schlusswort a.a.O. S. 203).
In der Tat ist die "statistische" Festsetzung einer MdE oder eines GdB, also die Orientierung an "Überlebensraten" oder der statistischen Rezidivfreiheit nicht unproblematisch. Teilweise wurde daher schon - in Abweichung von AHP - eine jeweils im Einzelfall durch den Gutachter zu treffende Individualprognose hinsichtlich der Rückfallgefahr gefordert (vgl. Schimanski, Heilungsbewährung - eine wesentliche Änderung -, in Soz-Vers 1987, 121 ff.).
Bei der Anhebung des GdB/MdE-Grades unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung handelt es sich um ein mehr oder weniger pauschales Verfahren, in welchem - ohne gesonderte Anerkennung einer irgendwie diagnostizierten geistig-psychischen Behinderung ("Rezidivangst") - (vgl. Senat, Urteil vom 28.09.2004 - L 6 SB 7/03) der psychischen Ausnahmesituation, die bei bestimmten Diagnosen wie z.B. der Krebsdiagnose besteht, umfassend Rechung getragen werden soll (vgl. Sächsisches LSG 4. Senat, Urteil vom 20.10.1999 - L 4 SB 23/97; LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 23.05.2003 - L 2 U 259/02 -). Die Ungewissheit (vgl. BSG, Urteil vom 27.07.1978 - 9 RV 48/77 -) spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Solange die "Heilungsbewährung" noch nicht eingetreten ist, hängt das Damoklesschwert des Rezidivs über dem Betroffenen (vgl. BSG, Urteil vom 25.05.1988 - 9 9a RVs 8/87 -), dessen besonderer psychosozialer Belastung (LSG Baden-Würtemberg, Urteil vom 14.09.1994 - L 2 U 680/91 - Breith. 1995, 595) durch eine pauschale Regelung Rechnung getragen wird, die sich insbesondere am Gleichheitsgrundsatz orientiert (vgl. BSG, Beschluss vom 10.12.1987 - 9 a BVs 34/87 -). In diesem Zusammenhang geht es um die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors verbunden sind (vgl. BSG, Urteil vom 09.08.1995 - 9 RVs 14/94 -). Hierzu zählen die Dauertherapie, das Schmerzsyndrom mit Schmerzmittelabhängigkeit, eine notwendige Schonung, die Antriebsarmut, die Hoffnungslosigkeit und eventuelle soziale Anpassungsprobleme.
Die typische Situation, dass nach einer statistisch bemessenen Zeit des Abwartens die "Ungewissheit" doch zu einem Großteil als erledigt gilt, bestand bei dem Kläger in dem streitbefangenen Zeitraum nicht.
Während bei einem erstmaligen Fall der "fehlgeschlagenen Heilungsbewährung" (nach zunächst rezidivfreiem Ablauf der vorgesehenen 5 Jahre tritt doch noch ein Rezidiv auf) gleichwohl die Anwendung der starren Regeln - jedenfalls für die Vergangenheit - Sinn macht mit der Folge, dass eine Herabsetzung des GdB für die Zwischenzeit zwischen abgelaufener Heilungsbewährung und Rezidiv zu bestätigen wäre, liegt hier der Fall anders: Spätestens seit dem Rezidiv von 1991 wusste man um die Chronizität seines Leidens, wenn auch die Diagnose "erbliches Dickdarmkarzinomleiden (HNPCC)" noch nicht feststand. Schon a priori war es also ab jetzt nicht mehr angemessen, trotz des Rezidivs noch einmal von derselben Heilungsbewährung auszugehen, schließlich haben die Statistiken, aus denen die üblichen Heilungsbewährungszeiten abgeleitet werden, nur Relevanz für das Erstrezidiv. Ist jedoch bereits ein Rezidiv aufgetreten, ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass auch in Zukunft weitere Rezidive auftreten werden, signifikant höher oder, umgekehrt ausgedrückt, die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine unheilbare Krankheit handelt, bei der der Begriff der Heilungsbewährung ohnehin fehl am Platze ist, erhöht sich von Rezidiv zu Rezidiv. Ex post - mit Diagnosestellung "HNPCC" - wurde dann diese erhöhte Wahrscheinlichkeit quasi zur Gewissheit. Anders als in den Fällen, in denen die Beteiligten von der Natur, "die sich nicht an die Statistik hält" überrascht werden, also in den Fällen eines außerhalb des statistischen Korridors eintretenden Erstrezidivs war hier nicht erst mit der Diagnose "HNPCC" eine grundsätzlich andere Situation eingetreten. Man konnte von dem Kläger nicht mehr erwarten, dass er nach einer aus Statistiken, die nach einem Erstrezidiv keine Relevanz haben, ermittelten Zahl von Jahren seine "Rezidivangst" verliert, im Gegenteil, in seinem Fall war auch nach fünf Jahren noch keineswegs "die Gefahr gebannt" und schließlich nach Diagnosestellung musste man schon fast mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem weiteren Rezidiv rechnen. Das galt jedenfalls so lange, wie er noch Teile des erkrankten Dickdarms hatte, inzwischen spielen - mit Blick auf die Zukunft - eher bislang möglicherweise unentdeckte Metastasen die entscheidende Rolle, in der Zukunft (2006) mag daher durchaus wieder nach den allgemeinen Regeln über die Heilungsbewährung verfahren werden können.
Für den streitigen Zeitraum 28.03.1997 - 30.04.2001 ist allerdings die Herabsetzung des GdB auf 20 bzw. 30 aus mehreren Gründen unangemessen. Die Argumentation, die psychischen Auswirkungen seien zu vernachlässigen, weil sie eine psychiatrische Behandlung nicht erforderlich gemacht hätten, ist nicht systemgerecht. Die während der üblichen Heilungsbewährungszeit unterstellte psychische Beeinträchtigung wird auch nicht von einer psychiatrischen Behandlung (die ja übrigens nicht nur in solchen Fällen durchaus kontraproduktiv sein kann) abhängig gemacht, es wird nicht einmal eine entsprechende an AHP 2004 Pkt. 26.3 (S. 48) orientierte Diagnose verlangt, welche dann - zunächst je nach Auswirkung mit einem Einzel-GdB bewertet - entweder den Gesamt-GdB anhebt oder nicht, vielmehr grundsätzlich während des "Heilungsbewährung" genannten Schwebezustandes nach Art der Mindest-Vomhundertsätze bei Amputationen eine Pauschalregelung getroffen. Dieser "Schwebezustand" war bei dem Kläger im streitigen Zeitraum im Hinblick auf die noch zu erwartenden Verschlimmerungen etc. ununterbrochen gegeben, im Hinblick auf eine eventuelle Heilung vom Grundleiden bestand sogar anstatt eines Schwebezustandes eine Gewissheit im negativen Sinne. Bereits unabhängig von einer Gewichtung der Diagnose ist die Behinderung des Klägers im streitigen Zeitraum ungenügend gewürdigt. Auch bei einem völligen Ausfall des m. sphincter kommt es nicht zu kontinuierlichem Stuhlabgang, sondern immer dann, wenn eine entsprechende Darmaktivität vorhanden ist und dies muss nicht 5-7 mal am Tag sein, wie es beim Kläger der Fall war. Ein Funktionsverlust des Afterschließmuskels ist aber schon mit einem GdB von "mindestens 50" (AHP 2004, Pkt. 26.10 S. 81) zu bewerten, auch die völlige Harninkontinenz bedingt selbst bei guter Versorgungsmöglichkeit einen GdB von 50 (AHP 2004, Pkt.26.12, S. 91). Vor diesem Hintergrund ist der Vergleich der Behinderung des Klägers mit einem colon irritabile oder einer Divertikulose (AHP 2004, Pkt 26.10 S. 78 f.), wie vom Sozialgericht vorgenommen, nicht sachgerecht. Das vorrangige Abstellen auf den Kräfte- und Ernährungszustand berücksichtigt zu wenig die konkreten Auswirkungen der mehrfachen Dickdarmteilresektionen (funktionelle Inkontinenz aufgrund flüssiger Stühle). Legt man die Kriterien der AHP für die - in mancher Hinsicht vergleichbaren - Erkrankungen Colitis ulcerosa und morbus Crohn (AHP 2004 Pkt. 26.10) zugrunde, so fällt auf, dass auch hier nicht alleine bzw. entscheidend auf den Kräfte- und Ernährungszustand abgestellt wird, vielmehr ist hier bei "schweren Auswirkungen" ein GdB von 50-60 zu vergeben, wobei unter schweren Auswirkungen alternativ und nicht etwa kumulativ "anhaltende oder häufig rezidivierende erhebliche Beschwerden, erhebliche Beeinträchtigung(en) des Kräfte- und Ernährungszustandes, häufige, tägliche, auch nächtliche Durchfälle" zu verstehen sind. Es handelt sich insoweit um Regelbeispiele. Dass ein Einzel-GdB von 50 für Behinderungen auf diesem Gebiet nicht etwa nur bei Extremsituationen in Betracht kommt, ergibt sich auch aus AHP 2004, Pkt.26.10, S. 81: der anus praeter ist bereits bei guter Versorgungsmöglichkeit mit einem GdB von 50 zu bewerten. Schließlich muss auch berücksichtigt werden, dass eine so entscheidende plötzliche Verbesserung im Gesundheitszustand des Klägers, wie sie durch einen Sprung von unstreitig GdB 80 (Bescheid vom 24.09.2003) auf GdB 20 zum 28.03.1997 ausgedrückt würde, nicht beschrieben wurde. Es ist daher nicht richtig, wenn das SG allgemein ausführt, es sei für die Höhe des GdB am 28.03.1997 schlechthin "nicht relevant", wie hoch der GdB vorher war. Sicher sind Rechenoperationen insoweit nicht zielführend, auch ist in den Anhaltspunkten nicht bestimmt, dass nach Ablauf der Heilungsbewährung der GdB stets "um 30" oder um einen bestimmten Prozentsatz zu vermindern sei, aber hierbei darf nicht vergessen werden, dass auch ein während der Heilungsbewährung anzusetzender GdB keineswegs wegen der Pauschalisierung "willkürlich" und gewissermaßen ohne objektiven Aussagewert für den "eigentlichen" Grad der Behinderung ist. Bei allen GdB-Werten handelt es sich um Pauschalwerte, die gerade auch deswegen einer vergleichenden Betrachtung untereinander durchaus zugänglich sind.
Die mehrfach ausführlich begründete Einschätzung von Prof. Dr. S., wonach im streitigen Zeitraum ein GdB von 50 bestand, steht daher durchaus im Einklang mit den Anhaltspunkten.
Verfahrensrechtliche Gründe standen einer Prüfung in der Sache nicht entgegen, der Kläger hat in dem Vergleich vor dem SG am 15.05.2002 nicht etwa auf weitergehende Ansprüche verzichtet, vielmehr hat er ausdrücklich einen Überprüfungsantrag gestellt.
Die Berufung des Klägers war daher erfolgreich.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG, Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.