Thüringer Landessozialgericht - L 6 SF 368/12 B - Beschluss vom 05.07.2012
Die fiktive Terminsgebühr kommt in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in Betracht. Das LSG Thüringen gibt seine entgegenstehende frühere Rechtsprechung auf.
Gründe:
I.
In dem Verfahren Az.: S 28 AS 1429/10 ER beantragte die von dem Beschwerdeführer vertretene Antragstellerin am 3. März 2010 beim Sozialgericht Gotha, die Antragsgegnerin - eine ARGE SGB II - im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr einen Bescheid für die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu erteilen und Unterkunftskosten zu übernehmen sowie ihr Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren. Mit Beschluss vom 16. März 2010 gewährte das Sozialgericht der Antragstellerin PKH ab 12. März 2010 und ordnete den Beschwerdeführer bei. Mit Beschluss vom 23. März 2010 verpflichtete es die Antragsgegnerin, im Wege der einstweiligen Anordnung für den 3. bis 31. März 2010 weitere 70,33 Euro und für den Zeitraum 1. bis 30. April 2010 weitere 78,14 Euro als Zuschuss zu den ungedeckten Kosten der Unterkunft vorläufig zu bewilligen; im Übrigen wies es den Antrag ab. Die Antragsgegnerin habe der Antragstellerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
In seinem PKH - Kostenerstattungsantrag vom 12. April 2010 beantragte der Beschwerdeführer für das Antragsverfahren 559,30 Euro festzusetzen: Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV-RVG 250,00 Euro Terminsgebühr Nr. 3106 VV-RVG 200,00 Euro Post- und Telekommunikation Nr. 7002 VV-RVG 20,00 Euro Zwischensumme 470,00 Euro Mehrwertsteuer 89,30 Euro Gesamtbetrag 559,30 Euro
Unter dem 9. September 2010 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle (UKB) die Gebühren des Beschwerdeführers auf 341,53 Euro fest und führte aus, angemessen sei eine Verfahrensgebühr in Höhe von 2/3 der Mittelgebühr (167,00 Euro) und eine Terminsgebühr in Höhe der Hälfte der Mittelgebühr (100,00 Euro).
Am 21. September 2010 hat der Beschwerdeführer ohne Begründung Erinnerung eingelegt. Der Beschwerdegegner hat sich gegen sie gewandt und zur Begründung auf die Ausführungen der UKB verwiesen.
Das Sozialgericht hat die Erinnerung mit Beschluss vom 15. Februar 2012 zurückgewiesen und ausgeführt, insgesamt stünden dem Beschwerdeführer Gebühren in Höhe von 291,55 Euro zu; da der Beschwerdegegner keine Erinnerung eingelegt habe, gelte das Verschlechterungsverbot. Bei der Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VV-RVG sei zu berücksichtigen, dass die rechtliche Schwierigkeit leicht unterdurchschnittlich und die tatsächliche Schwierigkeit angesichts des unstreitigen Sachverhalts unterdurchschnittlich war. Mit zwei Schriftsätzen ohne Darlegung des geltend gemachten Anspruchs sei der Umfang der anwaltlichen Tätigkeit deutlich unterdurchschnittlich gewesen. Allenfalls durchschnittlich sei die Bedeutung der Angelegenheit für die Antragstellerin. Ein relevantes Haftungsrisiko sei nicht ersichtlich. Die fiktive Terminsgebühr sei mit der halben Mittelgebühr angemessen berücksichtigt. Nachdem der Beschwerdegegner selbst keine Erinnerung eingelegt habe, verbleibe es angesichts des Verschlechterungsverbots bei der Festsetzung der UKB.
Gegen den ihm am 23. Februar 2012 zugestellten Beschluss hat der Beschwerdeführer am 27. Februar 2012 ohne Begründung Beschwerde eingelegt.
Der Beschwerdeführer beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 15. Februar 2012 aufzuheben und seine Vergütung auf 559,30 Euro festzusetzen.
Der Erinnerungsgegner beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Zur Begründung verweist er auf den Beschluss der Vorinstanz.
Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen (Verfügung vom 21. Juni 2012) und sie dem Thüringer Landessozialgericht vorgelegt.
II.
Die Beschwerde gegen die Festsetzung der Rechtsanwaltsgebühren ist nach §§ 56 Abs. 2 S. 1, 33 Abs. 3 S. 1 des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes (RVG) statthaft (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Senatsbeschlüsse vom 15. März 2011 - Az.: L 6 SF 975/10 B, 25 Oktober 2010 - Az.: L 6 SF 652/10 B, 26. Januar 2009 - Az.: L 6 B 256/08 SF; 16. Januar 2009 - Az.: L 6 B 255/08 SF, 26. November 2008 - Az.: L 6 B 130/08 SF) und zulässig.
Die Beschwerde ist unbegründet.
Nach § 3 Abs. 1 S. 1 RVG entstehen in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, in denen das Gerichtskostengesetz (GKG) nicht anzuwenden ist, Betragsrahmengebühren, die dem im Wege der Prozesskostenhilfe beigeordneten Rechtsanwalt aus der Landeskasse zu erstatten sind (§ 45 Abs. 1 RVG). Den Antragstellern wurde PKH gewährt und sie waren kostenprivilegierte Beteiligte i.S.d. § 183 S. 1 SGG. Dann scheidet die Anwendung des GKG aus (§ 197a Abs. 1 S. 1 SGG). Die Höhe der Vergütung errechnet sich nach dem Vergütungsverzeichnis (VV) der Anlage 1 zum RVG. Die Höhe der Rahmengebühr bestimmt der Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 1 RVG im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen (Satz 1); bei Rahmengebühren ist das Haftungsrisiko zu berücksichtigen (Satz 3). Ist die Gebühr von einem Dritten zu ersetzen, ist die von dem Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist (Satz 4), wobei ihm nach herrschender Meinung ein Spielraum (sogenannte Toleranzgrenze) von 20 v.H. zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2009 - Az.: B 4 AS 21/09 R m.w.N., nach juris; ständige Senatsrechtsprechung, vgl. u.a. Beschlüsse vom 17. Dezember 2010 - Az.: L 6 SF 808/10 B, 26. November 2008 - Az.: L 6 B 130/08 SF, 19. Juni 2007 - Az.: L 6 B 80/07 SF, 14. März 2001 - Az.: L 6 B 3/01 SF). Unbilligkeit liegt vor, wenn der Rechtsanwalt die Kriterien des § 14 Abs. 1 S. 1 RVG unter Beachtung seines Beurteilungsspielraums objektiv nicht hinreichend beachtet (vgl. Senatsbeschluss vom 17. Dezember 2010 - Az.: L 6 SF 808/10 B); dann erfolgt eine Festsetzung nur in Höhe der angemessenen Gebühren.
Dies hat die Vorinstanz zu Recht getan. Hinsichtlich der Verfahrensgebühr Nr. 3102 VV-RVG verweist der Senat nach § 142 Abs. 2 S. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf ihre zutreffenden Ausführungen. Nachdem der Beschwerdeführer seine Beschwerde nicht begründet hat, sind weitergehende Ausführungen nicht erforderlich.
Kein Anspruch bestand allerdings auf die zuerkannte fiktive Terminsgebühr. Sie kommt in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht in Betracht. Im Beschluss vom 6. Februar 2012 - Az.: L 6 SF 1502/11 B hat der Senat hierzu wie folgt ausgeführt: " Der Senat stimmt der Vorinstanz zu, dass eine fiktive Terminsgebühr in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht anzusetzen ist und gibt seine entgegenstehende Rechtsprechung (vgl. Senatsbeschluss vom 26. November 2008 - Az.: L 6 B 130/08 SF) auf. Nach Nr. 3106 VV-RVG entsteht eine Terminsgebühr in Verfahren vor den Sozialgerichten mit mündlicher Verhandlung; sie entsteht auch dann, wenn 1. in einem Verfahren, für das mündliche Verhandlung vorgeschrieben ist, im Einverständnis mit den Parteien ohne mündliche Verhandlung entschieden wird, 2. nach § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wird oder 3. das Verfahren nach angenommenem Anerkenntnis ohne mündliche Verhandlung endet. Der Wortlaut des allein relevanten Nr. 3106 Nr. 3 VV-RVG enthält keine klare Regelung, ob er sich nur auf Verfahren mit vorgeschriebener mündlicher Verhandlung bezieht, denn "Verfahren" könnte durchaus Eilverfahren beinhalten, bei denen eine mündliche Verhandlung nicht zwingend vorgeschrieben ist (vgl. §§ 124 Abs. 3, 86b Abs. 4 SGG). Aus der Tatsache, dass im Gegensatz zu Nr. 1 bei Nr. 3 eine Einschränkung auf die mündliche Verhandlung fehlt, wird teilweise geschlossen, dass auch im Eilverfahren die Terminsgebühr entstehen kann (so Müller-Rabe in Gerold/Schmidt, RVG, 19. Auflage 2010, 3106 VV Rdnr. 6). Allerdings erklärt dies nicht den Zusatz in Nr. 3 ("ohne mündliche Verhandlung endet"); er wäre dann überflüssig (vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG; Beschluss vom 10. September 2009 - Az.: L 1 B 158/09 SK E, nach juris). Die systematische Auslegung spricht gegen die Anerkennung der Terminsgebühr. Sowohl bei Nr. 1 als auch bei Nr. 2 sind grundsätzlich mündliche Verhandlungen vorgeschrieben, auf die aber ausnahmsweise verzichtet wird. Nr. 3 ist mit ihnen durch das Wort "oder" verbunden. Dies spricht dafür, dass auch hier grundsätzlich eine mündliche Verhandlung erforderlich ist, was bei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, die mit Beschluss entschieden werden, aber nicht der Fall ist (so zu Recht Schleswig-Holsteinisches LSG; Beschluss vom 10. September 2009 - Az.: L 1 B 158/09 SK E, nach juris). Gegen die fiktive Terminsgebühr im Eilverfahren spricht auch die Gesetzesbegründung zu Nr. 3104 VV-RVG (BT-Drucks. 15/1971 S. 212), in der die Terminsgebühr geregelt ist, soweit nichts anderes in Nr. 3106 VV-RVG geregelt ist. Danach wurde der Fall des § 153 Abs. 4 SGG (Zurückweisung der Berufung durch Beschluss, wenn eine mündliche Verhandlung nicht erforderlich ist) bewusst nicht bei Nr. 3104 Nr. 2 VV-RVG (Gebühr entsteht auch, wenn durch Gerichtsbescheid entschieden wurde) aufgenommen, weil die Notwendigkeit einer besonderen Terminsgebühr mangels besonderem Aufwand des Anwalts und weil die Parteien eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht verhindern könnten nicht ersichtlich sei. Damit beabsichtigte der Gesetzgeber zum einen, den Anwälten für eine eigentlich erwartete, aber ausgefallene Verhandlung eine Terminsgebühr zuzuerkennen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. September 2007 - Az.: VI ZB 53/06, nach juris), zum andern ihre Bereitschaft zu fördern, dem Gericht durch ihr Verhalten Verhandlungen zu ersparen (vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG; Beschluss vom 10. September 2009 - Az.: L 1 B 158/09 SK E, nach juris). Dies gilt auch im sozialgerichtlichen Eilverfahren (vgl. VG Bremen, Beschluss vom 20. April 2009 - Az.: S 4 E 518/09, nach juris); auch hier entsteht den Anwälten kein besonderer Aufwand und sie können eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht verhindern. Gegen diese Auslegung kann auch nicht die Vorbemerkung 3 Abs. 3 VV-RVG herangezogen werden (so aber OLG München, Beschluss vom 25. März 2011 - Az.: 11 W 249/11, nach juris). Nach ihr entsteht die Terminsgebühr für die Vertretung in einem Verhandlungs-, Erörterungs- oder Beweisaufnahmetermin oder die Wahrnehmung eines von einem gerichtlich bestellten Sachverständigen anberaumten Termins oder die Mitwirkung an auf die Vermeidung oder Erledigung des Verfahrens gerichteten Besprechungen auch ohne Beteiligung des Gerichts. Diese scheinbar schrankenlose Formulierung bedarf einer am Gesetzeszweck orientierten einschränkenden Auslegung (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 11. Januar 2012 - Az.: 12 OA 303/11, OVG Münster, Beschluss vom 26. August 2011 - Az.: 4 E 760/11, beide nach juris). Mit der Terminsgebühr sollten dem Rechtsanwalt die Bemühungen um die Erledigung der Sache honoriert und den Verfahrensbeteiligten sowie dem Gericht unnötige Erörterungen in einem Gerichtstermin allein im Gebühreninteresse erspart bleiben (BT-Drucksache 15/1971, S. 209). Daran fehlt es in Eilverfahren, in denen im Allgemeinen ohne Verhandlung oder Erörterung durch Beschluss entschieden wird."
An dieser Ansicht wird festgehalten. Damit erübrigen sich weitere Ausführungen zur Höhe der fiktiven Gebühr. Nach dem Grundsatz der reformatio in peius (sog. Verschlechterungsverbot) kommt eine Gebührenkürzung hier nicht in Betracht.
Die Beschwerde ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 56 Abs. 2 S 2 und 3 RVG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§§ 56 Abs. 2, 33 Abs. 4 S. 3 RVG).