Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 6 VG 12/08 - Urteil vom 09.09.2008
Ein minderjähriges Opfer einer Gewalttat muss sich die Folgen einer nicht rechtzeitigen Antragstellung dann nicht zurechnen lassen, wenn der gesetzliche Vertreter selber der Täter ist oder wenn er sich in einem tatbezogenen Interessenkonflikt befunden hat, ob er sich für den Täter (Schutz vor Strafverfolgung) oder für das Opfer (Antragstellung nach dem OEG) entscheidet. Ein solcher Interessenkonflikt besteht auch dann, wenn der Täter bereits ermittelt, geständig und rechtskräftig verurteilt worden ist und der sorgeberechtigte Elternteil irrational das beabsichtigte spätere familienhafte Zusammenleben nach der Entlassung aus der Strafhaft durch finanzielle Belastungen des von der Versorgungsverwaltung in Anspruch genommenen Täters gefährdet oder belastet sieht.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über den Beginn von Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) i.V.m. mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der am 00.00.1998 geborene Kläger wurde am 22.09.1998 als Säugling von seinem Vater B schwer geschädigt, als dieser versuchte, ihn zu ersticken, indem er ihn in einen großen blauen Müllsack legte, diesen dann fest zuknotete und ihn im Kinderwagen unter anderen Bettsachen versteckte. Als der Kläger gefunden wurde, war er bereits klinisch tot; er konnte in der Folgezeit wiederbelebt werden. Beim Kläger entstand als gesundheitliche Schädigung ein hypoxischer Hirnschaden, eine linksbetonte Spastik, geistige Behinderung sowie Blasen- und Darminkontinenz. Das Landgericht (LG) Köln verurteilte den B mit Urteil vom 24.03.1999 (BGH, Beschluss vom 19.11.1999, 2 StR 383/99) wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten. Auf die beigezogenen Strafakten mit der Geschäfts-Nr. 000 und insbesondere die Darlegungen in dem Urteil vom 24.03.1999 wird Bezug genommen.
Vor der Tat lebte der Kläger seit Anfang Juli 1998 mit seiner Mutter O C und dem Vater in einer gemeinsamen Wohnung. Wegen erheblicher Spannungen in der Beziehung war O C Anfang September 1998 zurück zu ihrer Mutter in die elterliche Wohnung gezogen. In der Folgezeit trafen sich O C und der B noch einige Male in der alten und auch in ihrer neuen Wohnung.
Nach der Gewalttat vom 22.09.1998 besuchte die Mutter des Klägers den B beginnend ab dem 22.04.1999 während der Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) L und machte von der Besuchsmöglichkeit anschließend regen Gebrauch. B wurde in der Folgezeit zum Langzeitbesuch (Zeitraum von drei Stunden unkontrolliert) mit O C in den JVA B und H zugelassen. In den Unterlagen der JVA H wird O C als Verlobte des B geführt. In dem Bericht des Psychologen der JVA H vom 24.10.2001 heißt es: "B erhält regelmäßig Besuch von seiner Verlobten und dem gemeinsamen Kind. Auch die Möglichkeit des Langzeitbesuchs und alle weiteren Besuchsmöglichkeiten werden regelmäßig wahrgenommen und darüber hinaus schreibt man täglich Briefe. Die Beziehung zur Verlobten wird als sehr intensiv beschrieben. Trotz der großen Entfernung, die Verlobte lebt in H, tausche man sich offener und vertrauensvoller aus, als man es früher konnte und habe so das Gefühl, sich sehr nahe zu sein." Weiter heißt es: "Nach der Haftentlassung plant B, zu seiner Verlobten nach H zu ziehen und später zu heiraten." B wurde am 10.04.2004 erstmals zu O C und dem Kläger nach H ausgeführt. Im Rahmen eines am 02.09.2004 stattgefundenen Langzeitbesuchs beendete O C die Beziehung zu B. Im Einzelnen wird auf die Schreiben der JVA B vom 10.04.2007 und vom 30.11.2007 nebst zu den Akten genommenen Anlagen Bezug genommen.
O C beantragte am 23.02.2000 bei der AOK - Pflegekasse - Pflegegeld nach dem Sozialgesetzbuch, Elftes Buch (SGB XI). Nach Untersuchung durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Nordrhein (MdK) am 17.05.2000 bewilligte die Pflegekasse dem Kläger ab 01.03.2000 Pflegegeld nach Pflegestufe I. Am 18.09.2001 beantragte O C für ihren Sohn die Feststellung einer Behinderung nach dem Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX). Das Versorgungsamt L stellte mit Bescheid vom 07.11.2001 den Grad der Behinderung (GdB) mit 70 und die Merkzeichen G und B fest.
Auf eindringliche Zurede der Versorgungsverwaltung beantragte O C am 20.09.2004 für ihren Sohn auch Versorgung nach dem OEG. Hierzu heißt es in einer im Aktendeckel eingehefteten, nicht unterzeichneten und undatierten Aktennotiz: "Die Antragstellung nach dem OEG erfolgte auf Anregung der SchwebR Gruppe. Mir hat Frau B in einem Telefongespräch erklärt, dass sie zwar im Strafverfahren vom Richter aufgeklärt wurde, dass Ansprüche nach dem OEG bestehen, sie aber keinen Antrag stellen wollte - aus Rücksicht auf Täter? - (vgl. auch Aktenvermerk von Frau H vom 06.11.2006). Das Versorgungsamt wertete die Strafakten aus und zog die Pflegegutachten sowie die bisherigen Krankenunterlagen bei. In der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin für Nervenheilkunde Dr. T wird als Befund eine Cerebralparese mit spastisch athetotischer und ataktischer Komponente, ein Streckdefizit der Arme, Artikulationsstörung, Harn- und Stuhlinkontinenz beschrieben und abweichend von den Feststellungen im Schwerbehindertenverfahren eine MdE (jetzt Grad der Schädigung - GdS -) von 100 vorgeschlagen. Entsprechend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 05.07.2006 die Schädigungsfolgen und auch die MdE ab 01.09.2004 (Antragsmonat) mit 100 fest.
Gegen diesen Bescheid legte der Kläger durch seine Mutter am 04.08.2006 Widerspruch mit dem Ziel ein, ihm die Versorgung ab September 1998 zu zahlen. Zur Begründung bezog er sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und auf ein Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 13.11.2003, Az.: L 7 (5) VG 22/02 und führte aus, dass O C sich in einer Konfliktsituation zwischen dem geschädigten Kind und dem Täter befunden habe. O C habe unmittelbar nach Abschluss der Heilbehandlung und der Reha-Maßnahmen Kontakt mit dem Vater aufgenommen. Ab Dezember 1998 habe sie ihm in die U-Haft geschrieben und nach der Verurteilung den Kontakt zu B intensiviert. An den zulässigen Besuchstagen, dreimal monatlich, habe O C den B in der JVA L, B und später auch in H besucht. Hierhin sei sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln angereist. Gegenüber dem Gefängnispsychologen habe O C Aussagen gemacht, die letztlich dazu beitrugen, dass der Täter Langzeitbesuche empfangen durfte. Ab August 1999 sei es bereits zu intimen Kontakten (im Sinne von Küssen) und ab Mai/Juni 2000 auch zu sexuellen Kontakten gekommen. Im Frühjahr 2000 habe sich O C in der JVA mit dem B verlobt.
Die Bezirksregierung Münster wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2006 zurück. Es seien keine objektiven Gründe zu erkennen, die den Kläger gehindert hätten, durch seine Mutter einen früheren Antrag zu stellen.
Der Kläger hat am 15.12.2006 beim Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben und im Wesentlichen vorgetragen, dass sich seine Mutter trotz der schweren Straftat zu seinem Nachteil gefühlsmäßig nicht von B habe lösen können. Die Beziehung sei vielmehr intensiviert worden und habe sogar zur Verlobung geführt. Für seine Mutter habe sich eine Konfliktsituation zwischen ihm und dem Täter ergeben. Es könne ihm daher nicht zugerechnet werden, dass die Antragstellung erst im September 2004 und nicht kurzfristig nach dem versuchten Totschlag erfolgt sei.
Das Sozialgericht (SG) hat beim Landgericht Köln die bereits bezeichneten Straf- sowie die Strafvollstreckungsakten und beim Versorgungsamt L die Schwerbehindertenakten beigezogen.
In der mündlichen Verhandlung vom 21.04.2008 hat es die Mutter des Klägers, O C, persönlich angehört. Diese hat ausführlich die Beziehungen zu B während der Haftzeit beschrieben. Schon bei den ersten Besuchen seien neben den Gefühlen für das entsetzliche Geschehene starke Liebesgefühle aufgekommen. Sie habe den B immer noch geliebt und gehofft, mit ihm in einer Familie zusammen leben zu können. Auch habe sie gemeint, er könne dadurch einen Teil des Schadens wieder gut machen, dass er dem Kind als Vater zur Verfügung stehe. Etwa ab April 2004 habe sie sich immer intensiver mit dem Geschehenen befasst und habe damit angefangen, aufzuwachen. Getrennt habe sie sich von B dann am 02.09.2004. Einen Antrag nach dem OEG habe sie trotz des frühen Hinweises durch den Strafrichter nicht gestellt, weil sie finanzielle Nachteile für B befürchtet habe. Schon im Jahr 1999 habe die Krankenkasse die Kostenübernahme für Behandlungen verweigert; sie möge sich an den Schädiger wenden. Hier habe sie erfahren, dass ein Schädiger zu Ersatzleistungen herangezogen werden könne. Sie habe weitere Belastungen des B, den sie ja noch liebte, vermeiden wollen. Sie habe auch geglaubt, dass eine Antragstellung nach dem OEG die vorgesehene Familie belasten würde. Sie sei dermaßen verblendet gewesen, weil sie sich ein familiäres Zusammenleben mit dem B gewünscht habe. Hinsichtlich des weiteren Inhalts der Erklärungen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Das SG hat der Klage mit Urteil vom 21.04.2008 (berichtigt im Tenor durch Beschluss vom 28.04.2008) stattgegeben und die angefochtenen Bescheide geändert. Es hat den Beklagten zur Gewährung der Versorgungsleistungen an den Kläger bereits ab dem Schädigungsmonat verurteilt. Der minderjährige Kläger sei ohne sein Verschulden an einer frühzeitigeren Antragstellung im Sinne von § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG gehindert gewesen. Das pflichtwidrige Verhalten seiner Mutter sei ihm nicht zuzurechnen. Das Grundsatzurteil des BSG vom 28.04.2005 sei auf die vorliegende Fallkonstellation übertragbar, auch wenn anders als in der dortigen Fallgestaltung, der Täter bereits ermittelt, geständig und rechtskräftig verurteilt worden sei. Den Ausführungen des BSG sei nicht zu entnehmen, dass nur in den Fällen der dort entschiedenen Art das pflichtwidrige Unterlassen der Antragstellung dem Vertretenen ausnahmsweise nicht zuzurechnen sei. Vielmehr sei tatbezogenes und täterbezogenes Versagen des gesetzlichen Vertreters beachtlich. Die Grundsätze des BSG müssten auch gelten, wenn der sorgeberechtigte Elternteil - hier die Mutter des Klägers - das von ihr beabsichtigte spätere familienhafte Zusammenleben nach der Entlassung aus der Strafhaft durch finanzielle Belastungen des von der Versorgungsverwaltung in Anspruch genommenen Täters gefährdet oder belastet sähe. Insoweit läge zumindest subjektiv eine täterbezogene Konfliktsituation der emotional vom Kläger hochgradig und auf irrationale Weise abhängigen Kindesmutter vor, die sich der schwerstbeschädigte und selber handlungsunfähige Kläger nicht zurechnen lassen müsse. O C habe um die Schwere und Grausamkeit der Tat ihres früheren Lebensgefährten gewusst und sei diesem zu Lasten des Kindes weiterhin in einem Maße verbunden geblieben, welches rational nicht erklärbar sei. Dies sei dem Kind nicht zuzurechnen. Der Kläger habe danach bereits ab September 1998 Anspruch auf Versorgungsrente nach einem GdS von 100, der auch in der versorgungsärztlichen Stellungnahme der Ärztin für Nervenheilkunde Dr. T vom 07.06.2006 in dieser Höhe vorgeschlagen worden sei. Diese zeitliche Rückwirkung gelte schließlich auch für die mit Bescheid vom 03.01.2007 festgestellten weiteren Versorgungsleistungen (Kleiderverschleißpauschale, Pflegzulage nach Stufe V, Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe VI und Ausgleichsrente), denn dieser Bescheid sei nach § 96 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden.
Der Beklagte hat gegen das ihm am 28.04.2008 zugestellte Urteil am 19.05.2008 Berufung eingelegt. Grundsätzlich müsse sich auch ein minderjähriges Opfer die Folgen einer nicht rechtzeitigen Antragstellung zurechnen lassen. Davon habe das BSG lediglich in zwei Fällen eine Ausnahme gemacht. In dem einen Fall (BSG, Urteil vom 23.10.1985, 9 a RVg 4/83) habe der Vater für das Kind keinen Versorgungsantrag gestellt, weil er sich als Täter nicht selbst habe bloß stellen wollen. In dem späteren Fall (BSG-Urteil vom 28.04.2005, B 9a/9 VG 1/04 R) habe die Mutter den Versorgungsantrag für das minderjährige Kind nicht gestellt, weil sie von der Unschuld ihres des sexuellen Missbrauchs beschuldigten Ehemannes überzeugt gewesen sei. Danach müsse sich der gesetzliche Vertreter in einem tatbezogenen Interessenkonflikt befunden haben, in dem er sich für den Täter (Schutz vor Strafverfolgung) oder für das Opfer (Antragstellung nach dem OEG) zu entscheiden habe. Die Aussage des BSG sei im Kontext mit der Mitwirkung des Sorgeberechtigten an der vollständigen Aufdeckung des Tatgeschehens zu sehen. Die Klägerin habe sich zu keiner Zeit in einer tat- und täterbezogenen Konfliktsituation befunden. Sie habe vielmehr aus Liebe zum Täter auf eine Antragstellung für das Kind verzichtet, obwohl der Täter die Mutter nicht von einer Antragstellung abgehalten habe. Mit der vom BSG geforderten Tatbezogenheit habe das nichts zu tun. An die Ausnahmeregelung seien auch deshalb strenge Anforderungen zu stellen, weil die Kostenfolgen immens sein können.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.04.2008 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 28.04.2008 zu ändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach dem Schutzzweck des OEG könne es für den Anspruch nicht darauf ankommen, aus welchen Eigeninteressen der gesetzliche Vertreter den Antrag nicht stelle. Es dürfe keine Rolle spielen, worauf die Konfliktlage des gesetzlichen Vertreters letztlich beruhe. Für das Gewaltopfer mache es keinen Unterschied, aus welcher Art inneren Konfliktes sein gesetzlicher Vertreter den Antrag letztlich nicht stelle.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, der beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten (B-Akten I und II), der beigezogenen Schweb-Akten, der beim Landgericht Köln geführten Strafakten mit der Geschäfts-Nr. 000 sowie auf die auszugsweise durch die AOK H - Pflegekasse - übersandten Vorgänge über die Bewilligung des Pflegegeldes Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung des Beklagten ist nicht begründet.
Die Sachurteilsvoraussetzungen liegen vor. Richtiger Beklagter ist im Berufungsverfahren seit dem 01.01.2008 der für die Klägerin örtlich zuständige Landschaftsverband Rheinland (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Urteil des erkennenden Senats vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06 - Rev. Az.: B 9 SB 1/08 R, Urteil vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05 - Rev. Az.: B 9 SB 3/08 R, Urteil vom 11.03.2008, L 6 V 28/07 - rechtskräftig; Urteil vom 11.03.2008, L 6 (10) VS 29/07 - Rev. Az.: B 9 Vs 1/08 R; alle Entscheidungen sind im Internet unter www.sozialgerichtsbarkeit.de abrufbar).
Das SG hat zu Recht die angefochtenen Bescheide des Beklagten aufgehoben und diesen verurteilt, dem Kläger nach Maßgabe des § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG Versorgung nach dem OEG i.V.m. dem BVG bereits ab September 1998 zu zahlen. Dem im Zeitpunkt der Gewalttat erst drei Monate alten Kläger ist weder eigenes Verschulden noch das pflichtwidrige Verhalten seiner allein sorgeberechtigten Mutter im Hinblick auf die verspätete Antragstellung zuzurechnen. Dementsprechend verlängert sich die in § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG genannte Frist von einem Jahr nach Satz 2 dieser Vorschrift um den Zeitraum der Verhinderung.
Das SG hat die vom BSG in der Entscheidung vom 28.04.2005 aufgestellten Grundsätze beachtet und auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt übertragen. Es hat richtigerweise darauf abgestellt, in welcher Konfliktsituation sich O C - nur darauf kann es ankommen - aufgrund ihrer individuellen Gegebenheiten befand. Auf welchem Sachverhalt die Konfliktlage letztlich beruhte, hat das SG, anders als der Beklagte meint, zu Recht nicht als erheblich angesehen. Die von dem Beklagten mit der Berufung angenommene Konfliktlage, nämlich einerseits "Schutz des Täters vor Strafverfolgung" und andererseits "Antragstellung für das Opfer nach dem OEG" war zwar Gegenstand des vom BSG zu entscheidenden Sachverhalts; dass das BSG die Ausnahmeregelung auf Fälle dieser Art beschränkt wollte, entnimmt der Senat dieser Entscheidung nicht. So führt das BSG auch aus "dies ist insbesondere anzunehmen, wenn ...". Das Gewicht der Entscheidung des BSG liegt danach nicht in der Umschreibung und Festlegung der Art der Konfliktlage, sondern im Bestehen einer Konfliktsituation, die zu Lasten des geschädigten Kindes gelöst wird. Diese kann wie in dem vom BSG entschiedenen Fall tat- und täterbezogen sein. Die Konfliktlage kann auch bestehen, wenn der gesetzliche Vertreter den eigenen Interessen - so ausdrücklich BSG - den Vorrang einräumt und damit bei der Erfüllung des auch grundgesetzlich statuierten Auftrags (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG), für das Kind zu sorgen, gescheitert ist.
Ohne Zweifel befand sich die Klägerin bis zu ihrer Trennung von B im April 2004 in einem ganz erheblichen täterbezogenen Konflikt, in dem sie das Interesse an der Aufrechterhaltung der Liebesbeziehung zu dem B über das Wohl des Klägers gestellt hat und unter Leugnung der schweren Schuld des B sogar beabsichtigte, mit diesem nach der Haftentlassung ein normales Familienleben zu führen. Die Feststellungen in dem Bericht des Psychologen aus der JVA in H vom 24.10.2001, dem Bericht des Dipl. Psychologen Q vom 29.03.2004 für die JVA B (Gespräch mit dem B, mit O C und dem Kläger) und die glaubhaften Erklärungen der O C in der mündlichen Verhandlung vor dem SG verdeutlichen, dass die Beziehungen jedenfalls ab Frühjahr 1999 zwischen O C und B noch oder wieder eng verflochten waren. Es liegt damit genau die vom BSG angesprochene Situation vor, dass die Antragstellung nach dem OEG und der aus Sicht der O C zu erwartende Regress gegen den B zu einem Bruch oder einer erheblichen Belastung der der O C wichtigen Beziehung zu dem straffällig gewordenen Familienangehörigen (hier dem Vater des Klägers) führen könnte. Das SG hat zutreffend das irrationale Verhalten der beratungsresistenten Mutter und deren innere Konfliktsituation und Befangenheit dargestellt und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass O C ihren Interessen den Vorrang eingeräumt hat und zwangsläufig bei der Erfüllung ihres Auftrages zur Sorge für das Kindeswohl (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) zu Lasten des Kindes gescheitert ist. Dem Kläger als handlungsunfähigem und schwerstbeschädigtem Gewaltopfer ist ein solches Versagen der allein sorgeberechtigten Mutter im Rahmen des § 60 Abs. 1 BVG nicht als Verschulden anzulasten. Der Senat schließt sich der überzeugende Argumentation des SG an und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).
Hiernach braucht der Senat nicht mehr zu prüfen, ob es sich unter dem Gesichtspunkt des sozialrechtlichen Herstellungsanspruch für die AOK - Krankenkasse - (im Jahr 1999) und die AOK - Pflegekasse - (im Jahr 2000, vgl. insoweit die konkreten Angaben zur Gewalttat in dem Pflegegutachten vom 17.05.2000), aber insbesondere auch für die Versorgungsverwaltung im September 2001 und nicht erst im Jahr 2004 hätte aufdrängen müssen, die Mutter des Klägers dazu anzuhalten, zu Gunsten des Klägers einen entsprechenden Antrag nach dem OEG zu stellen. Obwohl die irrational handelnde Klägerin sich gegenüber allgemeinen Ratschlägen als beratungsresistent gezeigt hat, ist durchaus denkbar, dass ihr bei ganz konkreter Beratung und Betreuung die Augen geöffnet worden wären und sie sich einsichtig gezeigt hätte. Bei dem offensichtlichen Versagen der Mutter zu Lasten des geschädigten Kindes hätte auch das Jugendamt eingeschaltet werden müssen. Der Senat sieht insoweit klare Versäumnisse der vorbezeichneten Sozialleistungsträger, die sich der Beklagte möglicherweise zurechnen lassen muss. Hierauf kommt es vorliegend allerdings nicht mehr an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision als gegeben angesehen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).