Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen Az.: - L 7 SB 104/02 – Urteil vom 25.09.2003.

 

Bei der Bezeichnung der Behinderungen ist ein Tinnitus nicht dem Funktionsbereich „Ohren“, sondern dem Funktionsbereich „Psyche“ zuzuordnen.

 


 

Tatbestand:

Der 1941 geborene Kläger begehrt die Anerkennung als Schwerbehinderter.

Im Anschluss an den Antrag des Klägers von April 2000 stellte der Beklagte nach Beiziehung von Befundberichten sowie einer beratungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 03.07.2000 einen GdB von 40 fest wegen der Behinderungen "Hörminderung beidseits, störende Ohrgeräusche, schlafbezogene Atemstörungen, Asthma bronchiale, Wirbelsäulenverschleißleiden, Refluxoesophagitis". Der Kläger erhob Widerspruch mit der Begründung, die starken Ohrgeräusche hätten eine psychische Erkrankung und Artikulationsstörungen verursacht. Zudem sei wegen der Schlafstörungen, die Dr. G mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 einstufe, eine stationäre Behandlung erfolgt. Der Beklagte zog Befundberichte von Dres. P, G und U bei. Nach Einholung versorgungsärztlicher Stellungnahmen wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2000 zurück.

Hiergegen hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf am 21.12.2000 Klage mit der Begründung erhoben, es sei wiederholt Dienstunfähigkeit wegen der Schwerhörigkeit und der Ohrgeräusche eingetreten.

Das SG hat Befundberichte der behandelnden Ärzte und sodann ein Gutachten des Lungenfacharztes und Arbeitsmediziners Dr. T eingeholt. Der Sachverständige hat einen Gesamt-GdB von 40 ermittelt. Auf den Inhalt des Gutachtens vom 05.12.2001 wird verwiesen. Der Kläger hat einen Bericht des HNO-Arztes Dr. T1 eingereicht, wonach die Tinnitusbeschwerden zu Konzentrations- und Schlafstörungen, lavierter Depression und allgemeinen Wahrnehmungsbeeinträchtigungen führen. Sodann hat das SG ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. S eingeholt, der eine Anpassungsstörung mit länger währender depressiver Reaktion, psychosomatischen Beschwerden, Tinnitus sowie eine Migräne feststellte. Den Gesamt-GdB hat er auf 40 eingeschätzt.

Das SG Düsseldorf hat die Klage mit Urteil vom 28.05.2002 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.

Gegen das am 17.06.2002 zugestellte Urteil hat der Kläger am 17.07.2002 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, die Wirbelsäulenbeschwerden seien mindestens mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Zudem habe er im Juni einen Unfall erlitten, der sowohl die Wirbelsäulen- als auch die Tinnitusbeschwerden verstärke. Außerdem sei seine berufliche Situation nicht ausreichend berücksichtigt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 28. Mai 2002 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 03. Juli 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2000 zu verurteilen, bei ihm einen GdB von 50 festzustellen.

Hilfsweise beantragt der Kläger,

eine erneute Begutachtung des bei ihm vorliegenden Tinnitus von Amts wegen oder gemäß § 109 SGG.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er sieht sich durch das Ergebnis der Beweisaufnahme in seiner im Bescheid vertretenen Auffassung bestätigt.

Der Senat hat Befundberichte von Dres. Q, O und G1 eingeholt. Sodann hat der Senat ein Gutachten des HNO-Arztes Prof. Dr. C sowie ein neurologisch-psychiatrisches Zusatzgutachten von Frau Dr. M eingeholt. Prof. Dr. C hat zusammenfassend einen Gesamt-GdB von 40 ermittelt unter Berücksichtigung der Behinderungen Anpassungsstörungen mit zeitweilig depressiven Verstimmungen und Somatisierungsstörung (30), Migräne (20), knapp geringgradige Hochtonschwerhörigkeit rechts und annähernde Normalhörigkeit links (0) mit belästigenden beiderseitigen, audiometrisch nicht objektivierbaren Hochtongeräuschen (10), Wirbelsäulenschäden (10), Bluthochdruck (10).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten.


 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Der Kläger wird durch den angefochtenen Bescheid vom 03.07.2000 nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Das SG hat zu Recht die Anerkennung des Klägers als Schwerbehinderter verneint. Ein höherer GdB als 40 ist nicht erwiesen.

Nach § 69 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) wird auf Antrag eines behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und des GdB festgestellt. Eine Behinderung ist gemäß § 2 SGB IX die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen, körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht und die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt. Die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen sind als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen (§ 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX). Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen, wie sie bei dem Kläger vorliegen, ist nach § 69 Abs. 3 SGB IX der Gesamt-GdB nach den Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Dabei ist der GdB unter Heranziehung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz" (AP) in ihrer jeweils geltenden Fassung festzustellen, da die AP rechtsnormähnliche Wirkung haben und wie untergesetzliche Normen von der Verwaltung und den Gerichten anzuwenden sind (BSG, Urteil vom 09.04.1997, 9 RVs 4/95 m.w.N.).

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht nach Überzeugung des Senates fest, dass der GdB nicht mehr als 40 beträgt. Dies ergibt sich aus den Sachverständigengutachten von Frau Dr. M, Prof. Dr. C, Dr. T und Dr. S sowie aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen.

Der Schwerpunkt des Leidens des Klägers ist dem Funktionssystem "Psyche" zuzuordnen. Es handelt sich um eine Anpassungsstörung mit zeitweiligen depressiven Verstimmungszuständen und eine Somatisierungsstörung vor dem Hintergrund einer schizoiden Primärpersönlichkeit. Die Sachverständige Dr. M hat diese stärker behindernde psychische Störung in Übereinstimmung mit Nr. 26.3 Seite 60 AP 1996 mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Dieses Ergebnis wird durch die Ausführungen des Dr. S bestätigt und zudem gestützt durch die vorliegenden Berichte der behandelnden Ärzte sowie der sich aus den Akten ergebenden Selbstdarstellung des Klägers. Ein GdB von 30 bis 40 kann nach den AP 1996 bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) berücksichtigt werden. Beim Kläger ist eine erhebliche psychische Störung erwiesen, wie sie auch durch die in leitender Position in der Berufsschule aufgetretenen Probleme, die er als Mobbing empfindet, zum Ausdruck kommen. Er hat nach eigenen Angaben mit seinem designierten Nachfolger Schwierigkeiten und fühlt sich einem "Nahkampf" ausgesetzt. Er reagiert nach Einschätzung von Frau Dr. M auf die Belastungen mit psychosomatischen Störungen wie Tinnitus, Migräne, Bluthochdruck und Schlafstörungen. Ein höherer GdB als 30 wird aber nach den Einschätzungen der gehörten Sachverständigen noch nicht erreicht. Der Einschätzung von Dr. T, die psychovegetativen Störungen bei beruflicher Konfliktsituation seien nur mit einem GdB von 20 zu bewerten, vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Zum einen hat der Sachverständige eine ausgeprägte behindernde Störung und eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit pauschal ohne nähere Begründung verneint. Zum anderen geht aus den Ausführungen des Dr. S und der behandelnden Ärzte Dr. G1 und Dr. L hervor, dass der Kläger nicht nur an leichteren psychovegetativen Störungen leidet. Die behandelnden Ärzte beschreiben den Kläger durchgängig als sehr besorgt, angespannt, ängstlich, zentriert auf die Beschwerden und kontrolliert von der Angst vor der eigenen Dienstunfähigkeit.

Darüber hinaus besteht beim Kläger im Funktionssystem "Kopf" eine echte Migräne. Nach den Angaben des Klägers, die sich auch in den Berichten der behandelnden Ärzte widerspiegeln, beginnt die Migräne mit Lichtblitzen und Flimmern auf einem Auge, gefolgt von Sehstörungen, die dann zu Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit führen. Die Anfälle treten ein- bis zweimal monatlich auf und dauern ein bis zwei Tage. Neurologische Ausfälle liegen nicht vor. Damit ist dieses verselbstständigte Leiden nach Nr. 26.2 Seite 51 AP 1996 mit einem GdB von 20 zu bewerten.

Darüber hinaus hat der Sachverständige Prof. Dr. C im Funktionssystem "Ohren" eine knapp geringgradige Hochtonschwerhörigkeit rechts und links eine annähernde Normalhörigkeit (0) mit belästigenden beiderseitigen, audiometrisch nicht objektivierbaren Ohrgeräuschen (10) festgestellt. Die Sachverständigen haben übereinstimmend betont, dass die Beschwerdesymptomatik Tinnitus Folge der neurologisch-psychiatrischen Behinderung sei. Daraus folgt nach den AP 1996, dass die Ohrgeräusche dort zu berücksichtigen sind. Eine darüber hinausgehende Bewertung mit einem Einzel-GdB im Funktionssystem "Ohren" ist nicht möglich. Prof. Dr. C hat ausdrücklich nach umfangreicher ambulanter Untersuchung darauf hingewiesen, dass nur eine geringgradige Schwerhörigkeit rechts vorliegt und die Bejahung einer mittelgradigen Schwerhörigkeit mit Tinnitus seitens des Beklagten durch seine ambulante Untersuchung widerlegt ist. Der Nachweis eines Tinnitus, der nach den AP einen GdB von 20 bedingt, konnte durch die Untersuchungen nicht geführt werden.

Darüber hinaus liegt beim Kläger im Funktionssystem "Rumpf" ein Wirbelsäulenschaden vor. Dieser verursacht einen GdB von 10. An der HWS ist die Drehfähigkeit nach rechts leichtgradig und nach links endgradig herabgesetzt, die Seitwärtsneigung ist leicht- bis mittelgradig reduziert. Vor- und Rückneigung sind uneingeschränkt möglich. Darüber hinaus liegen im Bereich der BWS und LWS endgradige funktionelle Einschränkungen vor.

Im Funktionssystem "Herz-Kreislauf" besteht ein arterieller Bluthochdruck ohne nachgewiesene Organbeteiligung. Unter der medikamentösen Therapie sind die Blutdruckwerte diastolisch diskret erhöht, sodass kein GdB von mehr als 10 zu berücksichtigen ist.

Im Funktionssystem "Lunge" ist durch die stationäre Untersuchung im Schlaflabor der Ruhrlandklinik ein Schlaf-Apnoe-Syndrom auszuschließen. Zudem besteht beim Kläger eine chronische Bronchitis mit Verdacht auf bronchiale Hyperreagibilität ohne Einschränkung der Lungenfunktion. Die Beschwerden sind als leichtgradig einzustufen, eine spezifische Therapie oder ein Heilverfahren wurde nicht durchgeführt, sodass der GdB nicht mehr als 10 beträgt (Nr. 26.8 S. 82 AP 1996).

Nach den AP 1996 ist ausgehend von der schwerwiegendsten Gesundheitsstörung zu prüfen, ob und inwieweit das Ausmaß der Behinderung durch die anderen Funktionsbeeinträchtigungen vergrößert wird. Dabei ist zu berücksichtigen, dass leichte Gesundheitsstörungen, die einen GdB von 10 bedingen, in der Regel nicht zu einer wesentlichen Zunahme des Ausmaßes der Gesundheitsbeeinträchtigungen führen und dass es vielfach bei leichten Behinderungen mit einem GdB von 20 nicht gerechtfertigt ist, eine Erhöhung vorzunehmen. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (Nr. 19 AP 1996).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben beträgt der Gesamt-GdB 40. Hierbei ist von einem Einzel-GdB von 30 für das Funktionssystem "Psyche" und von einem Einzel-GdB von 20 für das Funktionssystem "Kopf" auszugehen. In der Gesamtschau kann hier eine Anhebung um 10 erfolgen, obwohl die Migräne von Frau Dr. M als Auswirkung der Somatisierungsstörung gesehen wird. Letztendlich kann dies dahinstehen, da der Beklagte bescheidmäßig bereits einen GdB von 40 anerkannt hat. Die weiteren vorliegenden Einzel-GdB von 10 führen nach den Anhaltspunkten nicht zur Anhebung des Gesamt-GdB auf 50.

Der Senat sah sich nicht gedrängt, von Amts wegen ein weiteres Gutachten auf Hals-Nasen-Ohrenärztlichem Fachgebiet einzuholen. Hörbeeinträchtigung und Ohrgeräusche sind im Gutachten nach § 106 SGG von Prof. Dr. C eingehend ermittelt und bewertet worden. Zum einen sind die Ausführungen des Prof. Dr. C in seinem Gutachten von Juli 2003 Ergebnis einer ausführlichen ambulante Untersuchung sowie in sich schlüssig und widerspruchsfrei. Zum anderen werden sie gestützt durch die Ausführungen des Prof. Dr. W, der 1999 einen identischen audiometrischen Befund beschrieb. Darüber hinaus setzt sich der Sachverständige Prof. Dr. C auch mit den Ausführungen des Dr. T1 auseinander und weist zutreffend auf Widersprüche zwischen den vorliegenden Audiogrammen und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen hin. Eine erneute Begutachtung hinsichtlich des Tinnitus erscheint dem Senat auch deshalb nicht angezeigt, weil die Ohrgeräusche Folge und Ausdruck der psychischen Erkrankung sind und daher dort zu berücksichtigen sind.

Der Antrag des Klägers, ein Gutachten auf Hals-Nasen-Ohrenärztlichem Fachgebiet nach § 109 SGG einzuholen, hat der Senat nach § 109 Abs. 2 SGG zurückgewiesen. Danach kann das Gericht einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert wird und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist. Erkennt ein Beteiligter, dass die Beweiserhebung durch das Gericht abgeschlossen ist, muss er innerhalb angemessener Frist den Antrag nach § 109 SGG stellen. Der Antrag in der mündlichen Verhandlung ist verspätet, wenn der Beteiligte angemessene Zeit - vier Wochen - vor dem Termin darauf hingewiesen worden ist, dass eine weitere Beweisaufnahme von Amts wegen nicht beabsichtigt ist (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 7. Auflage, § 109 SGG, Anmerkung 8a; Hess. LSG SozSich 1980, 28; Behn SozVers 1990, 30). Diese Voraussetzungen liegen vor. Die Übersendung des Gutachtens an den Klägerbevollmächtigten erfolgte mit Verfügung vom 23. Juli 2003, ausgeführt von der Geschäftsstelle am 28. Juli 2003. Die Ladung zur mündlichen Verhandlung datiert vom 13. August 2003, ausgeführt von der Geschäftsstelle am 14. August 2003, zugegangen am 18.08.2003. Der Klägerbevollmächtigte hat mehr als vier Wochen verstreichen lassen, bevor er im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25.09.2003 den Antrag nach § 109 SGG zu Protokoll erklärte. Eine andere Beurteilung kann auch nicht deshalb erfolgen, weil der Kläger während der Sommerferien (31.07. bis 15.09.2003) und der Klägerbevollmächtigte ab Mitte August drei Wochen ortsabwesend war. Der Klägerbevollmächtigte, auf den abzustellen ist, hätte dem Senat spätestens zu dem Zeitpunkt, in dem er die Ladung zum Termin erhielt, mitteilen können, dass eine Antragstellung nach § 109 SGG in Erwägung gezogen wird. Die Antragstellung im Termin war verspätet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Anlass zur Zulassung der Revision hat der Senat nicht gesehen.