LSG NRW - L 7 SB 6/06 - Urteil vom 01.06.2006
Treten in einem Verfahren nach dem SGB IX - hier Feststellung der Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "aG" - unmittelbar vor der mündlichen Verhandlungen gravierende Unfallfolgen - Rippenbrüche und Oberschenkelbruch - hinzu, sind weitere Sachverhaltsermittlungen zumindest dann nicht gerechtfertigt, wenn über den Verlauf der Rehabilitation und die spätere Notwendigkeit von Hilfsmitteln keine Prognose möglich ist.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "außergewöhnliche Gehbehinderung" (aG).
Der Beklagte erkannte bei der 1932 geborenen Klägerin mit Bescheid vom 28.01.1991 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 an.
Im Anschluss an den Änderungsantrag von Januar 2003, gerichtet auf Feststellung eines höheren GdB sowie u. a. der Nachteilsausgleiche "aG" und "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (G), stellte der Beklagte nach Auswertung der Berichte der behandelnden Ärzte mit Bescheid vom 16.06.2003 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" und einen GdB von 60 fest wegen der Behinderungen
Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" verneinte der Beklagte, da die Auswirkungen der Behinderungen der Klägerin funktionell nicht so schwerwiegend seien, dass sie die Fortbewegung beim Gehen auf das Schwerste einschränken.
Nachdem die Klägerin mit ihrem Widerspruch bemängelte, dass weder das Lungenemphysem noch die Panikattacken vom Beklagten berücksichtigt worden seien, holte der Beklagte einen Bericht von Dr. W. ein und veranlasste eine Begutachtung der Klägerin durch Frau Dr. B. Diese verneinte insbesondere die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" u. a., weil die Klägerin anlässlich der ambulanten Untersuchung mitgeteilt hatte, eine Gehstrecke von 300 Metern zurücklegen zu können. Der Widerspruch bleib erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28.10.2003).
Hiergegen hat die Klägerin am 25.11.2003 bei dem Sozialgericht (SG) Dortmund Klage erhoben. Sie hat ihr Begehren weiterverfolgt.
Das SG hat Befundberichte von Dr. A, den Ärzten L. und P. sowie ein Gutachten des Internisten und Facharztes für Psychotherapeutische Medizin, Dr. K., eingeholt. Der Sachverständige hat die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" verneint. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Gutachten vom 23.09.2004 Bezug genommen.
Mit Bescheid vom 15.02.2006 hat der Beklagte auf Antrag der Klägerin von Dezember 2004 die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "ständige Begleitung" (B) festgestellt.
Im Erörterungstermin von April 2005 hat der Sohn der Klägerin als Bevollmächtigter darauf hingewiesen, dass die Klägerin aus physischen und psychischen Gründen außerstande sei, einen Termin wahrzunehmen. Die Gehstrecke betrage weniger als 25 Meter, da sie sich von einer Ende 2004 erlittenen schweren Lungenentzündung noch nicht erholt habe. In Behandlung sei die Klägerin deswegen bei Dr. W. und dem Arzt P.
Sodann hat das SG Befundberichte von Dr. W., Dr. K. und dem Arzt P. eingeholt.
Der Beklagte hat die Befundberichte ausgewertet und die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" weiter verneint.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 16.11.2005 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Gegen das am 17.12.2005 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 17.01.2006 Berufung eingelegt. Sie verfolgt ihr Begehren weiter.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichtes Dortmund vom 16.11.2005 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 16.06.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28.10.2003 zu verurteilen, bei ihr die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf das Ergebnis der Beweisaufnahme.
Der Senat hat Befundberichte von Dr. A., Dr. W. und den Ärzten L. und P. eingeholt.
Am 01.06.2006 hat die Klägerin per Fax mitgeteilt, dass weder sie noch ihr Bevollmächtigter den Termin zur mündlichen Verhandlung wahrnehmen werden können. Sie selbst sei verhindert, da sie wegen der Folgen eines am 24.05.2006 erlittenen Verkehrsunfalles stationär behandelt werde. Rippenbrüche und ein Oberschenkelbruch würden zwar Erfolg versprechend therapiert, aber derzeit sei nicht absehbar, welche Prognose für die Gehfähigkeit ohne Hilfsmittel zu stellen sei. Es werde daher beantragt, das Verfahren bis zum Abschluss der Rehabilitation in ca. 15 Wochen "entscheidungsneutral zurückzustellen". Zudem ergebe sich aus den vom Senat eingeholten Befundberichten kein klares Entscheidungsbild, da daraus nicht abzuleiten sei, dass die Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches nicht vorlägen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie die Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe:
Der Senat hat in Abwesenheit der Klägerin, deren persönliches Erscheinen nicht angeordnet war, und ihres Bevollmächtigten entscheiden können. Auf diese Möglichkeit ist der Bevollmächtigte in der Ladung hingewiesen worden. Er ist zu dem Termin vom 01.06.2006 ordnungsgemäß geladen worden. Auch sonst ist der Klägerin rechtliches Gehör im ausreichenden Umfang gewährt worden.
Der Antrag auf Vertagung ist abzulehnen. Die Klägerin hat keine erheblichen Gründe hierfür glaubhaft gemacht (§ 202 Sozialgerichtsgesetz - SGG - in Verbindung mit § 227 Zivilprozessordnung - ZPO -). Nach § 227 ZPO, der nach § 202 SGG analog anzuwenden ist, kann ein Termin aus erheblichen Gründen aufgehoben, verlegt oder eine Verhandlung vertagt werden. Nach § 227 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 ZPO sind erhebliche Gründe insbesondere nicht das Ausbleiben einer Partei oder die Ankündigung nicht zu erscheinen, es sei denn, dass die Partei ohne ihr Verschulden am Erscheinen gehindert ist. Diese Bestimmungen schränken nach der Rechtsprechung des BSG das subjektive Interesses der Recht Suchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz der Gewährung rechtlichen Gehörs in der mündlichen Verhandlung ein. Bei ihrer Einbindung, insbesondere bei Ausfüllung der darin enthaltenen Ermessens- und Beurteilungsspielräume, sind daher die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entwickelten Grundsätze zur Tragweite des Grundrechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz sowie das Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren zu beachten (BVerfG, Beschluss vom 02.03.1993 - 1 BvR 249/92; BVerfGE 88, 118, 125). Zu diesen Grundsätzen gehört, dass sich der Richter nicht widersprüchlich verhalten darf und allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet ist. Dazu gehört ferner, dass bei der notwendigen Abwägung des allgemeinen Interesses an Rechtssicherheit und Verfahrensbeschleunigung mit dem subjektiven Interesse des Recht Suchenden an einem möglichst uneingeschränkten Rechtsschutz die betroffenen Belange angemessen zu gewichten sind und in Bezug auf die Auswirkungen der Regelung auf den einzelnen Recht Suchenden der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten ist (BSG, Urteil vom 22.09.1999 - B 5 RJ 22/98 R -).
Ein Anspruch auf Vertagung ergibt sich nach Abwägung dieser Gesichtspunkte nicht aus dem Hinweis auf die derzeitige gesundheitliche Situation der Klägerin. Aus dem Vorbringen im Schriftsatz vom 01.06.2006 ist nicht zu entnehmen, dass sie am Termin persönlich teilnehmen wollte. Zudem konnte die Klägerin der Ladung entnehmen, dass ihr persönliches Erscheinen nicht angeordnet war. Gleichwohl hat sie ihr Kommen nicht angekündigt.
Weitere Gründe, die eine Verlegung des Termins rechtfertigen, sind dem Senat nicht bekannt. Der Bevollmächtigte selbst hat lediglich mitgeteilt, dass er den Termin nicht wahrnehmen kann, ohne hierfür Gründe zu benennen. Eine Vertagung wegen in seiner Person liegender Gründe hat er nicht beantragt.
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Klägerin wird durch die angefochtene Verwaltungsentscheidung nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Die Bescheide sind rechtmäßig. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sind die gesundheitlichen Voraussetzungen des Nachteilsausgleiches "aG" nicht erwiesen.
Die Voraussetzungen für das Merkzeichen liegen nicht vor.
Nach § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), ehemals § 4 Abs. 4 Schwerbehindertengesetz (SchwbG), stellen die Versorgungsämter auch die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, mithin auch für den Nachteilsausgleich "aG", fest. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) und Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen Verwaltungsvorschrift (VV) sind als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Einschränkung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlichen Feststellungen auch aufgrund von Erkrankungen dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.
Die Klägerin zählt nicht zu einer der in der VV explizit aufgeführten Personengruppe. Sie ist auch nicht dem in Nr. 11 VV zu § 46 StVO genannten Personenkreis gleichzustellen. Eine solche Gleichstellung erfordert, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sich der Behinderte nur unter ebenso großen Anstrengungen wie der oben genannte Personenkreis oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann. Eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke ist als Abgrenzungskriterium nicht entscheidend. Vielmehr kommt es darauf an, unter welchen Bedingungen dem Betroffenen das Zurücklegen einer Wegstrecke noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder nur noch mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb des Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG, Urteil vom 10.12.2002 - 9 SB 7/01 R -).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Zwar ist die Gehfähigkeit der Klägerin erheblich eingeschränkt. Dies folgt für den Senat aus den Darlegungen der im Verfahren gehörten Ärzte. Nach den Ausführungen der behandelnden Ärzte L., P., Dr. W., Dr. A. und dem Sachverständigen Dr. K. liegen bei der Klägerin orthopädische, psychiatrische und internistische Erkrankungen vor. Es handelt sich insbesondere um eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizungen, Schulter-, Arm- und Kopfschmerzsyndrom (50), eine chronisch obstruktive Pulmonalerkrankung (20) und eine mittelgradige Depression (40). Diese Leiden schränken die Gehfähigkeit der Klägerin erheblich ein. Dr. K. und die im Berufungsverfahren nochmals detailliert zu dem Gangbild und zur Gehfähigkeit befragten behandelnden Ärzte haben jedoch übereinstimmend ausgeführt, dass die Klägerin außerhalb des Kraftfahrzeuges sich praktisch vom ersten Schritt an nicht nur noch mit ungewöhnlich großer Anstrengung fortbewegen kann. Zudem ist die Benutzung eines Rollstuhles aus vorstehend medizinischen Gründen nicht indiziert. Darauf weisen der Orthopäde P. und der Hausarzt L. ausdrücklich hin.
Die Klägerin kann sich auch nicht nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen. Dies folgt zunächst aus den eigenen Angaben der Klägerin sowohl anlässlich der ambulanten Untersuchung bei Dr. B. als auch bei Dr. K. Dabei teilte die Klägerin mit, dass sie mit dem Sohn, aber auch alleine, einkaufen geht. Insgesamt besucht sie täglich - in der Regel alleine - den Friedhof und könne nach eigener Einschätzung die ca. 400 Meter vom Parkplatz bis zum Grab des Ehemannes bei langsamem Schritttempo bewältigen.
Ob die Folgen des Verkehrsunfalles auf Dauer die Benutzung eines Rollators oder ähnliche Hilfsmittel erfordern und die Gehfähigkeit eingeschränkt ist, ist nach Abschluss der Rehabilitation zu bewerten und nach entsprechender ärztlicher Dokumentation ggf. Anlass für einen neuen Antrag auf das Merkzeichen beim Beklagten. Der Senat sieht sich nicht gedrängt, den Rechtsstreit zu vertagen und weitere Ermittlungen durchzuführen. Zwar lagen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bei der Klägerin infolge des Verkehrsunfalles vom 24.05.2006 Rippenbrüche und ein Oberschenkelbruch vor. Daraus ergibt sich jedoch für den Senat auch unter Beachtung der Rechtsprechung des BSG kein Anlass, den Sachverhalt weiter aufzuklären. Nach dem Vorbringen der Klägerin sind "erste Reha-Versuche Erfolg versprechend" und über den "weiteren Verlauf der Rehabilitation und die spätere Notwendigkeit von Hilfsmitteln derzeit keine Prognose möglich".
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.