Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 7 SB 62/11 - Urteil vom 22.12.2011
Auswirkungen einer Behinderung wie z.B. "etwas schwer verständliche Aussprache" lassen sich am ehesten aufgrund eines persönlichen Eindruck von dem Betroffenen in einem gerichtlichen Termin feststellen. So kann sich das Gericht - gerade bei einem Sachverständigenstreit über diese Frage - auch ohne weitere medizinische Ermittlungen vom Schweregrad der Behinderung überzeugen.
Tatbestand:
Umstritten ist der dem Kläger zustehende Grad der Behinderung (GdB).
Der 1962 geborene Kläger beantragte am 16. November 2007 beim Beklagten die Feststellung von Behinderungen und das Ausstellen eines Ausweises, wobei er auf einen Gleitwirbel 1. Grades L5/S1 und eine funktionelle Einäugigkeit hinwies. Dem Antrag fügte er medizinische Unterlagen verschiedener Ärzte bei. Der Beklagte holte von den behandelnden Ärzten des Klägers mehrere Befundberichte, zum Teil nebst weiteren Unterlagen ein, und stellte mit Bescheid vom 6. Februar 2008 einen GdB von 20 und die Funktionsbeeinträchtigungen "Sehbehinderung, Funktionsminderung der Wirbelsäule" fest. Das Ausstellen eines Schwerbehindertenausweises lehnte er ab, weil der GdB unter 50 liege. Der Widerspruch des Klägers, den er wegen der Bemessung der funktionellen Einäugigkeit erhoben hatte, blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2008).
Mit der am 17. Juli 2008 beim damaligen Sozialgericht (SG) Stendal (heute: SG Magdeburg) erhobenen Klage hat der Kläger unter Hinweis auf Funktionseinschränkungen beim Sehen und bei der Beweglichkeit der Wirbelsäule sein Begehren weiter verfolgt. Insbesondere leide er unter einer Blockierung der HWS, Tinnitus und psychosomatischen Störungen. Diese Behinderungen seien bei der Bemessung des GdB bislang nicht berücksichtigt worden. Das SG hat zunächst Befundberichte von den behandelnden Ärzten des Klägers eingeholt und vom Beklagten auswerten lassen. Dieser hat unter Hinweis auf die Besserung der Augenerkrankung und die aus seiner Sicht nur geringfügigen Funktionseinschränkungen der WS den bestehenden GdB von 20 für weiter gerechtfertigt gehalten; das Zähneknirschen mit Beschwerden in den Kiefergelenken rechtfertige keine GdB-Vergabe (Stell. vom 4. Juni 2009, Bl. 47 der Gerichtsakte). Auf die Frage nach den Auswirkungen des Tinnitus ist er nicht eingegangen.
Zur weiteren Beweiserhebung hat das SG vom Facharzt für Neurologie und Psychiatrie S. ein neurologisch-psychiatrisch-psychosomatisches und schmerzmedizinisches Fachgutachten vom 12. Juli 2010 nach ambulanter Untersuchung des Klägers eingeholt. Darin hat Herr S. unter Hinweis auf die anamnestischen Angaben des Klägers u. a. ausgeführt, dieser habe eine funktionelle Einäugigkeit beklagt, da das rechte Auge nur noch ein Sehvermögen von 14% habe. Seit 1992 leide er unter Problemen im linken Kiefergelenk mit Missempfindungen im Hinterkopf. Seit 2001 trage er nachts Aufbissschienen, was zu einer Besserung der Beschwerden geführt habe. Beim Essen und Kauen habe er keine Beschwerden. Linksseitig habe er, ebenfalls seit 1992, einen Tinnitus (Ohrgeräusch), der wohl auf die Kiefergelenksproblematik zurückzuführen sei. Zum psychischen Befund hat der Sachverständige angegeben, der Kläger sei wach, bewusstseinsklar, allseitig orientiert, ohne erkennbare Aggravations- oder Bagatellisierungstendenz und psychomotorisch unauffällig bei ausgeglichener Stimmungslage. Es bestehe keine psychiatrische Symptomatik, etwa im Sinne von Angst oder Depression. Als Diagnosen hat Herr S. benannt: Chronischer Tinnitus, kompensiert; wiederkehrendes Lendenwirbelsäulensyndrom linksbetont, ohne neurologische Ausfälle bei kernspintomographisch gesichertem Wirbelkörpergleiten Grad I L5/S1; wiederkehrendes HWS-Syndrom bei kernspintomographisch gesicherter Bandscheibenvorwölbung C4/5, ohne neurologische Ausfälle. Außerhalb seines nervenärztlichen Fachgebietes hat er angegeben: ausgeprägte Schwachsichtigkeit auf dem rechten Auge (funktionelle Einäugigkkeit) bei Schiel-Amblyopie; bekannte Kiefergelenksarthrose links (Myarthropathie) mit wiederkehrenden Beschwerden; arterieller Bluthochdruck, medikamentös eingestellt; aktuell Gürtelrose, unter medikamentöser Behandlung in Rückbildung; Leistenbruch links, Zustand nach Leistenbruchoperation rechts. Die funktionelle Einäugigkeit sei mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten, die übrigen Beschwerden hat der Sachverständige zum Teil (höchstens) mit 10 bewertet; der Bluthochdruck bedinge keinen Einzel-GdB. Mit den jeweiligen Bewertungen des Prüfärztlichen Dienstes des Beklagten stimme er unabhängig von der Tatsache überein, dass dort nicht alle Behinderungen aufgeführt worden seien. Eine Diskrepanz ergebe sich lediglich in Bezug auf die Einschätzung der Kiefergelenksbeschwerden, die nach seiner Auffassung nur einen Einzel-GdB von 10 bedingten, ohne dass sich dadurch der Gesamt-GdB erhöhe. Zusammenfassend sei ein GdB von 20 anzunehmen und der Sachverhalt als medizinisch ausreichend geklärt anzusehen. Das SG hat das Gutachten dem Bevollmächtigten des Klägers mit der Frage übersandt, ob "in Anbetracht des Gutachtens die Klage aufrechterhalten" bleibe. Der Beklagte hat zu dem Gutachten angegeben, Ohrgeräusche seien nicht HNO-ärztlich belegt. Eine Alltagsrelevanz könne aus den Befunden nicht geschlossen werden. Hinsichtlich der Kiefergelenksbeschwerden hätten sich keine Hinweise auf funktionelle Einschränkungen ergeben. Demgegenüber hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers vorgetragen, der linksseitige Tinnitus gehe mit einem ständigen Kribbeln im Hinterkopf einher, was den Kläger nachhaltig beeinträchtige. Die Funktionsstörungen der HWS und LWS seien zu gering bewertet, da für mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein GdB-Wert von 30 bis 40 anzusetzen sei. Zusätzlich hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Facharzt für Orthopädie Dr. L. als Gutachter "des eigenen Vertrauens" nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) benannt. Nachdem der Kläger einen Vorschuss in Höhe von 1500 EUR eingezahlt hatte, hat das SG diesen Sachverständigen mit der Erstellung eines Gutachtens nach § 109 SGG beauftragt. Mit dem am 4. Mai 2011 erstatteten Gutachten hat Dr. L. nach ambulanter Untersuchung des Klägers angegeben, dieser habe am Untersuchungstag (3. Mai 2011) über eine erhebliche Störung in Kiefergelenksbereich, links stärker als rechts, geklagt. Die ständige Verspannung der Muskulatur im Kiefergelenks- und Gesichtsbereich sowie im Schulter-Nackenbereich führe zu Beschwerden im Sinne eines Tinnitus bei bestimmten Tätigkeiten, es komme zu heftigen Parästhesien im linken Gesichtsbereich. Wegen der Probleme im Kiefergelenk habe der Kläger nach seinen Angaben seit längerer Zeit eine etwas undeutliche Aussprache. Wegen der Probleme im Bereich der LWS sei im Laufe der letzten Jahre die Gehstrecke geringer geworden. Zum Untersuchungsbefund hat der Sachverständige ausgeführt, der Kläger habe den Kopf bis 50° nach links und bis 60° nach rechts drehen können. Die Seitneigung sei jeweils bis 40° möglich gewesen. Die übrigen Anteile der HWS hätten eine normale Bewegung zueinander gezeigt; funktionelle Störungen hätten sich nicht sicher feststellen lassen. Bei der manualmedizinischen Untersuchung der Kopfgelenksregion hätte das Tinnitusgeräusch spontan verstärkt werden können. Die Wirbelsäule hätte sich in der Vorwärtsbewegung ausreichend harmonisch entfaltet, der Finger-Boden-Abstand betrage 20 cm. Die Extension gelinge nur ansatzweise und werde durch Schmerzen beschränkt. Die Seitneigung sei mehr als hälftig der Norm eingeschränkt. Bei der Angabe der Beschwerden sei eine etwas schwer verständliche Aussprache aufgefallen, die darauf zurückzuführen sei, dass der Kläger den Mund nicht ausreichend öffnen und bewegen könne. Durch die Aufbissschiene sei nur ein kleiner Teil der Beschwerden kompensiert. Es sei bekannt, dass derartige Kieferprobleme zu einem Tinnitus führen können. Der Tinnitus, die muskulären Verspannungen im Schulter-Nackenbereich, die Kiefergelenksarthropathie und die bestehenden psychovegetativen Störungen stünden im Zusammenhang. Für diese Funktionsstörungen sei in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen keine Bewertung vorgesehen, nur für den Tinnitus sei ein GdB von 20 angegeben. Aus funktioneller Sicht sei für diese Störung ein Wert von 30 anzunehmen. Das instabile Wirbelgleiten sei mit 20 zu bewerten, die funktionelle Einäugigkeit ebenfalls mit 20. Insgesamt betrage der GdB 50. Der Versorgungsärztliche Dienst des Beklagten hat zu diesem Gutachten am 30. Mai 2011 ausgeführt, die Kombination aus Ohrgeräuschen, Kiefergelenksbeschwerden und dem Halswirbelsäulenleiden sei von Dr. L. zu Unrecht mit einem GdB von 30 bewertet worden. Der Tinnitus begründe maximal einem GdB von 10; erhebliche psychovegetative Begleiterscheinungen seien von dem Nervenarzt S. nicht festgestellt worden, eine nervenärztliche Mitbehandlung werde aktuell nicht angegeben. Die Kiefergelenksbeschwerden seien nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen an sich nicht zu berücksichtigen. In Anbetracht der Hartnäckigkeit der Beschwerden könne jedoch dem Vorschlag des Arztes S. gefolgt und in Analogie zu den Gesichtsneuralgien ein GdB von 10 empfohlen werden. Die objektiven Untersuchungsbefunde zu Hals- und Lendenwirbelsäule begründeten jeweils einen Einzel-GdB von 10. Es würden Bewegungseinschränkungen, aber weder dermatombezogene Sensibilitätsstörungen noch motorische Ausfälle dokumentiert. Insgesamt ergebe sich für die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule ein GdB von 10. Der Neurologe S. hat nach Aufforderung durch das SG am 6. Juni 2011 zu dem Gutachten des Dr. L. wie folgt Stellung genommen: Der Kläger habe gegenüber Dr. L. deutlich gravierendere Beeinträchtigungen angegeben als ihm gegenüber. Missempfindungen im Bereich des rechten Armes und linken Beines habe der Kläger ihm gegenüber nicht angegeben, sie wären neurologisch auch nicht zu erklären und bei der Bewertung der funktionellen Beeinträchtigung durch die Wirbelsäulenbeschwerden auch nicht zu berücksichtigen. Die Verursachung des Tinnitus durch die genannten Erkrankungen im HWS- und Kiefergelenkbereich sei zwar hypothetisch denkbar, jedoch nicht beweisbar. Jedenfalls müsse der Tinnitus einzeln nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen bewertet werden. Von erheblichen psychovegetativen Begleiterscheinungen könne ebenfalls nicht ausgegangen werden. Hinsichtlich der funktionellen Einäugigkeit stimme er mit der Bewertung von Dr. L. überein. Bei der Wirbelsäule sei von mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten auszugehen und ein GdB von 30 für die Wirbelsäulenbeschwerden insgesamt anzunehmen. Die von Dr. L. vorgenommene getrennte Bewertung der Wirbelsäulenbereiche sei nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen nicht möglich. Bei der Annahme von mittelgradigen Beeinträchtigungen der HWS seien seiner Einschätzung nach auch eventuelle Tinnitusbeschwerden, falls sie durch die Myarthropathie oder die HWS mitverursacht sind, mitberücksichtigt. Zusammenfassend schlage er nunmehr unter Berücksichtigung des sehr ausführlichen orthopädisch-funktionellen Gutachtenbefundes von Dr. L. einen Gesamt GdB von 40 vor. Zu diesen Ausführungen hat Dr. L. am 27. Juni 2011 angegeben, er habe bewusst darauf verzichtet, den Komplex der craniocervikalen Störung mit mandibulärer Dysfunktion und Tinnitus einzeln zu bewerten und dies auch ausführlich begründet. Eine niedrigere Bewertung als 30 komme dafür auch nicht in Betracht. Er sehe keinen Anlass, eine Korrektur seiner Einschätzung vorzunehmen. Mit Schreiben vom 13. Juli 2011 hat das SG die Beteiligten über die Absicht der Entscheidung durch Gerichtsbescheid informiert und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen gegeben. Der Beklagte hat am 7. Juli 2011 vorgetragen, er sei nunmehr bereit, wegen der Behinderungen "Sehbehinderung (20), Kiefergelenksbeschwerden (20), Wirbelsäulenleiden (20), Tinnitus (10)" einen GdB von 30 festzustellen. Zur Begründung hat er auf die Prüfärztliche Stellungnahme vom 5. Juli 2011 verwiesen, wonach die bisherige Bewertung der hartnäckigen Kiefergelenksbeschwerden mit einem GdB von 10 zu revidieren sei. Während der Neurologe S. Beschwerden beim Essen/Kauen ausdrücklich verneint und auch keine Sprachstörungen beschrieben habe, habe der Kläger solche Probleme bei der Begutachtung durch Dr. L. geltend gemacht. Daher sei für diese Behinderung ein GdB von 20 vorzuschlagen. Für das Wirbelsäulenleiden sei der GdB aber nicht höher als 10 anzusetzen, weil zwar Bewegungseinschränkungen, aber keine dermatombezogene Sensibilitätsstörungen oder motorische Defizite bestünden. Der Tinnitus sei weiterhin getrennt von den Kiefergelenksbeschwerden mit ebenfalls 10 zu bewerten. Mit Schreiben vom 26. Juli 2011 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers erklärt, es bleibe bei den Ausführungen im Gutachten von Dr. L ... Gegebenenfalls solle ein Obergutachten eingeholt werden.
Mit Gerichtsbescheid vom 17. August 2011 hat das SG der Klage "entsprechend dem Anerkenntnis des Beklagten vom 7. Juli 2011" teilweise statt gegeben und den Beklagten verurteilt, den GdB ab Mai 2011 mit 30 festzustellen. Die weitergehende Klage hat das SG abgewiesen und entschieden, dass Kosten nicht zu erstatten seien. Zur Begründung hat das Gericht angegeben, der Sachverhalt sei durch Einholung zweier Gutachten geklärt und weise in rechtlicher Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten auf. Die Kiefergelenksbeschwerden bedingten wegen der etwas undeutlichen Aussprache des Klägers und seiner Probleme beim Essen, da er nur die rechte Gebisshälfte einsetze, einen GdB von 20. Bei der Wirbelsäule sei von mittelgradigen Einschränkungen auszugehen, für die ein GdB von ebenfalls 20 anzusetzen sei. Der Tinnitus sei nach dem gerichtlichen Sachverständigengutachten mit keinen psychischen Begleiterscheinungen verbunden und deshalb mit einem GdB von 10 zu bewerten. Der Gesamt-GdB betrage 30; ein GdB von 50 komme nicht in Betracht, da der Kläger nicht mit einem Schwerbehinderten zu vergleichen sei.
Den ihm am 26. August 2011 zugestellten Gerichtsbescheid greift der Kläger mit seiner rechtzeitig am 23. September erhobenen Berufung an und macht geltend, Dr. L. habe den GdB zu Recht mit 50 angesetzt. Das gerichtliche Sachverständigengutachten von Herrn S. weiche davon nicht wesentlich ab.
Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 17. August 2011 sowie den Bescheid vom 6. Februar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juli 2008 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, bei ihm einen GdB von 50 ab Mai 2011 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Beteiligten zu einer möglichen Aufhebung und Zurückverweisung der erstinstanzlichen Entscheidung im Wege der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung angehört. Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten haben vorgelegen und waren Gegenstand der Beratung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Hierüber konnte der Senat gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.
Der Gerichtsbescheid des SG Magdeburg vom 17. August 2011 war aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Norm ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des SG darauf beruhen kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 159 Rdnr. 3, 3a m. w. N.).
Die Entscheidung des SG leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, denn es hat verfahrensfehlerhaft durch Gerichtsbescheid entschieden. Die Entscheidungsform setzt nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG voraus, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sind hier in wesentlicher Hinsicht nicht erfüllt.
Zunächst war der Sachverhalt nicht hinreichend geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG. Hauptfrage des Falles ist, ob dem Kläger, ausgehend von einem GdB von 20 (Widerspruchsbescheid vom 1. Juli 2008), die geltend gemachte Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch zuzuerkennen ist. In solchen Fällen ist stets auch zu prüfen, weil vom Klageantrag umfasst, ob zumindest ein höherer GdB als der bisher zuerkannte festzustellen ist. Dementsprechend hat das SG aus seiner Sicht folgerichtig entschieden, dass dem Kläger zwar nicht die Schwerbehinderteneigenschaft, aber ab Mai 2011 ein höherer GdB als 20, nämlich 30 zuzuerkennen ist. In tatsächlicher und in medizinischer Hinsicht ist aber noch unklar, ob dem Kläger nicht möglicherweise ein höherer GdB zusteht. Mit dem Teilanerkenntnis des Beklagten hat sich diese Frage nur hinsichtlich des GdB von 30 für die Zeit ab Mai 2011 erledigt. Wie das SG weiter zutreffend festgestellt hat, bestehen die Behinderungen des Klägers hauptsächlich in Form eines Wirbelsäulenleidens, Kiefergelenksbeschwerden und Tinnitus. Es trifft auch zu, dass für die Zuordnung von Behinderungsgraden die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Nr. 57 S. 2412) wiedergegebenen Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit den darin geregelten Bewertungsmaßstäben heranzuziehen sind. Das SG hat angenommen, für das Wirbelsäulenleiden und die Kiefergelenksbeschwerden sei jeweils ein GdB von 20 anzunehmen. Dies ist hinsichtlich der Kiefergelenksproblematik fraglich, denn im Falle von Artikulationsstörungen sehen die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen GdB von 10 bei verständlicher Sprache und von 20 bis 40 bei schwer verständlicher Sprache vor. Schluckstörungen ohne wesentliche Behinderung der Nahrungsaufnahme sind je nach Beschwerden mit 0 bis 10 oder - bei erheblicher Behinderung der Nahrungsaufnahme je nach Auswirkung (Einschränkung der Kostform, verlängerte Essdauer) - mit 20 bis 40 zu bewerten.
Hier lässt sich das Ausmaß der Beeinträchtigungen des Klägers beim Sprechen und Essen nach dem bisherigen Sachstand nicht feststellen. Ausgehend vom gerichtlichen Sachverständigengutachten des Neurologen S. sind die Auswirkungen der Kieferprobleme gering bis nicht vorhanden; der GdB wäre also mit 0 bis 10 festzustellen. Demgegenüber ist der Gutachter nach § 109 SGG, Dr. L., zu dem Ergebnis gekommen, es bestehe ein komplexes Beschwerdebild einschließlich Tinnitus, was die Feststellung eines GdB von 30 rechtfertige. Da sich Dr. L. bei seiner Bewertung u. a. auf eine "etwas schwer verständliche Aussprache" und einen Tinnitus mit psychovegetativen Begleiterscheinungen stützt, kommt es darauf an, welcher der beiden Sachverständigen die zutreffendere Feststellung gemacht hat. Dies lässt sich am ehesten durch einen persönlichen Eindruck vom Kläger (in der mündlichen Verhandlung), ggf. auch in einem Erörterungstermin, feststellen, sodass sich das Gericht auch ohne weitere medizinische Ermittlungen vom Schweregrad der Behinderungen überzeugen kann. Das rechtliche Gehör kann in der mündlichen Verhandlung, die das Kernstück des gerichtlichen Verfahrens ist, besonders wirksam gewährt werden; außerdem dient die mündliche Verhandlung auch der Amtsermittlung. Insbesondere im Schwerbehindertenrecht wird die Spruchkammer des SG durch ehrenamtliche Richter mit Sachkunde vervollständigt, die gerade in Fällen wie diesem eine wichtige Unterstützung darstellen. Das Ausmaß von Behinderungen lässt sich in vielen Fällen am besten durch einen unmittelbaren Eindruck vom Kläger einschätzen; ob ein Mensch eine verständliche Aussprache hat bzw. wie weit diese eingeschränkt ist, lässt sich leicht beobachten und wahrnehmen. Zusammengefasst besteht der Verfahrensmangel in der trotz zweier Gutachten unzureichend aufgeklärten Tatsachengrundlage. Dieser Mangel ist auch wesentlich, denn je nach weiterer Tatsachenaufklärung steht dem Kläger ab einem bestimmten Zeitpunkt des Verfahrens ggf. ein höherer GdB als 20 bzw. 30 zu. Daneben ist die Sache wohl auch rechtlich nicht einfach gelagert, weil selbst nach Meinung des Beklagten die Behinderungen des Klägers zum Teil in analoger Anwendung der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bewerten sind.
Wegen des nicht hinreichend geklärten Sachverhaltes im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG war das SG verpflichtet, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und durch Urteil, d. h. in der Besetzung mit einem hauptamtlichen Richter und zwei ehrenamtlichen Richtern, zu entscheiden. Da das SG dies verkannt hat, liegt zugleich eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Prinzips des gesetzlichen Richters vor (Art. 101 Abs. 5 Grundgesetz). Ferner dürfte die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung zu dem beabsichtigen Erlass eines Gerichtsbescheides fehlerhaft und damit auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt worden sein. Denn in dem formelhaften Hinweis vom 13. Juli 2011 fehlt ein konkreter fallbezogener Hinweis (vgl. Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Kommentar, 9. Aufl. 2008, § 105 Rdnr. 10, m. w. N.).
Der Senat hat sich im Rahmen seines Ermessens gemäß § 159 SGG entschieden, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen, weil das Verfahren erst kurze Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist.
Das SG wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.