Hessisches Landessozialgericht - L 7 U 8/06 - Urteil vom 06.07.2007
Zu den Voraussetzungen für die Anerkennung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Die 1938 geborene Klägerin absolvierte nach dem Schulabschluss in D. 1955 bis 1957 ein Praktikum bei einem Zeitungsverlag. Von 1957 bis 1961 besuchte sie die Werkkunst-Schule in D. Danach schlossen sich eine Tätigkeit als Leiterin einer Kunstgalerie und eine Ausbildung für Gestaltung (Institut für Gestaltung in M.) von 1962 bis 1971 an. Von 1971 bis 1981 arbeitete die Klägerin als freie Mitarbeiterin für Unternehmen und erstellte insbesondere Grafik-Entwürfe. Ab dem 1. September 1981 war die Klägerin als Mitarbeiterin der Requisitenabteilung, ab 16. August 1982 als deren Leiterin am Staatstheater D. beschäftigt. Ihr letzter Arbeitstag war der 1. Juni 1985. Ab 2. Juni 1985 war sie wegen einer Muskelatrophie von ihrem Hausarzt, Herrn Dr. N., arbeitsunfähig geschrieben. Das Leiden der Klägerin verschlechterte sich auch nach dem Ausscheiden aus der beruflichen Tätigkeit zunächst. Eine Rückkehr an den Arbeitsplatz erfolgte nicht mehr. Seit März 1986 bezieht die Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.
Vom 10. Dezember 1985 bis 4. März 1986 befand sich die Klägerin auf Kosten der BfA in einer medizinischen Rehamaßnahme in der O.Klinik, S ... Im Entlassungsbericht vom 8. April 1986 äußern die Ärzte der Klinik den Verdacht auf eine Polyneuropathie. Ursächlich könnten diverse Chemikalien in Frage kommen, mit denen die Klägerin beruflich arbeite. Medikamente, Alkohol oder ein Diabetes kämen ursächlich nicht in Frage.
Mit Schreiben vom 12. Januar 1987 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Anerkennung der Polyneuropathie als Berufskrankheit.
Der von der Beklagten beteiligte Hessische Landesgewerbearzt holte ein neurologisches Gutachten bei Priv.-Doz. Dr. S., Neurologische Klinik der J. Universität in G. ein. Dieser Arzt veranlasste zunächst eine neurophysiologische Zusatzbegutachtung bei Dr. H., Abteilung klinische Neurophysiologie der J.-Universität in G. In seinem Gutachten vom 11. November 1988 kommt dieser Mediziner zu dem Ergebnis, dass zweifellos eine vorwiegend motorische Polyneuropathie bestehe. Priv.-Doz. Dr. S. bestätigt daraufhin in seinem Gutachten vom 1. Dezember 1988 das Vorliegen der Polyneuropathie, vertritt jedoch den Standpunkt, dass sich eine toxische Polyneuropathie weder beweisen noch ausschließen lasse. Der Hauptgrund hierfür liege darin, dass die Klägerin zu keinen weiteren Untersuchungen, insbesondere einer Lumbalpunktion bereit gewesen sei. Da eine toxische Ursache möglich sei, solle ein arbeitsmedizinisches Gutachten erstellt werden.
Am 18. Oktober 1989 suchte der Technische Aufsichtsdienst der Beklagten (TAD) den Arbeitsplatz der Klägerin am Staatstheater auf. In der Stellungnahme des Technischen Aufsichtsbeamten Dipl.-Ing. Sa. vom 11. Dezember 1989 heißt es u.a.: Eine Messung der evtl. Schadstoffkonzentration in der Raumluft könne nicht durchgeführt werden, da die zu beurteilenden Arbeitsplatzsituationen und die jeweils aktuellen Arbeitsstoffe nicht mehr zu rekonstruieren bzw. zu ermitteln seien. Da die Belüftungssituation in der Requisitenwerkstatt jedoch nicht gut sei, hielte er, bei der Verwendung der entsprechenden Stoffe, das Einatmen evtl. gesundheitsschädigender Stoffe für möglich. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf Bl. 106, 107 der Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen.
Am 17. Januar 1992 erstattete der Leiter des Instituts für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Mainz, Prof. Dr. K., ein Gutachten, das sich neben der Untersuchung der Klägerin auf eine Besichtigung ihres Arbeitsplatzes sowie ein neurologisches Zusatzgutachten stützt, das am 13. Dezember 1991 durch den Oberarzt der Neurologischen Universitätsklinik M., Priv.-Doz. Dr. B., erstattet worden ist. Herr Priv.-Doz. Dr. B. kam zu dem Ergebnis, dass die neurologische Erkrankung der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit nach dem klinischen Bild, den neurophysiologischen Untersuchungen und der Verlaufsdynamik als spinale Muskelatrophie (und damit nicht als Polyneuropathie) einzuordnen sei. Herr Prof. Dr. K. führt in seinem Gutachten vom 17. Januar 1992 u.a. aus, dass aufgrund der eindeutigen Schilderung der Klägerin, den Ermittlungen des TAD und seiner eigenen Betriebsbesichtigung vom 2. Juli 1991 von einer sicheren Einwirkung durch organische Lösungsmittel auszugehen sei. Da Belastungsmessungen nicht vorlägen, sei die Einwirkungsdosis nur schwer abzuschätzen, dürfe jedoch nach allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben. Aufgrund des neurologischen Zusatzgutachtens und der Vorbefunde liege bei der Klägerin eine spinale Muskelatrophie vor. Die Krankheit habe spätestens 1983 begonnen und scheine in den letzten Jahren stationär geblieben zu sein. Nach gegenwärtigem Erkenntnisstand könne ein Zusammenhang zwischen den Expositionsbedingungen am Arbeitsplatz und der spinalen Muskelatrophie der Klägerin nicht ausgeschlossen, aber auch nicht mit der im BK-Recht geforderten Wahrscheinlichkeit angenommen werden.
Der Hessische Landesgewerbearzt schloss sich in seiner Stellungnahme vom 17. März 1992 dem Gutachten an.
Mit Bescheid vom 23. Juni 1992 lehnte die Beklagte die Anerkennung und Entschädigung der Erkrankung der Klägerin als Berufskrankheit gemäß § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der Berufskrankheiten-Verordnung bzw. gemäß § 551 Abs. 2 RVO ab. Zwischen der spinalen Muskelatrophie und der beruflichen Tätigkeit als Requisiteurin am Staatstheater D. bestehe kein ursächlicher Zusammenhang, auch wenn die durchgeführten Ermittlungen ergeben hätten, dass die Klägerin an ihrem Arbeitsplatz der Einwirkung organischer Lösungsmittel ausgesetzt gewesen sei.
Nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 2. Dezember 1994) hat die Klägerin am 2. Januar 1995 zum Sozialgericht Darmstadt (im Folgenden: SG) Klage erhoben.
Das SG hat Beweis erhoben durch Einholung eines neurologischen Gutachtens bei Dr. B., Neurologische Klinik, Krankenhaus M. Der Sachverständige diagnostiziert im Gutachten vom 16. Oktober 1996 eine asymmetrische, überwiegend motorische, distal betonte Polyneuropathie. Prof. Dr. K. habe in seinem arbeitsmedizinischen Gutachten festgestellt, dass unter den für die Klägerin bestehenden Arbeitsplatzbedingungen die Einwirkdosis nach allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben dürfte. Bei Fehlen anderer Ursachen für das Vorliegen einer Polyneuropathie halte er es deshalb für wahrscheinlich, dass ein Zusammenhang zwischen der Einwirkung neurotoxischer Stoffe am Arbeitsplatz und der Erkrankung der Klägerin bestehe, insbesondere auch dadurch, dass die Erkrankung nach Beendigung der Exposition zum Stillstand gekommen sei und sich klinisch eine leichte Remission ergeben habe. Eine durch die Berufskrankheit bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bestehe seit 1. November 1985 und belaufe sich auf 80 v.H.
Auf die Einwände der Beklagten gegen das Gutachten bestätigte der Sachverständige mit Stellungnahme vom 28. Januar 1997 seine Auffassung. In einer weiteren Stellungnahme vom 23. April 1997 begründete er die Höhe der MdE näher.
Die Beklagte trat dem Gutachten des Dr. B. mit einer Stellungnahme des Dipl.-Chemikers und Arztes für Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, Dr. P., C. vom 11. April 1997 entgegen. Für die Entwicklung einer toxischen Polyneuropathie handele es sich um einen ungewöhnlich kurzen Entstehungszeitraum. Selbst bei Schnüfflern und Alkoholikern, welche in erheblich höherem Maße organischen Lösmitteln exponiert seien, entwickle sich eine Polyneuropathie erst als Spätschaden. Auch bezüglich des Verlaufs der Erkrankung müssten Zweifel hinsichtlich eines Kausalzusammenhangs angenommen werden. Auf Veranlassung von Dr. P. holte die Beklagte ein neurologisches Gutachten nach Aktenlage bei Dr. K., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Umweltmedizin, C. ein, legte dieses dem SG vor und machte es zum Gegenstand ihres Vorbringens. Dr. K. führt u.a. aus, aus den vorliegenden Befunden gehe hervor, dass bei der Versicherten auch nach Wegfall der Exposition, zumindest über eine gewisse Zeit, eine progrediente Symptomatik bzw. progrediente neurophysiologische Befunde bestanden hätten. Eine derartige Entwicklung würde nicht mit aller Eindeutigkeit gegen eine exotoxische Ursache der Polyneuropathie sprechen, da sich der polyneuropathische Prozess auch einige Zeit nach Wegfall schädigender Faktoren fortsetzen könne. Das von Dr. B. erstattete Gutachten erscheine hinsichtlich der diagnostischen Zuordnung der Polyneuropathie und auch in der dort vorliegenden Argumentation insgesamt überzeugend. Dennoch vermöge das Gutachten die Zweifel nicht zu zerstreuen, welche sich aus dem geschilderten Krankheitsverlauf sowie aus der umfassenden Differentialdiagnostik der Polyneuropathien ergäben. Dahingehend vermöge er die Frage nach dem kausalen Zusammenhang der bei der Klägerin festgestellten Erkrankung und der angeschuldigten beruflichen Exposition nicht zu beantworten. Er empfehle eine umfassende und wohl nicht belastende Labordiagnostik durchzuführen, um eine anderweitige, bisher ungeklärte in Frage kommende Ursache der Polyneuropathie auszuschließen. Sollten sich bei der Klägerin bei einer anzunehmenden Exposition keine Anhaltspunkte für eine andere in Frage kommende Erkrankung ergeben, würden die bisher hervorgebrachten Befunde und Argumente mit geringgradig überwiegender Wahrscheinlichkeit für einen Zusammenhang der bei ihr aufgetretenen Erkrankung mit der angeschuldigten Exposition sprechen.
Die Abteilung Prävention der Beklagten führte am 21. November 1997 und 7. Januar 1998 weitere Ermittlungen im Staatstheater durch und erstattete durch Dipl.-Ing. M. einen ausführlichen Bericht vom 8. Januar 1998. Bei der Requisitenwerkstatt handele es sich um einen 8 x 9 m = 72 m² großen Raum im ersten Obergeschoss des Theaters. Der Raum sei mit einer 8 m langen Fensterzeile zur H.straße hin ausgestattet. Das Fensterband bestehe aus drei größeren Abschnitten mit milchiger Verglasung und – jeweils dazwischen – zwei kleineren Fenstern mit Klarglas. Im linken Klarglasfenster sei ein handelsüblicher Ventilator eingebaut. Die Klarglasfenster seien kippbar ausgeführt. Sie seien allerdings nie geöffnet worden, da durch davorstehende Arbeitsplatten die Betätigungshebel nur sehr schlecht erreicht werden konnten. Außerdem handele es sich bei besagter Straße um eine sehr stark befahrene Verkehrsader, deren Lärm man sich nicht habe aussetzen wollen. Der Raum sei für die hier verrichteten Arbeiten und die stattfindende Lagerung offensichtlich viel zu klein und mache einen stark unaufgeräumten Eindruck. Arbeitsflächen seien mit Gegenständen überhäuft, Regale zur Lagerung alter Requisiten würden überquellen, Einkaufswagen, die zum Transport auf die Bühne dienten, stünden mit Feuerwerk und Nebelgerät beladen dazwischen. An den verschmutzten Arbeitsflächen sei erkennbar, dass hier gelötet oder da geschweißt werde. Ungeordnet stünden Kanister mit Gefahrstoffen herum sowie Lebensmittelgefäße aller Art, in denen sich nicht definierte Flüssigkeiten befänden. Verschmutzte Pinsel stünden in offenen Bechern und Dosen, aus denen das Reinigungsmittel bereits in die Raumluft verdunstet sei. In einer Ecke des Raumes sei durch mehrere Blechschränke ein kleiner Bereich abgetrennt, der dem Anschein nach als Essecke genutzt werde. Es werde von den Gesprächspartnern eingeräumt, dass diese Zustände bereits in der Beschäftigungszeit der Klägerin vorgelegen hätten. Eine Absauganlage sei nicht vorhanden. Auf die Frage nach etwa aufgetretenen pränarkotischen Zuständen bei den Mitarbeitern habe der Personalrat Herr H. mitgeteilt, dass es bei lang anhaltendem Chemikalieneinsatz durchaus zu gewissen "Hochgefühlen" bei den hier Beschäftigten gekommen sei. Es seien durchaus auch großflächige Arbeiten vorgekommen, z. B. das Bestreichen einer größeren Holzwand mit Kleber (Größenordnung der verwendeten Klebemasse ca. 2 – 3 kg!). Die beklebte Wand stehe dann unter Umständen noch einige Tage in der Werkstatt und gase aus. Derartige Arbeiten seien durchschnittlich alle zwei Wochen vorgekommen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Stellungnahme des Herrn Dipl.-Ing. M. vom 8. Januar 1998 verwiesen.
In Kenntnis des Berichtes des Präventionsdienstes der Beklagten vom 8. Januar 1998 gab daraufhin Dr. P. mit Datum vom 24. September 1998 eine weitere Stellungnahme nach Aktenlage ab, welche die Beklagte zum Gegenstand ihres Vorbringens machte. Danach sei davon auszugehen, dass der Arbeitsplatz der Versicherten sicherlich in keiner Weise auch dem damaligen Stand des Arbeitsschutzes entsprochen habe. Die Frage der Höhe der stattgehabten Lösemittelexposition werde auch durch den TAD nicht beantwortet. Es sei allerdings davon auszugehen, dass die stattgehabte Lösemittelexposition durchaus höher gelegen haben dürfe, als bisher angenommen worden sei. Es sei durchaus davon auszugehen, dass die Höhe der stattgehabten Exposition gegenüber Lösemitteln zeitweise grenzwertüberschreitend gewesen sei. Es sei allerdings nicht zweifelsfrei davon auszugehen, dass der 60%ige Zeitanteil in Werkstätten mit einer dauerhaft grenzwertüberschreitenden Lösemittelexposition einhergegangen sei. Im Berufskrankheitenrecht werde der Vollbeweis einer entsprechenden Exposition gefordert. Danach könne eine dauerhafte übergrenzwertige Exposition über den in Rede stehenden Zeitraum nicht bewiesen werden. Auch eine kürzerzeitige, dann aber massive Exposition mit vielfacher Grenzwertüberschreitung könne zu einer Polyneuropathie führen. Eine solche lasse sich bei der Klägerin nicht annehmen. Das Krankheitsbild und der Verlauf der Erkrankung sprächen zudem nicht für einen Kausalzusammenhang.
Das SG hat – nachdem ein Termin zur mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 1999 vertagt worden war – eine Stellungnahme bei Prof. Dr. K. eingeholt. In dieser Stellungnahme vom 28. Juni 1999 räumt Prof. Dr. K. nunmehr ein, dass bei der Klägerin eine Polyneuropathie vorliege. Es müsse einerseits gesichert sein, dass die verwendeten Lösungsmittel neurotoxisch gewesen seien und es müsse andererseits gesichert sein, dass sie in ausreichend hoher Konzentration eingewirkt hätten. Schwierig sei die Beurteilung der Expositionshöhe. Grundsätzlich sei dann von einer ausreichend hohen Konzentration auszugehen, wenn in der überwiegenden Zahl der Schichten Konzentrationen aufgetreten seien, bei denen Erkrankungen oder manifeste Störungen des Nervensystems hätten nachgewiesen werden können. Die Emission von neurotoxischem n-Hexan sei für den Arbeitsplatz der Klägerin als minimal einzuschätzen. Es sei unwahrscheinlich, dass Dichlormethan regelmäßig großflächig und in größerem zeitlichem Umfang eingesetzt worden sei. Genaue Einschätzungen lägen dazu nicht vor. Bezüglich Toluol und Xylol sei unwahrscheinlich, dass die möglichen Emissionen ihren neurotoxischen Schwellenwert erreicht oder überschritten hätten. Eine haftungsbegründende Kausalität liege nicht zweifelsfrei vor. Auch der Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der beruflichen Tätigkeit sei nicht wahrscheinlich. Dagegen sprächen der klinische Verlauf mit Progredienz nach dem Ende der Exposition und die untypische Verteilung der Atrophien.
Auf Antrag der Klägerin hat das SG nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten des Facharztes für Pharmakologie und Toxikologie Prof. Dr. B., Diagnostik- und Therapiezentrum für umweltmedizinische Erkrankungen R. vom 16. November 2000 eingeholt. Der Sachverständige kommt hinsichtlich der Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen zu dem Ergebnis, dass die Klägerin mit Gewissheit gegenüber neurotoxischen Lösungsmitteln bzw. deren Gemischen im Verlauf ihrer beruflichen Tätigkeit am Staatstheater D. exponiert war und dass die in den Arbeitsräumen herrschenden Konzentrationen der Schadstoffe ausreichend für die Verursachung einer Polyneuropathie gewesen seien. Die neurotoxische Wirkung werde durch wirkungsgleiche Verbindungen erheblich gesteigert. Aus den offiziellen Materialien zur BK-Nr. 1317, das heiße, aus den wissenschaftlichen Begründungen und aus dem durch das Bundesarbeitsministerium bekannt gegebenen Amtlichen Merkblatt des Ärztlichen Sachverständigenbeirats sei zu entnehmen, dass es keine Dosisangaben für neurotoxische Lösungsmittel gebe, bei denen eine Polyneuropathie oder Enzephalopathie ausgelöst werden könne. Ausgehend von den Grundvoraussetzungen, der zweifelsfrei vorliegenden asymmetrischen überwiegend motorischen und distal-betonten Polyneuropathie bei der Klägerin und der mit Gewissheit feststehenden Exposition gegenüber Lösungsmittelgemischen, bestehe nach seiner Ansicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein innerer ursächlicher Zusammenhang zwischen der Erkrankung und der Schadstoffexposition als Requisiteurin am Staatstheater D. Es handele sich bei der Krankheit um eine Berufskrankheit nach Nrn. 1302 und 1303 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung. Die Bewertung der MdE werde wesentlich durch das Ausmaß der motorischen Störungen bestimmt. Unter Berücksichtigung der Rückbildung bzw. Besserung des Krankheitsbildes mache sich eine zeitliche Staffelung der MdE-Einschätzung notwendig. Die MdE habe im Zeitraum zwischen dem 3. Juni 1985 (Beendigung der Arbeit) bis 4. März 1986 (Kurende) 100 % und danach 30 % betragen.
Nachdem die Beklagte zu diesem Gutachten eine ablehnende Stellungnahme des Prof. Dr. K. vom 22. Januar 2001 vorgelegt hatte, äußerte sich Prof. Dr. Bl. auf Anfrage des SG in einer ergänzenden Stellungnahme vom 14. März 2001 und blieb bei seiner im Gutachten geäußerten Auffassung.
Mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. Mai 2001 hat das SG die Klage abgewiesen. Dabei ging es von dem schriftsätzlich und in der vertagten mündlichen Verhandlung vom 11. Mai 1999 gestellten Anfechtungs- und Feststellungsantrag der Klägerin aus, wonach neben der Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Feststellung auszusprechen sei, dass die Gesundheitsstörung der Klägerin eine Folge einer Berufskrankheit im Sinne des § 551 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) i.V.m. mit der Berufskrankheiten-Verordnung und § 551 Abs. 2 RVO sei und die Beklagte entsprechende Entschädigungsleistungen zu gewähren habe. Die Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische sei unter Nr. 1317 durch die Änderungsverordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBI I, S. 26, 23) als BK in die als Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung bestehende Liste aufgenommen worden. Gleichwohl komme eine Anerkennung und Entschädigung nicht in Betracht. Denn nach § 6 Abs. 1 Berufskrankheiten-Verordnung sei, sofern ein Versicherter am 1. Dezember 1997 an einer Krankheit u.a. nach Nr. 1317 der Anlage leide, diese auf Antrag nur dann als BK anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten sei. Nach übereinstimmender Beurteilung der Sachverständigen Prof. Dr. B. und Prof. Dr. Bl. habe die Polyneuropathie aber bereits seit 1985 vorgelegen und bedinge eine MdE in rentenberechtigendem Grade von mehr als 20 v.H. Der Versicherungsfall sei damit – unterstelle man einen bestehenden Ursachenzusammenhang – vor dem 1. Januar 1993 eingetreten. Auch eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO komme nicht in Betracht. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO u.a. dann ausgeschlossen sei, wenn der Verordnungsgeber nach § 551 Abs. 1 RVO die einschlägige Erkrankung in die Liste der Berufskrankheiten aufnehme oder deren Aufnahme prüfe und ablehne (BSG, Urteil vom 24. Februar 2000 – B 2 U 43/98 R –). Mit der Entscheidung des Verordnungsgebers sei es dem Unfallversicherungsträger untersagt, anstelle des Verordnungsgebers in diesem Einzelfall festzustellen, dass die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt seien und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine Berufskrankheit zu entschädigen sei. Eine wirksame Rückwirkungsvorschrift schließe aus, für alle Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums noch eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO zuzusprechen. Soweit Dr. B. und Prof. Dr. Bl. in ihren Gutachten zu dem Schluss gekommen seien, bei der Klägerin lägen die Voraussetzungen einer BK nach Nrn. 1302 bzw. 1303 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung vor, könne sich die Kammer diesem Ergebnis nicht anschließen. Es stehe zwar fest, dass die Klägerin gewissen Schadstoffen ausgesetzt gewesen sei, ungewiss bleibe aber, mit welcher Intensität und Dauer eine Einwirkung erfolgt sei. Wie Prof. Dr. K. halte auch die Kammer die von dem Sachverständigen Prof. Bl. erwähnte Kombinationswirkung für spekulativ, ebenso sei spekulativ, dass die ständig offen stehenden Gefäße mit Lösungsmitteln und die Schadstoffentsorgung über das Waschbecken zu einer nennenswerten neurotoxischen Mehrbelastung geführt hätten. Es sei dies weder zu beweisen noch zu widerlegen. Ausgehend von dieser Unsicherheit sehe sich die Kammer auch nicht in der Lage, die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen berufsbedingter Schädigung und Krankheit der Klägerin festzustellen. Weder die Lokalisation noch der klinische Verlauf der bei der Klägerin festgestellten Polyneuropathie seien typisch für eine toxische Polyneuropathie durch organische Lösungsmittel. Bei der Klägerin bestehe eine asymmetrische Verlaufsform. Typisch für toxische Polyneuropathien seien demgegenüber symmetrisch-distale, beinbetonte, sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung (so Merkblatt des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung für die ärztliche Untersuchung zu Nr. 1317).
Gegen dieses ihr am 29. Mai 2001 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer am 27. Juni 2001 eingegangenen Berufung. Das SG habe in seinem Urteil grundlegende Begriffe des Berufskrankheitenrechts verkannt. Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssten, reiche zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (BSG, SozR 2200 § 548 Nr. 38, § 551 Nr. 1). Es komme nicht darauf an, ob der Versicherte schädigenden Substanzen über eine bestimmte Zeit in bestimmter, etwa dauernd über dem MAK-Wert liegenden Ausmaß ausgesetzt gewesen sei, sondern nur darauf, dass er diesen Substanzen im beruflichen Bereich ausgesetzt gewesen sei. Ob dieses ausgesetzt sein ausgereicht habe, um seine Erkrankung zu verursachen, sei eine Frage der haftungsausfüllenden Kausalität und unterliege ganz anderen Beweismaßstäben. Was Herr Dr. P. im Auftrage der Beklagten gegen deren eigenen TAD ins Feld führe, sei nicht nur rechtlich unbeachtlich, weil er damit gegen die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoße und seine ärztlichen Kompetenzen überschreite, es sei auch inhaltlich falsch.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung eines arbeits- und sozialmedizinischen Gutachtens bei Prof. Dr. W., Direktor des Instituts und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der J, -Universität G. Im Zusammenhang mit der Erstattung des Hauptgutachtens sind unter dem Datum vom 18. Juli 2003 ein neurologisch-neurophysiologisches Zusatzgutachten bei Prof. Dr. K., Neurologische Klinik der J. Universität G. und unter dem Datum vom 11. Dezember 2003 ein neuropsychologisches Zusatzgutachten bei Dipl.-Psych. S., Zentrum für Psychiatrie G. erstattet worden. Im neurophysiologischen Zusatzgutachten vom 11. Dezember 2003 wird festgestellt, dass eine schwere Hirnleistungsstörung nicht vorliege. Es bestünden mäßige Schwächen im Bereich der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung sowie leichte Beeinträchtigungen der Abstraktionsfähigkeit. Die Klägerin sei recht gut in der Lage, Defizite zu kompensieren. Im neurologisch-neurophysiologischen Zusatzgutachten vom 18. Juli 2003 diagnostiziert Prof. Dr. K.eine überwiegend motorische, asymmetrische und axonale Polyneuropathie. Sowohl die klinisch-neurologischen Untersuchungsbefunde wie auch die neurophysiologischen Untersuchungen von damals und heute zeigten eine Progredienz der Erkrankung. Nach derzeitigem Wissensstand schließe eine Progredienz der Polyneuropathie nach Expositionskarenz einen ursächlichen Zusammenhang praktisch aus. Zusammenfassend sehe er nur eine geringgradige Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer lösemittelbedingten toxischen Polyneuropathie und/oder Enzephalopathie.
Im arbeitsmedizinischen Hauptgutachten vom 25. November 2003 kommt Prof. Dr. W. zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine asymmetrisch betonte, überwiegend motorische Polyneuropathie vorliege. Die arbeitsmedizinischen Voraussetzungen zur Annahme einer Quasi-BK gemäß § 551 Abs. 2 RVO lägen mit Wahrscheinlichkeit vor. Die Klägerin habe als Requisiteurin unter schlechten arbeitshygienischen Umständen gearbeitet, wie dies auch der technische Aufsichtsbeamte des Unfallversicherungsträgers in seiner Expertise aus dem Jahre 1998 unumwunden beschreibe. Wie der bisherige, lang dauernde Verfahrensablauf zeige, sei im Nachhinein insbesondere die Quantifizierung der Expositionshöhe der zur Verwendung gekommenen Arbeitsstoffe nicht mehr zu ermitteln. Die Qualifizierung der Arbeitsstoffe liege teilweise vor, wobei jedoch nur durch Eigeninitiative der Versicherten Namen genannt hätten werden können. Aufgrund der Arbeitsplatzbeschreibung durch die Versicherte, den Angaben des technischen Aufsichtsbeamten und nach der arbeitsmedizinischen Erfahrung sei vor allem von den als neurotoxisch geltenden Arbeitsstoffen n-Hexan verarbeitet worden, das sich in Klebern wie dem allseits bekannten Pattex befinde. Zusammenfassend werde die Einwirkung von organischen Lösungsmitteln – überwiegend in Gemischen – durch den Sachverständigen bejaht, wenngleich auch er nicht in der Lage sei, spekulativ über irgendwelche Expositionshöhen Aussagen zu treffen. Nachvollziehbar sei eine sicher regelmäßige Exposition gegenüber diversen Lösungsmitteln. Entgegen der Ansicht von Prof. Dr. K. ginge er davon aus, dass für die haftungsbegründende Kausalität der Wahrscheinlichkeitsbeweis und nicht der Vollbeweis gelte. Bei Abwägung und Gewichtung der vorliegenden Daten möchte er daher zusammenfassend die haftungsbegründende Kausalität für das Vorliegen einer arbeitsbedingt verursachten neurologischen Erkrankung als überwiegend wahrscheinlich ansehen. Aufgrund der ausführlichen Arbeitsanamnese, der aktenkundigen Unterlagen, der Aussagen u.a. auch des Vorgutachters, Prof. Dr. K., der die Arbeitsstätte seinerzeit noch arbeitsmedizinisch in Augenschein habe nehmen können, sei davon auszugehen, dass die Klägerin bezüglich des hier vorliegenden Krankheitsbildes in relevanter Weise gegenüber verschiedenen organischen Lösungsmitteln exponiert gewesen sei. Hierbei sei auch nach Beratung mit dem Leiter des Gefahrstofflabors Chemie der J. -Universität G., Priv.-Doz. Dr. Dr. K., im vorliegenden Falle insbesondere von n-Hexan auszugehen. In einem Schreiben zu den Ermittlungen über die Arbeitsverhältnisse schreibe auch der entsprechende Mitarbeiter der Unfallkasse Hessen, dass die Arbeitsstätte ungünstige arbeitshygienische Verhältnisse geboten habe. Aus diesem Grunde werde in dieser Expertise konstatiert, dass die Auslöseschwelle regelmäßig überschritten worden sei. Der Krankheitsverlauf spreche im Ergebnis nicht gegen eine toxische Verursachung. In der wissenschaftlichen Begründung für die Berufskrankheit der Nr. 1317 sei folgender differenzierender Erkenntnisstand nachzulesen: "Verlaufskontrollen konnten zeigen, dass bei Funktionsstörungen oder Krankheiten des zentralen oder peripheren Nervensystems nicht nur Besserungen, sondern auch eine Persistenz und sogar Verschlechterungen nach Beendigung der Exposition möglich sind." Die Klägerin gehöre zu derjenigen Patientengruppe, in der es auch nach Expositionsende nicht zu der von manchen der Vorgutachter apodiktisch geforderten Verbesserung der Krankheitserscheinungen habe kommen müssen. Er nehme daher die haftungsausfüllende Kausalität für das Vorliegen einer BK der Nr. 1317 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit an.
Die Klägerin sieht sich durch das Gutachten des Prof. Dr. W. bestätigt. Der Versicherungsfall sei unstrittig vor dem 1. Januar 1993, nämlich 1985, eingetreten. Eine Anerkennung der Erkrankung nach Ziffer 1317 der Berufskrankheiten-Verordnung sei daher wegen der Rückwirkungsklausel in § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung nicht möglich. Nach der inzwischen im Hinblick auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juni 2005 – 1 BVR 235/00 – geänderten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts komme in solchen Fällen jedoch die Anerkennung und Entschädigung als "Quasi-Berufskrankheit" in Betracht (BSG, B 2 U 5/05).
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 15. Mai 2001 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 23. Juni 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994 zu verurteilen, die Polyneuropathie der Klägerin als Berufskrankheit anzuerkennen und in gesetzlichem Umfang zu entschädigen, hilfsweise, über das Ausmaß der beruflichen Belastung ein Sachverständigengutachten einzuholen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung. Die Argumentation des Sachverständigen Prof. Dr. W., dass für die haftungsbegründende Kausalität der Wahrscheinlichkeitsbeweis und nicht der Vollbeweis gelte, sei so nicht nachvollziehbar. Die Einwirkung von Lösungsmitteln oder deren Gemischen müsse mit Gewissheit feststehen. Das heiße nicht, dass dieser Beweis nur durch eine mit Messergebnissen am konkreten Arbeitsplatz belegte Dokumentation geführt werden könne. Es genüge nicht, wenn der Versicherte möglicherweise exponiert war. Das typische Erscheinungsbild einer Lösungsmittelneuropathie bestehe in einer distalsymmetrischen sensiblen oder sensomotorischen Polyneuropathie. Asymmetrische, multifokale oder rein motorische oder rein autonome Neuropathien seien ungewöhnlich und stellten praktisch ein Ausschlusskriterium für den Ursachenzusammenhang dar. In der Sache sei eine ausreichende Exposition der Klägerin nicht mit dem notwendigen "Vollbeweis" erwiesen und ein Zusammenhang der Erkrankung der Klägerin mit der beruflichen Exposition nicht wahrscheinlich zu machen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen, insbesondere wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des genauen Inhalts der medizinischen Unterlagen, wird auf die Gerichtsakten (3 Bände) und die Verwaltungsakten der Beklagten (2 Bände) verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung des Senats waren.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie ist auch begründet.
Zu Unrecht haben die Beklagte und ihr folgend das SG einen Anspruch der Klägerin auf Anerkennung und Entschädigung der bei ihr vorliegenden Polyneuropathie als Berufskrankheit abgelehnt. Der entgegenstehende Bescheid der Beklagten vom 23. Juni 1992 (in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 1994) ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der von der Klägerin geltend gemachte Anspruch richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da die Klägerin Leistungen und mithin einen Eintritt des Versicherungsfalls auch für die Zeit vor Inkrafttreten des Siebten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB VII), also für die Zeit vor 1997, begehrt (§ 212 SGB VII). Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt des Arbeitsunfalls nach Maßgabe der ihm folgenden Vorschriften Leistungen, insbesondere bei Vorliegen einer MdE um wenigstens 20 v.H. Verletztenrente (§ 581 Abs. 1 Nr. 2 RVO). Als Arbeitsunfall gilt gemäß § 551 Abs. 1 Satz 1 RVO auch eine Berufskrankheit (BK). Berufskrankheiten sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (§ 551 Abs. 1 Satz 2 RVO). Nach Nr. 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung ist eine Berufskrankheit die Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische. Diese Berufskrankheit wurde mit Erlass der Berufskrankheiten-Verordnung vom 31. Oktober 1997 (BGBl. I 2623), die am 1. Dezember 1997 in Kraft trat (§ 8 Abs. 1 Berufskrankheiten-Verordnung), in die Liste aufgenommen. § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung bestimmt, dass die Anerkennung einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie entsprechend der Nr. 1317 der Anlage nur in Betracht kommt, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1992 eingetreten ist. Ist der Versicherungsfall vor diesem Zeitpunkt eingetreten, kommt jedoch unter bestimmten Voraussetzungen eine Anerkennung gemäß § 551 Abs. 2 RVO in Betracht (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006, SozR 4-5671 § 6 Nr. 2).
Die Voraussetzungen der Nr. 1317 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 1317) liegen bei der Klägerin vor. Da der Versicherungsfall dieser BK jedoch vor dem 1. Januar 1993 eingetreten ist, kommt eine Anerkennung nur nach § 551 Abs. 2 RVO in Betracht. Auch insoweit sind die Voraussetzungen für eine Anerkennung der Erkrankung als (Quasi-) BK und für eine Entschädigungsleistung (dem Grunde nach) gegeben.
Für die Anerkennung einer Erkrankung als BK 1317 müssen folgende Tatbestandsmerkmale gegeben sein: Bei der Versicherten muss eine Polyneuropathie (oder Enzephalopathie) vorliegen, die durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische entstanden ist, deren Einwirkungen die Versicherte in Folge ihrer versicherten Tätigkeit ausgesetzt war. Dabei ist ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung und zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung erforderlich. Die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein, während für den ursächlichen Zusammenhang, der nach der auch sonst im Sozialrecht geltenden Lehre von der wesentlichen Bedingung zu bestimmen ist, grundsätzlich die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – ausreicht (BSG, Urteil vom 22. August 2000, SozR 3-5670 Anlage 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).
Vor diesem Hintergrund ist die von dem Sachverständigen Prof. Dr. W. im Gutachten vom 25. November 2003 vertretene Meinung, für die haftungsbegründende Kausalität reiche die Wahrscheinlichkeit aus, nicht zutreffend. Zur haftungsbegründenden Kausalität gehören nämlich neben der Kausalitätsbetrachtung – für welche hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt – auch Tatbestände, die im Vollbeweis bewiesen werden müssen. Dies sind die versicherte Tätigkeit, die arbeitsbedingte Exposition und das Vorliegen der Erkrankung selbst (Kasseler Kommentar – Ricke, § 8 SGB VII Rdnr. 7; zur Kritik an dem Begriff der haftungsbegründenden Kausalität, der nicht immer mit derselben Bedeutung benutzt wird und deshalb zur Verwirrung führt vgl. auch Ricke: Die BG 1996, 770 ff.).
Bei der Klägerin liegt eine Erkrankung im Sinne BK 1317, nämlich eine Polyneuropathie, vor. Dies ist zwischen den Beteiligten und den mit der Sache befassten Gutachtern und Sachverständigen inzwischen unstreitig. Prof. Dr. K. hat seine zunächst abweichende Auffassung aus dem Gutachten vom 17. Januar 1992 aufgegeben (Stellungnahme nach Aktenlage vom 28. Juni 1999). Dass die Klägerin während ihrer Beschäftigung als Requisiteurin beim Staatstheater D. eine versicherte Tätigkeit im Sinne des § 539 Abs. 1 Nr. 1 RVO ausgeübt hat, steht fest und bedarf keiner näheren Darlegung.
Durch ihre versicherte Tätigkeit war die Klägerin auch schädigenden Einwirkungen durch organische Lösungsmittel bzw. deren Gemische ausgesetzt. Dabei hat - anders als die Beklagte und ein Teil der Gutachter meinen - auch eine Exposition gegenüber schädigenden Stoffen in einer Weise vorgelegen, dass von einem Vollbeweis der arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung der BK auszugehen ist. Dass sich die gefährdenden Stoffe zwar qualitativ, nicht aber quantitativ bestimmen lassen, führt nicht zur Ablehnung der Anerkennung der BK. Die BK 1317 setzt im Tatbestand zu ihrer Anerkennung keine konkrete Belastungsdosis voraus. Auf diesen Umstand weist bereits Prof. Dr. Bl. im Gutachten vom 16. November 2000 hin. Weder im Amtlichen Merkblatt zur BK 1317 (Bekanntmachung des BMGS, BArBl 2005, Heft 3, S. 49) noch in der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur (vgl. Mehrtens/Perlebach, Kommentar zur Berufkrankheitenverordnung, Stand November 2006, M 1317; Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl. 2003, 5.8) noch in der Rechtsprechung sind Schwellen- oder Grenzwerte für eine Mindestexposition postuliert. Die im BK-Report 3/99 (hrsg. vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften) vorgeschlagenen Schwellenwerte sind nicht in das im März 2005 neu veröffentlichte Amtliche Merkblatt (a.a.O.) übernommen worden. Es handelt sich nur um Vorschläge, die auf epidemiologischen Studien im Wesentlichen aus den 1970er und 1980er Jahren beruhen, aufgrund derer Nervenschädigungen durch Lösemittel nachgewiesen wurden. Insbesondere für Gemische sind die Angaben mit Unsicherheiten behaftet (BK-Report 3/99, 6.3.4., I). Angesichts dessen kann von einem medizinisch-wissenschaftlichen Konsens in dieser Frage nicht ausgegangen werden. Insbesondere liegen keine Erkenntnisse dafür vor, dass bei einer bestimmten niedrigen Lösemittel(-gemisch)exposition eine Schädigung eines jeden Versicherten generell ausgeschlossen wäre. Die Dosis-Wirkungsbeziehung muss im Rahmen der Beurteilung des kausalen Zusammenhangs betrachtet werden.
Fest steht aber, dass die Versicherte in deutlich höherem Umfang als die übrige Bevölkerung lösungsmittelexponiert war. Vor diesem Hintergrund spielt es keine Rolle, dass sich das genaue Ausmaß der in der Vergangenheit liegenden Belastung nicht mehr feststellen lässt (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, Urteil vom 9. Oktober 2006 – L 8 U 19/01 – zur Enzephalopathie). Es reicht aus, dass sich eine neurotoxische Belastung in erheblichem potentiell gefährdenden Umfang aus der versicherten Tätigkeit heraus beweisen lässt. Hiervon ist der Senat überzeugt. Ausschlaggebend für diese Beurteilung sind für den Senat insbesondere die Stellungnahmen des Präventionsdienstes der Beklagten vom 11. Dezember 1989 und 8. Januar 1998 sowie die Beurteilung von Prof. Dr. K., der zur Erstellung seines arbeitsmedizinischen Gutachtens vom 17. Januar 1992 die Arbeitsstätte der Klägerin aufgesucht hat. Bereits in der Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 11. Dezember 1989 (Bl. 106, 107 Verwaltungsakte) wird darauf hingewiesen, dass die Requisitenwerkstatt in einem schlecht belüfteten Raum untergebracht war und häufig Überstunden gemacht werden mussten. Das Einatmen evtl. gesundheitsschädigender Stoffe wird in dieser Stellungnahme für "möglich" gehalten. In seinem arbeitsmedizinischen Gutachten vom 17. Januar 1992 (Bl. 152 ff. Verwaltungsakte) führt Prof. Dr. K. aus, dass – obwohl Belastungsmessungen nicht vorlägen – die Einwirkdosis nach allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben dürfte. In der Stellungnahme des Präventionsdienstes der Beklagten vom 8. Januar 1998 wird sodann in völliger Übereinstimmung mit den wiederholten Arbeitsplatzschilderungen der Klägerin bei den Gutachtern, auf der Grundlage einer erneuten Arbeitsplatzbesichtigung und der Anhörung von Mitarbeitern des Staatstheaters ergänzend ausgeführt, dass von einer nur kurzzeitigen Einwirkung von gefährdenden Stoffen auf die Klägerin nicht gesprochen werden könne, eine völlig unzureichende Belüftung und Arbeitshygiene bestanden habe und eine Vielzahl von chemischen Produkten, die zum Teil organische Lösemittel enthielten, vorgelegen hätten. Zum Teil hätten verschmutzte Pinsel in offenen Bechern und Dosen gestanden, aus denen das Reinigungsmittel in die Raumluft verdunstet sei. Überall hätten Kanister mit Gefahrstoffen offen herumgestanden. Eine Absauganlage habe nicht existiert. Der Raum sei sogar zur Einnahme von Mahlzeiten genutzt worden. Zu Recht weist daher Prof. Dr. W. - auch angesichts des umfangreichen arbeitsmäßigen Einsatzes von Farben und Kleber - in seinem Gutachten (Bl. 41) darauf hin, dass angesichts der ungünstigen arbeitshygienischen Verhältnisse von einer Dauerbelastung mit Gefahrstoffen auszugehen war. Darüber hinaus wurde die neurotoxische Wirkung durch wirkungsgleiche Verbindungen erheblich gesteigert. Hinsichtlich dieser Erkenntnis stützt sich der Senat auf das toxikologische Gutachten des Prof. Dr. Bl., R., vom 16. November 2000, der zu Recht darauf hinweist, dass im BK-Report 3/99 die Notwendigkeit der Untersuchung von Kombinationswirkungen bei der Prüfung der arbeitstechnischen Voraussetzungen begründet wird. Die additive Wirkung verschiedener Lösemittel wird bestätigt durch Dr. P. in seiner Stellungnahme vom 24. September 1998. Danach können bei Lösemitteln mit ausreichender Sicherheit additive Wirkungen angenommen werden (ebenso BK-Report 3/99, S. 126). Auch Prof. Dr. W. weist auf die Gemischproblematik hin (Bl. 47 des Gutachtens). Vor diesem Hintergrund sieht der Senat die abweichende Äußerung des von Prof. Dr. K. vom 22. Januar 2001, wonach eine additive bzw. Kombinationswirkung Spekulation sei, als widerlegt an. Nach den Erkenntnissen über den Arbeitsplatz der Klägerin als Requisiteurin steht vielmehr fest, dass (zumindest) eine zeitweise gleichzeitige Exposition gegenüber n-Hexan, Toluol und Xylol, Dichlormethan sowie Benzol (vgl. Bl. 34 des Gutachtens von Prof. Bl.) vorgelegen hat. Sämtliche dieser Stoffe wirken gesichert neurotoxisch und können eine Polyneuropathie verursachen (vgl. Amtliches Merkblatt zur BK 1317, a.a.O). Von einer Steigerung der neurotoxischen Wirkung auf die Klägerin muss zudem deshalb ausgegangen werden, weil die Lüftungsbedingungen absolut unzureichend waren und die Lösemittelaufnahme durch direkten Hautkontakt gesteigert wurde (vgl. Bl. 34 Gutachten Prof. Dr. W. sowie hinsichtlich dieser Risikofaktoren das Amtliche Merkblatt - a.a.O. -).
Das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen, mithin eine qualitativ und quantitativ ausreichende neurotoxische Exposition der Klägerin, wird bestritten durch Dr. P. (Stellungnahme vom 24. September 1998) und - insoweit in Abkehr von seiner früher geäußerten Auffassung - auch von Prof. Dr. K. (Stellungnahmen vom 28. Juni 1999 und 22. Januar 2001). Das Gericht kann dieser Auffassung nicht folgen: Prof. Dr. K. hat als einziger der Gutachter den Arbeitsplatz der Klägerin in Augenschein genommen, und zwar am 2. Juli 1991. Aufgrund seines damaligen Eindrucks kam er zu der Aussage: "Aufgrund der eindeutigen Schilderung, der Ermittlung des Technischen Aufsichtsdienstes und meiner Betriebsbesichtigung vom 2. Juli 1991 ist jedoch von einer sicheren Einwirkung durch organische Lösemittel auszugehen. Gesicherte neurotoxische Stoffe innerhalb dieser leichtflüchtigen Gemische sind n-Hexan, Propanol, Dichlormethan und Benzolhomologe. Da Belastungsmessungen nicht vorliegen, ist die Einwirkungsdosis nur schwer abzuschätzen, dürfte jedoch nach allgemeiner Erfahrung für eine neurotoxische Schädigung ausgereicht haben." Weshalb diese ursprüngliche Bewertung unzutreffend sein soll, hat Prof. Dr. K. in späteren Stellungnahmen in keiner Weise deutlich gemacht oder begründet. Dort heißt es nur, dass neurotoxische Schwellenwerte mit Wahrscheinlichkeit nicht erreicht worden seien, ohne dass erklärt wird, wie die frühere anders lautende Aussage zustande kam bzw. weshalb sie nunmehr als falsch angesehen wird.
Auch der ursächliche Zusammenhang zwischen der schädigenden Einwirkung und der Erkrankung der Klägerin liegt vor. Hierfür reicht hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (stRspr des BSG, vgl. u.a. Urteil vom 29. März 1963, BSGE 19, 52). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit reicht nicht (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 9. Mai 2005, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17). Die Frage, welche Voraussetzungen zur Annahme des genannten ursächlichen Zusammenhangs vorliegen müssen, ist unter Zuhilfenahme medizinischer, naturwissenschaftlicher und technischer Sachkunde nach dem im Entscheidungszeitpunkt aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu beantworten (BSG, Urteil vom 27. Juni 2006, a.a.O.). Typisch für eine neurotoxische Polyneuropathie sind symmetrisch-distale, arm- und beinbetonte, sensible, motorische oder sensomotorische Ausfälle mit strumpf- bzw. handschuhförmiger Verteilung. Die motorischen Veränderungen können sich darstellen als leichte motorische Schwäche bis hin zur völligen muskulären Lähmung mit Muskelatrophie. Betroffen ist überwiegend die Muskulatur im Bereich der Hände und Füße. Die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie entwickelt sich in der Regel in engem zeitlichem Zusammenhang mit der beruflichen Lösungsmittelexposition. Allerdings wurde vereinzelt von Krankheitsverläufen berichtet, bei denen es zwei bis drei Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu einer Verschlechterung der Bewegungsfähigkeit kommt, so dass die klinische Diagnose auch zwei bis drei Monate nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit erstmals gestellt werden kann. Lösungsmittelbedingte Polyneuropathien verbessern sich nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit häufig, nicht selten bleibt die lösungsmittelbedingte Polyneuropathie jedoch klinisch nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit konstant oder verschlechtert sich. Eine Persistenz oder eine Verschlechterung der Erkrankung nach Unterlassung der gefährdenden Tätigkeit schließt eine Verursachung durch Lösungsmittel nicht aus (Amtliches Merkblatt, a.a.O.).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Sachverständige Prof. Dr. W. im Gutachten vom 25. November 2003 überzeugend herausgearbeitet, dass der Kausalzusammenhang zwischen Polyneuropathie und Lösungsmitteln bei der Klägerin mit Wahrscheinlichkeit besteht. Dabei hat er durch Heranziehung von wissenschaftlichen Studien die Richtigkeit der Neufassung des Merkblattes belegt, dass nämlich eine Persistenz oder gar Verschlechterung nach Lösemittelkarenz nicht gegen die Berufskrankheit bzw. den Kausalzusammenhang spricht. Noch in der alten Fassung des Merkblattes (Bekanntmachung des BMA, BArbBl 1997 Heft 12, S. 31) wurde vorgegeben, dass ein Fortschreiten der Erkrankung nach mehrmonatiger Expositionskarenz eine Verursachung durch Lösungsmittel ausschließe. In überzeugender Weise hat der Sachverständige Prof. Dr. W. dargelegt, dass diese Annahme unzutreffend ist. Mit Blick auf die Korrektur der medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zur lösungsmittelbedingten Polyneuropathie sieht der Senat diejenigen Gutachten und Stellungnahmen als widerlegt an, die sich für die Verneinung des Kausalzusammenhangs in erster Linie auf die Progredienz der Erkrankung bei der Klägerin berufen. Dies trifft für das neurophysiologische Zusatzgutachten von Prof. Dr. K. vom 18. Juli 2003, aber auch auf die nach Aktenlage erstellte arbeitsmedizinische Stellungnahme von Prof. Dr. K. vom 28. Juni 1999 zu. Schließlich beruft sich auch Dr. P. in seiner Stellungnahme vom 24. September 1998 u.a. darauf, dass der Kausalzusammenhang aufgrund eines untypischen Krankheitsverlaufs abzulehnen sei. Insgesamt ist festzustellen, dass sämtliche in diesem Verfahren erstatteten Gutachten noch unter Geltung des alten (unzutreffenden) Merkblattes zur BK 1317 bzw. vor Einführung der BK 1317 überhaupt erstattet worden sind. Letztlich geht nur Prof. Dr. W. im Vorgriff auf die im neuen Merkblatt verlautbarten Änderungen von dem aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand zur streitgegenständlichen BK aus.
Konkurrierende Ursachen für die Entstehung der Polyneuropathie bei der Klägerin sind nicht ersichtlich. Insbesondere liegt keine alkoholische oder diabetische Polyneuropathie vor. Die am 2. Dezember 1997 durchgeführte Labordiagnostik bei Prof. Dr. H., Krankenhaus H., spricht nicht für andere in Frage kommende Krankheiten, etwa eine Borrelieninfektion (Arztbrief vom 23. März 1998 – Anlage zum Gutachten von Prof. Bl. -). Ob eine der seltenen Formen der Auslöser der Polyneuropathie bei der Klägerin vorliegt, kann bei berechtigter Ablehnung nicht duldungspflichtiger Eingriffe (Lumbalpunktion) nicht geklärt werden. Eine andere Ursache für die Entstehung der Erkrankung, die in die Kausalitätsbeurteilung einbezogen werden müsste, kann ohne nähere Anhaltspunkte nicht unterstellt werden. Bei der Kausalitätsabwägung muss daher davon ausgegangen werden, dass keine konkurrierenden Ursachen neben der beruflichen Lösemittelexposition vorliegen.
Die Beklagte verweist zu Recht darauf, dass es sich bei der asymmetrischen Polyneuropathie um ein untypisches Krankheitsbild im Rahmen der BK 1317 handele (vgl. Merkblatt zur BK 1317 Abschnitt III, letzter Absatz). Nach dem Merkblatt ist aber die Anerkennung einer asymmetrischen Polyneuropathie nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Insofern verweist bereits Dr. P. ausdrücklich darauf, dass die bei der Klägerin vorliegende asymmetrische Polyneuropathie mit einer lösemittelbedingten Polyneuropathie vereinbar sei (Stellungnahme vom 23. Mai 1997). Zudem lag bei der Klägerin nicht von Anfang an ein asymmetrisches Krankheitsbild vor. Dieses entwickelte sich erst später (vgl. die Darlegung in der ergänzenden Stellungnahme von Prof. Dr. Bl. vom 14. März 2001, Bl. 8). Im ersten ausführlichen aktenkundigen Befund zur Erkrankung der Klägerin, dem Reha-Entlassungsbericht der Klinik S. vom 8. April 1986, werden sowohl in der Anamnese als auch in der Beschwerdeschilderung und beim Befund im Wesentlichen symmetrische Beeinträchtigungen beschrieben.
Eine rein motorische Polyneuropathie lag bzw. liegt bei der Klägerin nicht vor. Von Anfang an bestanden vielmehr arm- und beinbetonte, sensible und auch sensomotorische Ausfälle, so dass die Erkrankung von allen Gutachtern praktisch übereinstimmend als überwiegend motorische Polyneuropathie beschrieben wird. Ein Kriterium gegen den Ursachenzusammenhang wie es im Merkblatt (Kapitel III, letzter Absatz) für eine rein motorische Polyneuropathie angenommen wird, liegt demnach nicht vor. Auch der Umstand, dass die Klägerin nur knapp vier Jahre, nämlich vom 1. September 1981 bis 1. Juni 1985, schädigenden Lösemitteleinwirkungen ausgesetzt war, spricht nicht gegen den Ursachenzusammenhang. Denn toxische Polyneuropathien können häufiger schon nach mehrmonatiger Exposition beobachtet werden (BK-Report 3/99, 3.2.3). Schließlich ist die Erkrankung auch in engem zeitlichem Zusammenhang mit der Exposition am Arbeitsplatz eingetreten.
Angesichts dessen folgt der Senat den Überlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. W. zur Kausalitätsabwägung, der in diesem Punkt im Übrigen in Übereinstimmung mit den Gerichtssachverständigen Dr. B. (Gutachten vom 16. Oktober 1996) und Prof. Dr. Bl. (Gutachten vom 16. November 2000) steht. Auch der Neurologe Dr. K. geht in dem von der Beklagten vorgelegten Gutachten vom 20. Mai 1997 von einem Ursachenzusammenhang aus, soweit durch eine Laboruntersuchung weitere Ursachen ausgeschlossen werden (was in der Folgezeit geschah).
Für die Festlegung des Tages des Versicherungsfalls gilt § 551 Abs. 3 Satz 2 RVO. Danach gilt als Zeitpunkt des Arbeitsunfalls (Versicherungsfalls) der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung, oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, der Beginn der Minderung der Erwerbsfähigkeit. Eine genaue Festlegung des Tages des Versicherungsfalls ist dem Senat nicht möglich. Der Beginn der (dauerhaften) Arbeitsunfähigkeit der Klägerin mit Behandlungsbedürftigkeit war der 2. Juni 1985. Zu diesem Zeitpunkt dürfte auch bereits eine MdE vorgelegen haben. Aus den anamnestischen Daten ergibt sich jedoch ferner, dass erste Krankheitserscheinungen offenbar bereits Mitte 1984 festgestellt wurden.
Vor diesem Hintergrund steht fest, dass der Versicherungsfall jedenfalls vor der Aufnahme der BK 1317 in die Berufskrankheiten-Verordnung (mit Wirkung zum 1. Dezember 1997) und auch vor dem Zeitraum der Rückwirkung gemäß § 6 Abs. 2 Berufskrankheiten-Verordnung (1. Januar 1993) eingetreten ist. Die noch vom SG hieraus gezogenen Schlussfolgerungen (Sperrwirkung durch die Aufnahme in die Liste) sind nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Kammerbeschluss vom 23. Juni 2005, SozR 4-1100, Art. 3 Nr. 32) und des BSG (Urteil vom 27. Juni 2006, a.a.O.) rechtlich nicht mehr haltbar. Ein Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung ergibt sich vielmehr gemäß § 551 Abs. 2 RVO für Versicherungsfälle außerhalb des Rückwirkungszeitraums nach Inkrafttreten der neugefassten Berufskrankheiten-Verordnung, wenn zu diesem Zeitpunkt bereits ein Antrag auf Entschädigung einer einschlägigen Krankheit als "Wie-BK" gestellt ist und die Voraussetzungen für eine solche Entschädigung an sich gegeben sind (BSG, a.a.O.). Eine andere Verfahrensweise würde gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz (GG) verstoßen, da es sonst von Zufälligkeiten der Dauer des Verwaltungsverfahrens abhinge, ob die Versicherte noch in den Genuss einer Feststellung nach § 551 Abs. 2 RVO kommt oder nicht.
Gemäß § 551 Abs. 2 RVO sollen die Träger der Unfallversicherung im Einzelfall eine Krankheit, auch wenn sie nicht in der Rechtsverordnung bezeichnet ist oder die dort bestimmten Voraussetzungen nicht vorliegen, wie eine Berufskrankheit entschädigen, sofern nach neuen Erkenntnissen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 1 erfüllt sind. Die Klägerin hatte den Antrag auf Anerkennung einer Berufskrankheit am 15. Januar 1987, also vor dem Rückwirkungszeitraum, der am 1. Januar 1993 begann, gestellt. Die Voraussetzungen für eine Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO lagen vor. Dass hinsichtlich der lösungsmittelbedingten Polyneuropathie neue medizinische Erkenntnisse vorlagen, beweist die Aufnahme in die Berufskrankheitenliste mit Wirkung zum 1. Dezember 1997. Für die Anwendung des § 551 Abs. 2 RVO reicht es aus, wenn die neuen Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung über den erhobenen Anspruch vorliegen (BSG, Urteil vom 14. November 1996, SozR 3-2200 § 551 Nr. 9). Dies ist vorliegend der Fall. Im Übrigen ist hinsichtlich der Frage, ob ein Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung gemäß § 551 Abs. 2 RVO besteht, auch ein Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren durchgeführt worden. Die Beklagte hat in ihrem Ablehnungsbescheid vom 23. Juni 1992 auch einen Anspruch nach dieser Norm abgelehnt.
Ob darüber hinaus auch die Voraussetzungen anderer Berufskrankheiten vorliegen (BK 1302 oder 1303), bedarf nach alledem keiner Entscheidung mehr. Herr Prof. Dr. Bl. hat (aus rechtlichen Gründen) die Anerkennung dieser Berufskrankheiten vorgeschlagen. Bei der Klägerin liegt eine lösungsmittelbedingte Nervenschädigung (Polyneuropathie) vor. Diese wird speziell und damit vorrangig von der BK 1317 erfasst. Hingegen betreffen die Berufskrankheiten nach Nr. 1302 und Nr. 1303 sonstige Schäden durch Halogenkohlenwasserstoffe oder Benzol, seine Homologe oder Styrol.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Der Senat hat die Revision zugelassen, weil er dem Rechtsstreit grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).