LSG NRW - L 7 VG 38/05 - Urteil vom 17.08.2006
Leistungen nach dem OEG sind bei Unbilligkeit zu versagen. Diese liegt vor, wenn der Geschädigte ohne Einschaltung der staatlichen Vollstreckungsorgane "auf eigene Faust" - Einschüchterung bei Mitsichführen eines Elektroschockers - versucht, eine (titulierte) Forderung einzutreiben und sich damit einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt
Tatbestand
Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).
Der 1946 geborene Kläger stellte im Februar 2003 einen Antrag auf Versorgung mit der Begründung, er sei von V. am 13.08.2002 gegen 07:30 Uhr durch Fußtritte verletzt worden. Seitdem leide er an anhaltenden Nackenkopfschmerzen und Organstörungen.
Der Beklagte zog die Akte der Staatsanwaltschaft F. (Az.: ......) bei. In der Strafanzeige vom 21.08.2002 hat der Kläger zu dem Vorfall vom 13.08.2002 folgende Angaben gemacht: "Ich wollte einen erneuten Gesprächskontakt mit V., einem Schuldner von mir, herstellen. V. sitzt in der Justizvollzugsanstalt (JVA) F. wegen eines Betrugsverfahrens ein. Zuvor kam es schon zu mehreren Kontakten zwischen uns, immer mit dem Ergebnis, dass er sich weigerte, den mir zustehenden Betrag von titulierten 100 000 Euro zu bezahlen. Da ich weiß, wann V. die JVA als Freigänger verlässt, habe ich ihn am 13.08.2002 zur Tatzeit wiederum erwartet. Er kam um 07:30 Uhr aus der JVA, überquerte die dortige Straße und kam zu dem Parkplatz, wo ich auf ihn wartete. V. ging zu seinem Auto, schloss dieses auf und stieg auf der Fahrerseite ein. Er saß auf dem Sitz und hatte die Beine noch draußen aus dem Fahrzeug auf dem Boden. Als ich zu ihm kam, war er überrascht. Er schrie herum, ich "solle mich verpissen". Dabei lehnte er sich nach hinten in den Wagen zurück und trat mir mit den beschuhten Füßen auf die Brust und an die Halspartie linksseitig. Ich war durch den Tritt benommen und V. nutzte diesen Moment aus, um zur JVA zurückzulaufen. Ich trug zu diesem Zeitpunkt einen Elektroschocker in meiner Jackentasche, den ich gegenüber V. nicht eingesetzt habe. Als er jedoch weglief und ich einsah, dass ich ihn nicht mehr erreichen konnte, habe ich den Elektroschocker aus der Jackentasche geholt und ihm diesen von Weitem gezeigt mit etwa den Worten: Ich kriege dich schon noch! "
Im Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung erklärte V.: "Wenn mir die Aussage des Klägers anlässlich der Anzeigenerstattung vorgelesen wird, kann ich sagen, dass es richtig ist, dass er zu mir ans Fahrzeug kam und ich die Beine noch halb draußen hatte. Ich hatte allerdings den Eindruck, er wollte mich in das Fahrzeug hineindrängen und habe mich dagegen gewehrt, indem ich ihn getreten habe. Es war auf jeden Fall so, dass er mich zuerst körperlich anging, bevor ich zutrat und ich mich somit nur zur Wehr setzte, dann lief ich zur JVA zurück und sah diesen Gegenstand, von dem ich annahm, dass es eine Pistole ist, auf dem Boden liegen."
Mit Bescheid vom 27.05.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2003 lehnte der Beklagte die Gewährung von Versorgung unter Hinweis auf § 2 Abs. 1 OEG ab. Leistungen seien zu versagen, da der Kläger die Schädigung mitverursacht habe.
Hiergegen hat der Kläger am 23.06.2003 bei dem Sozialgericht (SG) F. Klage erhoben und betont, dass er seit August 2002 gesundheitlich angeschlagen sei. Er müsse wegen des Schmerzsyndroms Medikamente einnehmen und zudem bekomme er Massagen.
Das SG F. hat den Rechtsstreit wegen örtlicher Unzuständigkeit an das SG Köln verwiesen (Beschluss vom 08.09.2003).
Das SG hat Akten der Staatsanwaltschaft F. (Az.: .........) beigezogen. Das Schöffengericht F. hat mit Urteil vom 23.09.2004 den Kläger wegen der Vorfälle am 13.08.2002 und 17.02.2002 freigesprochen. Zu dem Vorfall vom 17.02.2002 hat der Kläger angegeben, er habe gegen 07:20 Uhr vor der JVA F. Kontakt zu V. gesucht, um auf friedlichem Wege ohne Gewalt den V. zur Zahlung des Betrages aus der titulierten Forderung zu bewegen. Demgegenüber hat V. vorgetragen, der Kläger und ein unbekannter Dritter hätten ihn gezwungen, in einen PKW einzusteigen, seien mit ihm durch F. gefahren, hätten ihm 100 Euro entwendet und mit der Mafia gedroht, wenn er die Forderung nicht begleichen würde. Das Schöffengericht hat den Kläger in beiden Fällen mit der Begründung freigesprochen, seine Einlassung, er habe sich nicht strafbar gemacht, könne nicht mit der erforderlichen Sicherheit widerlegt werden, da Aussage gegen Aussage stehe und es keinen Erfahrungssatz dahin gebe, dass die Aussage eines Zeugen höher zu bewerten sei als die des Angeklagten.
Der Beklagte hat nach Auswertung des Urteils des Schöffengerichts F. vom 23.09.2004 seine im Bescheid vertretene Auffassung bekräftigt und insbesondere darauf hingewiesen, dass sich aus dem Gesamtverhalten des Klägers eindeutig ergebe, dass dieser wiederholt versucht habe, den V. unter Druck zu setzten. Zudem habe der Kläger unbestritten einen Elektroschocker mit sich geführt und damit seine Gewaltbereitschaft demonstriert. Des Weiteren hat der Beklagte betont, dass die im Strafverfahren zu dem Vorfall am 13.08.2002 gehörte Zeugin K. zwar abweichend von den Einlassungen der Tatbeteiligten das Eingreifen eines Dritten, jedoch auf jeden Fall eine Rangelei zwischen dem Kläger und V. beschrieben habe. Es bestehe auf keinen Fall ein Anspruch des Klägers auf Versorgung, da entweder die Rechtswidrigkeit des Angriffs zu verneinen sei oder aber ein Versagungsgrund eingreife.
Das SG hat die Zeugin K. zu dem Ereignis vom 13.08.2002 gehört. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 17.05.2005 verwiesen.
Das SG hat nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Klage mit Urteil vom 18.10.2005 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Der Kläger hat gegen das am 10.11.2005 zugestellte Urteil am 15.11.2005 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter und weist klarstellend darauf hin, dass er keine Rente, sondern die Übernahme der Kosten für Thermalbäder, Physiotherapie und Akupunktur begehre. Zudem seien die Ausführungen des SG zur Rechtswidrigkeit der Gewalttat im Urteil unhaltbar.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichtes Köln vom 18.10.2005 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 27.05.2003 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 11.06.2003 zu verurteilen, die Kosten für künftige Thermalbäder, Physiotherapie und Akupunktur zu übernehmen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er verweist auf das Urteil des SG.
Der Senat hat die Akten der Staatsanwaltschaft F. beigezogen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten vorbereitenden Schriftsätze, den übrigen Akteninhalt sowie auf die Verwaltungsakte des Beklagten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen.
Der Kläger wird durch die angefochtene Entscheidung nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert. Er hat keinen Anspruch auf Versorgung nach § 1 Abs. 1 OEG in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der gegen ihn am 13.08.2002 verübten Gewalttat. Der Beklagte hat Leistungen zutreffend versagt.
Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält derjenige, der durch einen vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriff gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Ein vorsätzlicher tätlicher Angriff, d. h. eine in feindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen Menschen zielende Einwirkung, liegt vor. V. hat in dem gegen ihn durchgeführten Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung eingeräumt, den Kläger mit Fußtritten gegen die Brust und den Hals verletzt zu haben. Dieses geschah auch vorsätzlich. Entgegen den Feststellungen des SG liegt auch ein rechtswidriger tätlicher Angriff vor. Die Tatbestandsmäßigkeit indiziert grundsätzlich die Rechtswidrigkeit im Sinne des Anscheinsbeweises. Dies kann lediglich dann entkräftet werden, wenn Umstände vorliegen, die einen abweichenden Geschehensablauf ernsthaft möglich erscheinen lassen. In dem für die Frage der Rechtswidrigkeit der Tat entscheidenden Geschehensablauf stehen sich die Aussagen des Klägers und V. diametral gegenüber. Während der Kläger behauptet, V. keinesfalls angegriffen zu haben und lediglich im Rahmen eines - friedlichen - Gespräches beabsichtigte, den V. zur Zahlung zu bewegen, betont dieser, dass er von dem direkt vor ihm in der geöffneten Wagentür stehenden Kläger bedrängt und bedroht wurde und sich deshalb gegen den Angriff des Klägers gewehrt habe. Die Zeugin K. gibt insoweit an, eine Rangelei "zwischen dem Kläger und V. beobachtet zu haben" und kann ansonsten keine weiteren Details mitteilen. Somit können die Aussagen der Tatbeteiligten weder durch die Aussage eines Dritten bestätigt noch widerlegt werden. Eine Notwehrlage des V. ist lediglich möglich, sodass die Tatbestandsmäßigkeit hier die Rechtswidrigkeit indiziert.
Versagungsgründe nach § 2 Abs. 1 OEG liegen vor. Danach sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere im eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Ob das Opfer seine Schädigung mitverursacht hat, ist vor den Voraussetzungen des Versagungsgrundes nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG zu prüfen. Die Mitverursachung stellt gegenüber dem Ausschlussgrund der Unbilligkeit einen Sonderfall dar (BSG, Urteil vom 15.08.1996, B 9 RVg 6/94, SozR 3-3800 § 2 Nr. 5; BSG, Urteil vom 01.09.1999, B 9 VG 3/97 R = USK 99120). Zum Bereich der Mitursächlichkeit gehören alle unmittelbaren, nach natürlicher Betrachtungsweise mit dem eigentlichen schädigenden Tatgeschehen - insbesondere auch zeitnah - eng verbundenen Umstände, während alle nicht unmittelbaren, lediglich erfolgsfördernde Umstände, d. h. typischerweise die Vorgeschichte der eigentlichen Gewalttat betreffend, im Rahmen der Unbilligkeit zu prüfen sind (BSG, Urteil vom 01.09.1999, a. a. O.).
Eine Mitverursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG liegt nicht vor. Die Mitverursachung erfordert, dass der Tatbeitrag des Opfers nicht nur einen nicht hinwegzudenkenden Teil der Ursache darstellt, sondern eine wesentliche, d. h. annähernd gleichwertige Bedingung neben dem Beitrag des rechtswidrig handelnden Angreifers ist (BSG, Urteil vom 18.04.2001, B 9 VG 3/00 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 10; BSG, Urteil vom 21.10.1998, B 9 VG 6/97 R = SozR 3-3800 § 2 Nr. 9). Eine Mitverursachung ist auch dann zu bejahen, wenn eine bewusste oder leichtfertige Selbstgefährdung des Opfers vorliegt. Die Entschädigung ist zu versagen, wenn sich das Opfer im unmittelbaren Zusammenhang mit der Tatbegehung bewusst oder leichtfertig, d. h. grob fahrlässig, durch ein schwerwiegendes vorwerfbares Verhalten der Gefahr einer Gewalttat aussetzt und sich dadurch selbst gefährdet hat, etwa durch schuldhafte Herausforderung des Angriffs (BSG, Urteil vom 20.10.1999, 9 BVg 2/98 R = USK 99140). Dabei ist in Bezug auf die grobe Fahrlässigkeit ein subjektiver Maßstab entscheidend und dabei zu prüfen, ob das Opfer die Selbstgefährdung nach seinen persönlichen Fähigkeiten und den Umständen des Einzelfalles erkennen und vermeiden konnte und mit der Gewalttat rechnen musste. Der Geschädigte hat die Schädigung stets dann verursacht, wenn er den Angriff schuldhaft herausgefordert hat. Allerdings kann nicht jede Provokation bereits als eine Verursachung angesehen werden. Die Voraussetzungen für eine Mitverursachung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 1. Alternative OEG, für die der Beklagte beweispflichtig ist, sind nicht nachge- wiesen. Nach der im Kern gleichbleibenden Einlassung des Klägers, er versuche seit Monaten mit friedlichen Mitteln mit dem V. im Rahmen von Gesprächen die Rückzahlung der ausstehenden Forderung zu regeln, ist eine Gewaltanwendung gegenüber V. nicht nachgewiesen. Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger eine Mitursache für die Abwehrhandlung des V. gesetzt hat, sieht jedoch in dem Verhalten des Klägers keine annähernde gleichwertige Bedingung im Vergleich zu dem rechtswidrig handelnden Angreifer, hier dem V.
Es liegt jedoch der Versagungsgrund der Unbilligkeit vor. Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 2. Alternative OEG sind Leistungen auch dann zu versagen, wenn es aus im eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren. Die Gründe, aus denen sich die Unbilligkeit ergeben soll, müssen von einem solchen Gewicht sein, dass sie dem in der 1. Alternative des § 2 Abs. 1 OEG genannten Fall der Mitverursachung an Bedeutung gleichkommen. Unbillig ist eine Leistungsgewährung dann, wenn sie mit der grundlegenden Wertung des Gesetzes im Widerspruch steht. Rechtsgrund für die Opferentschädigung ist das Einstehen der staatlichen Gemeinschaft für die Folgen bestimmter Gesundheitsstörungen nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen. Aufgabe des Staates ist es u. a., den Bürger vor Gewalttaten zu schützen. Kann er dieser Aufgabe nicht gerecht werden, so besteht ein Bedürfnis für eine allgemeine Entschädigung (vgl. BT-Drucks. 7/2506 S. 7). Stellt sich jemand jedoch bewusst außerhalb der staatlichen Gemeinschaft, so kann er, wenn sich die damit verbundene Gefahr verwirklicht, keine staatlichen Leistungen verlangen. Dabei ist nicht danach zu unterscheiden, ob dieses Gefahr bringende Verhalten des Geschädigten in unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang mit dem schädigenden Ereignis steht (BSG, Urteil vom 06.07.2006, B 9a VG 1/05 R m. w. N.). Unter Berücksichtigung der Umstände des Verhaltens des Klägers am 13.08.2002 - Einschüchtern des V., Gewaltbereitschaft durch mit sich Führen eines Elektroschockers, den Vorkommnissen im Februar 2002 und dem Verhalten des Klägers im Anschluss an die Gewalttat ist Entschädigung zu versagen, da Unbilligkeit vorliegt. Der Kläger hat nach eigenen Angaben beabsichtigt, ohne Einschaltung der staatlichen Vollstreckungsorgane titulierte Ansprüche durchzusetzen. Er hat nicht den Schutz der staatlichen Gemeinschaft in Anspruch genommen, sondern vielmehr "auf eigene Faust" versucht, die (titulierte) Forderung einzutreiben und sich damit einer erheblichen Gefährdung ausgesetzt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nicht zugelassen.