L 7 VS 12/00 LSG NRW - Urteil vom 05. Februar 2004
Bei der schizophrenen Psychose ist eine multifaktorielle Entstehung zugrunde zu legen. Die Wissenschaft geht davon aus, das konstitutionelle, umwelt- und milieubedingte Faktoren gemeinsam für den Ausbruch der Erkrankung verantwortlich sind, wobei erst eine spezifische Verkettung mehrerer Faktoren letztendlich zur Manifestation führt (Vulnerabilitäts-Stressmodell). Zur Anerkennung einer schizophrenen Psychose i.S.d. Bundes- bzw. Soldatenversorgungsgesetzes ist damit weiterhin erforderlich, dass
a) als Schädigungsfaktoren tief in das Persönlichkeitsgefüge eingreifende psycho-soziale Belastungen vorgelegen haben, die entweder längere Zeit angedauert haben oder zeitlich zwar nur kurzfristig wirksam, aber so schwer waren, dass ihre Folgen eine über längere Zeit anhaltende Wirkung auf das Persönlichkeitsgefüge gehabt haben,
b) die Erkrankung in enger zeitlicher Verbindung (bis zu mehreren Wochen) mit diesen Belastungen begonnen hat.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten Zahlung eines Ausgleiches nach § 85 Soldatenversorgungsgesetz (SVG).
Der 1970 geborene Kläger war als Zeitsoldat von Januar 1992 bis Dezember 1995 überwiegend als Fernmelder und Kraftfahrer im Stabsdienst zunächst in D. und dann ab April 1994 in H./S. tätig.
Im Dezember 1995 stellte er einen Antrag auf Gewährung von Ausgleich. Zur Begründung machte er geltend, an einer Psychose zu leiden, die auf außerordentliche dienstliche Belastungen durch Stress, Verwendung im Beitrittsgebiet mit räumlicher Trennung von der Familie zurückzuführen sei. Die Erkrankung habe von November 1994 bis Januar 1995 einen stationären Aufenthalt in der Psychiatrie der Klinik am S. in D. erfordert. Nach Beiziehung einer Auskunft der Innungskrankenkasse (IKK) M., der Unterlagen des Instituts für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen in Remagen, dem u. a. der Entlassungsbericht der Klinik am S. beigefügt war sowie einer Stellungnahme von Dr. N. lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 05.02.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.12.1997 den Antrag auf Gewährung von Ausgleich ab. Zur Begründung wies sie darauf hin, dass nach der versorgungsärztlichen gutachterlichen Stellungnahme lediglich ein zeitlicher, aber kein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Gesundheitsstörung "abgeklungene psychische Behinderung" und dem Wehrdienst bestehe.
Im Dezember 1995 beantragte der Kläger beim Beigeladenen die Gewährung von Beschädigtenversorgung in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Nach Beiziehung einer Auskunft der IKK M. sowie einer versorgungsärztlichen Stellungnahme gewährte der Beklagte mit Bescheid vom 27.02.1996 wegen der Gesundheitsstörung "Zustand nach Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" Heilbehandlung einschließlich Versorgungskrankengeld längstens bis 31.12.1998 (§ 82 SVG i. V. m. BVG). Den Antrag auf Gewährung von Versorgung nach § 80 SVG lehnte der Beigeladene mit der Begründung ab, an die Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom 05.02.1997 gebunden zu sein (Bescheid vom 11.03.1997). Das Widerspruchsverfahren ruht.
Der Kläger hat am 29.12.1997 Klage beim Sozialgericht (SG) Münster erhoben mit der Begründung, die bei ihm diagnostizierte "Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" stehe im Zusammenhang mit dem Wehrdienst. Die Voraussetzungen der "Kann-Versorgung" seien erfüllt. Es liege ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Wehrdienst und dem Auftreten der Erkrankung vor. Zudem sei er von seiner Stammeinheit in D. zum Dienst als Kraftfahrer nach H./S. abkommandiert worden. Dort habe er zumeist sinnlose bzw. ihm nicht nachvollziehbare Fahraufträge erledigen müssen. Zudem seien Verpflegung und Unterbringung in den neuen Bundesländern unzureichend gewesen, sodass man sich überwiegend mit Imbissstubennahrung begnügen musste und in Büro- und Archivräumen geschlafen habe. Dies habe zum allgemeinen Verfall der psychischen Konstitution geführt. In den ärztlichen Stellungnahmen sei nicht nachvollziehbar begründet, warum kein Zusammenhang zwischen der Psychose und dem Wehrdienst bestehe. Entscheidend für den Ausbruch der Krankheit seien die Unzulänglichkeiten während der Wehrdienstzeit, nicht jedoch die damals bevorstehende Scheidung oder andere familiäre Probleme gewesen.
Das SG hat einen Befundbericht der Klinik am S., Klinik für Psychiatrie, angefordert und sodann das Land Nordrhein-Westfalen zum Verfahren beigeladen. Anschließend hat das SG ein Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dr. V. angefordert. Wegen des Einzelheiten wird auf das Gutachten vom 22.04.1999 verwiesen.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 20.01.2000 abgewiesen. Auf die Entscheidung wird Bezug genommen.
Gegen das am 12..02.2000 zugestellte Urteil hat der Kläger am 08.03.2000 Berufung eingelegt. Er verfolgt sein Begehren weiter. Er ist der Ansicht, er habe in den neuen Bundesländern die Tätigkeiten eines Soldaten ausgeübt. Entgegen den Ausführungen des Sachverständigen Dr. V. entspreche es kaum den Bedingungen am Arbeitsmarkt, wenn nach einer Dienstzeit von 13 Stunden die Nahrung in einer Imbissstube aufzunehmen sei. Die langen Arbeitszeiten, die Eigenverpflegung, die schlechte Unterbringung in Archivräumen und der Schlafmangel hätten "zum Verfall der psychischen Konstitution" und zum Ausbruch der Krankheit geführt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 20.01.2000 zu ändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 05.02.1997 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.12.1997 zu verurteilen, bei ihm als Schädigungsfolge eine "Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" anzuerkennen und ihm Ausgleich nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 50 vom Hundert nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie sind der Ansicht, dass der Kläger während seines Einsatzes in den neuen Bundesländern Aufgaben wahrgenommen habe, die im zivilen Leben ebenso vorkommen und mit den gleichen Belastungen verbunden seien. Der Kläger habe die Belastungen jedoch nur subjektiv als schwerwiegend empfunden. Dies sei nicht auf wehrdiensteigentümliche Verhältnisse, sondern auf das Persönlichkeitsgefüge des Klägers zurückzuführen. Zu verweisen sei in diesem Zusammenhang ergänzend auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach das Vorliegen kriegsähnlicher Bedingungen gefordert werde, da die "Kann-Versorgung" dem Sinn und Zweck nach als eine Härtefallregelung aufzufassen sei.
Der Senat hat das Vorerkrankungsverzeichnis der IKK und die Akte der Landesversicherungsanstalt (LVA) Westfalen beigezogen. Sodann hat der Senat ein Gutachten und eine ergänzende Stellungnahme von Prof. Dr. K., Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie, Universität zu K., und ein testpsychologisches Zusatzgutachten von Prof. Dr. S. eingeholt. Wegen der Ergebnisse wird auf die Gutachten/Stellungnahme vom 08.01./24.01.2003 und 31.08.2003 verwiesen.
Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf die Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen. Auch ihr Inhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 05.02.1997 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung einer "Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis" als Schädigungsfolge und die Gewährung von Ausgleich.
Nach § 85 SVG erhält ein Soldat wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung (WDB) während des Dienstes Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerbeschädigtenzulage nach § § 30 Abs. 1 und 31 BVG. Eine WDB ist gemäß § 81 Abs. 1 SVG eine gesundheitlich Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen in dem Dienst erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Dabei müssen die geschützte Tätigkeit, die Schädigung und die Schädigungsfolgen voll, d. h. mit an Sicherheit grenzender, ernste vernünftige Zweifel ausschließender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R). Nach § 81 Abs. 6 Satz 1 SVG genügt zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, so kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung die Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anerkannt werden ("Kann-Versorgung", § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG).
Der Senat geht davon aus, dass beim Kläger eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorliegt, wie dies der Sachverständige Dr. V. überzeugend dargetan hat. Seine Diagnose stimmt im Übrigen mit der Klinik am S., in der der Kläger seit November 1994 mehrfach stationär behandelt wurde, überein.
Da in der medizinischen Wissenschaft noch Klärungsbedarf hinsichtlich der auslösenden Faktoren schizophrener Erkrankungen besteht , was die Sachverständigen Dr. V. und Prof. Dr. K. hervorgehoben haben und sich zudem aus Nr. 69 AP 1996 S. 250 ergibt, kommt eine Anerkennung der Erkrankung als Wehrdienstbeschädigung i. S. v. § 81 Abs. 6 S. 1 SVG nicht in Betracht. Denn schon aufgrund der in der medizinischen Wissenschaft bestehenden Unsicherheit lässt sich die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Kausalzusammenhangs zwischen Wehrdienst und der Erkrankung nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen.
Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 10.11.1993, SozR 3-3200 § 81 Nr. 9) sind Leistungen bei einer nicht auf einem plötzlichen Ereignis beruhenden Erkrankung nur dann zu gewähren, wenn diese entweder nach dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung als Berufskrankheit zu entschädigen ist oder wenn außerordentliche, kriegsähnliche Belastungen festzustellen sind, die eine sogenannte "Kann-Versorgung" rechtfertigen. Handelt es sich bei der Schädigungsursache um unfallunabhängige Krankheiten, bedarf es anderer Abgrenzungskriterien als der Eigenart des Wehrdienstes oder der eng mit ihm verbundenen Verhältnisse. Denn Krankheiten werden regelmäßig nicht auf ein gesichertes äußeres Geschehen zurückgeführt, sondern entwickeln sich aufgrund vielfältiger Einflüsse, denen der Einzelne im Laufe seines Lebens ausgesetzt ist. So zählen u. a. persönliche Lebensweise, Erbanlagen, familiäre Einflüsse und Umwelteinwirkungen hierzu. Auch der Wehrdienst kann bei besonderen Belastungen - u. a. im Rahmen des Grundwehrdienstes - eine Krankheit mitursächlich hervorrufen. Verlässliche Kriterien über die Verursachungsanteile kann die medizinische Wissenschaft vielfach aber nicht in ausreichendem Umfang liefern. Vor denselben Schwierigkeiten stand und steht die gesetzliche Unfallversicherung bei der Beurteilung von beruflich bedingten Krankheiten. Auch dort sind Unfall- und Berufskrankheit voneinander abzugrenzen. Daran hat die Rechtsprechung des BSG zum SVG mehrfach angeknüpft und einen Rückgriff auf das Berufskrankheitenrecht vorgenommen (BSGE 37, 282; SozR 3-3200, § 81 Nrn. 3, 8). Eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis ist in der Berufskrankheitenverordnung (BKVO) nicht aufgeführt. Somit kann die Anerkennung beim Kläger nur unter den besonderen Voraussetzungen des Versorgungsrechts in Betracht kommen. Ausgehend davon, dass das BSG nur die im Versorgungsrecht vorkommende "Kann-Versorgung" von außergewöhnlichen kriegsähnlichen Belastungen abhängig macht, ergibt sich, dass in Friedenszeiten nur besonders nachhaltige Einwirkungen in der Lage sein können, wehrdienstbedingte Erkrankungen mitursächlich hervorzurufen.
Die Voraussetzungen zur Anerkennung einer "Kann-Versorgung" im Sinne von § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG Liegen nicht vor. Nach Nr. 69 AP 1996 wird bei der schizophrenen Psychose von einer multifaktoriellen Entstehung ausgegangen.
Dr. V. betont, dass über die Entstehung der Erkrankung des Klägers in der medizinischen Wissenschaft Unklarheit herrscht. Prof. Dr. K. weist in Kenntnis der Ausführungen von K. Foerster und Prof. Dr. Dr. Dörner darauf hin, dass die Ursache geklärt ist, aber weiterhin unklar ist, was sich im Gehirn abspielt, welche pathologischen Mechanismen ablaufen, wenn es zum Ausbruch der Krankheit kommt. Die Wissenschaft geht davon aus, das konstitutionelle, umwett- und milieubedingte Faktoren gemeinsam für den Ausbruch der Erkrankung verantwortlich sind, wobei erst eine spezifische Verkettung mehrerer Faktoren letztendlich zur Manifestation führt (Vulnerabilitäts-Stressmodell). Letztendlich ist mit Dr. V. und der Stellungnahme von Prof. Dr. K. vom 31.08.2003 unter Bezugnahme auf den Sachverständigenbeiratsbeschluss von November 1999 weiter maßgeblich, dass die Voraussetzungen für eine "Kann-Versorgung" nach den AP 1996 nur dann bejaht werden, wenn
Daran fehlt es. Nach dem vom Kläger vorgetragenen Sachverhalt und dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere dem Gutachten von Dr. V. und den Berichten der Klinik am S. ist davon auszugehen, dass keine adäquate Belastung vorliegt. Hinzuweisen ist zunächst auf die Rechtsprechung des BSG (BSG , Urteil vom 10.11.1993, SozR 3-3200, 81 Nr. 3), wonach kriegsähnliche Bedingungen zu fordern sind, da nach Sinn und Zweck des § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG hier eine Härtefallregelung besteht, mit der trotz mangelnden Nachweises der erforderlichen Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs ausnahmsweise die Anerkennung der Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung ermöglicht wird. Bei der Auslegung und bei den Anforderungen an die Schwere der Belastung ist dem Ausnahmecharakter der Vorschrift Rechnung zu tragen. Vor diesem Hintergrund greifen die beim Kläger vorliegenden Belastungen objektiv nicht tief in das Persönlichkeitsgefüge ein. Nach dem eigenen Vortrag des Klägers war er mit anderen Soldaten ab April 1994 nach H./S. abkommandiert. Die Einheit nahm Vermessungsarbeiten für das Katasteramt vor, wobei der Kläger überwiegend als Fahrer tätig war und gelegentlich bei Vermessungsarbeiten Notizen anfertigte. Die Unterbringung geschah behelfsmäßig in Kasernen auf Feldbetten, die Verpflegung erfolgte eigenverantwortlich und zum Teil mit Imbisskost. Diese Lebensbedingungen sind ähnlich denen eines Außendienstarbeiters. Es handelt sich nicht um eine soldatische Tätigkeit, die psychisch besonders belastend war, sondern um eine solche mit privatwirtschaftlichem Anforderungsprofil. Allein die räumliche Trennung von der Familie erfüllt nicht die Voraussetzungen der Nr. 69 der AP 1996. Andere Stressfaktoren sind vom Sachverständigen Dr. V. nicht festgestellt worden.
Der Senat hat keine Bedenken, den Ausführungen des Sachverständigen Dr. V. zu folgen. Sie sind aufgrund ausführlicher ambulanter Untersuchung erstellt worden. Außerdem beachtet er die Grundsätze von Nr. 69 AP 1996 sowie den maßgeblichen Sachverständigenbeiratsbeschluss vom 03./04.11.1999.
Die Belastungen während des Wehrdienstes entsprachen nicht dem Ausnahmecharakter der Nr. 69 AP 1996. Es handelt sich vielmehr um alltägliche Belastungen, die im Berufsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt in gleicher Art und Ausprägung vorkommen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.