Sozialgericht Aachen - S 12 SB 412/13 - Urteil vom 29.04.2014
1. Eine rückwirkende Feststellung des GdB ist möglich, wenn der behinderte Mensch ein besonderes Interesses daran glaubhaft macht. Der dies regelnde § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV ist zwar zwischenzeitlich aufgehoben worden. Der Wegfall der Möglichkeit ein früheres Datum auf dem Ausweis zu vermerken, beruht aber allein darauf, dass aufgrund eines neuen Formats der Ausweise für weitere Daten kein Platz mehr ist. Der Verordnungsgeber ging ausdrücklich davon aus, dass Schwerbehinderte durch die Streichung kein Einbußen ihrer Rechtsposition erleiden und auch in Zukunft die Möglichkeit haben sollen, etwa durch einen entsprechenden Feststellungsbescheid oder eine gesonderte Bescheinigung eine rückwirkende Geltung nachzuweisen.
2. Ein erhöhter PSA-Wert ist nicht spezifisch genug, um das Vorliegen eines Prostata-Karzinoms nachzuweisen. Etwas anders gilt für einen PSA-Anstieg nach Entfernung eines Tumors. Wurde ein Tumor gesichert und kommt es danach zu einem Anstieg des PSA-Wertes, so gibt es hierfür keine andere Ursache als einen Rückfall des Karzinoms oder eine Metastasierung.
Tatbestand:
Zwischen den Beteiligten ist die rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft ab dem 01.07.2011 streitig.
Der am ... geborene Kläger stellte am 02.03.2012 beim Beklagten einen Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung. Er leide unter Prostatakrebs (T2c), Erkrankungen der Wirbelsäule, Einschränkungen der Hüfte, der Knie, des Daumens rechts, der Großzehe rechts, der Schulter rechts, Polyneuropathie in Folge eines Bandscheibenvorfalls, Herzrhythmusstörungen, einem Leistenbruch, einem atopischem Ekzem, Pollen- und Nickelallergie, einer entzündlich-rheumatischen Erkrankung mit Auswirkungen auf die Gelenke sowie einer Fettstoffwechselstörung. Er beantragte die rückwirkende Feststellung ab Dezember 2011.
Der Beklagte holte einen Entlassungsbericht der Klinik C, in der der Kläger vom 14.02.2012 bis 06.03.2012 stationär aufgenommen war, und einen Befundbericht des Allgemeinmediziners und Diabetologen Dr. O ein und wertete diese, neben Arztberichten der AHB Klinik U , des Internisten Dr. C, des Orthopäden Dr. L, des Rheumatologen Dr. L2, des Urologen Dr. X, des Orthopäden X2, der Bethlehem Gesundheitszentrum T gGmbH, der Rheinischen Kliniken E, des Gesundheitszentrum T2 und des Prostata Zentrum des Knappschaftskrankenhauses E2 durch seinen ärztlichen Dienst aus.
Dieser kam zu der Einschätzung der GdB des Klägers sei insgesamt mit 60 zu bewerten. Die Gewebeveränderung der Prostata in Heilungsbewährung bedinge einen GdB von 50, die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule einen GdB von 20, die Suchtkrankheit einen GdB von 20, die Funktionseinschränkungen der unteren Gliedmaße einen GdB von 10 und die Funktionseinschränkung des Herzens einen GdB von 10. Der GdB von 60 könne rückwirkend ab Dezember 2011 festgestellt werden. Die Feststellung des GdB von 60 erfolgte durch den ärztlichen Dienst des Beklagten, nachdem der damit betraute Vertragsarzt zunächst einen GdB von 70 in Vorschlag gebracht hatte. Er hatte die Wirbelsäulenerkrankung und die Suchterkrankung jeweils mit einem GdB von 30 bewertet.
Mit Bescheid vom 14.05.2012 stellte der Beklagte ab dem 02.03.2012 einen GdB von 60 fest. Hiergegen legte der Kläger am 04.06.2012 Widerspruch ein. Er vertrat die Auffassung, der GdB sei mit 70 zu bewerten. Darüber hinaus beantragte er am 17.07.2012, dass bereits ab dem 01.10.2010 ein GdB von 60 bei ihm vorliegt. Nach erneuter Prüfung durch den ärztlichen Dienst kam dieser zu der Einschätzung der GdB sei mit 60 zutreffend bewertet. Da erst im Dezember 2011 der Tumor festgestellt worden sei, komme die Feststellung des GdB von 60 erst ab Dezember 2011 in Betracht. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.08.2012 wies die Bezirksregierung Münster den Widerspruch als unbegründet zurück.
Am 06.12.2012 stellte der Kläger einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X im Hinblick auf den Bescheid vom 14.05.2012. Dieser war darauf gerichtet, dass ein GdB von 50 bereits am 01.07.2011 vorgelegen habe. Zu diesem Zeitpunkt habe für ihn eine Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung begonnen, welche mit erheblichen Abschlägen versehen sei. Diese Abschläge würden bei Nachweis einer Schwerbehinderung deutlich geringer. Ihm sei bereits zum 01.07.2011 ein GdB von 50 für die Prostataerkrankung zuzubilligen. Es sei offensichtlich, dass das Prostatakarzinom nicht erst im Dezember 2011 entstanden sei. Es müsse davon ausgegangen werden, dass es auch schon vorher vorgelegen habe. Dies zeige sich auch in den erhöhten PSA-Werten, die bereits im Februar 2010 gemessen worden seien.
Der Kläger fügte eine Bescheinigung des Urologen Dr. X bei, wonach am 09.02.2010 ein PSA-Wert von 5,09 ng/ml ermittelt und die Verdachtsdiagnose eines Prostatakarzinoms gestellt wurde. Nach einem weiteren Anstieg auf 5,39 ng/ml sei am 08.07.2010 eine Stanzbiopsie der Prostata durchgeführt worden, die eine sog. "fokale high grade prostatische intra epitheliale Neoplasie" (HGPIN) aufdeckte. Unter diesem Begriff seien bis vor Kurzem noch das Vorliegen einer fakultativen Präkanzerose als auch eines intraduktalen Karzinoms der Prostata subsumiert worden. Hier habe man zwischenzeitlich erkannt, dass man insoweit histopathologisch genauer differenzieren müsse. Bei den sich daran anschließenden engmaschigen PSA-Kontrollen und einem weiteren Anstieg auf 9,67 ng/ml sei dann eine sog. Sättigungsbiopsie erfolgt, die den Beweis eines Prostatakarzinoms geliefert habe und den Anlass zur radikalen Entfernung der Prostata gegeben habe.
Der Kläger vertrat überdies die Auffassung, die Suchterkrankung sei mit einem GdB von 20 zu gering bewertet.
Der ärztliche Dienst des Beklagten wertete die Unterlagen erneut aus und kam zu der Einschätzung, der GdB für die Suchterkrankung könne auf 30 angehoben werden. Im Übrigen bleibe es bei den Feststellungen. Das Vorliegen eines Prostatakarzinoms habe vermutet werden können, gesichert sei es erst im Dezember 2011 gewesen. Eine Rückwirkung vor dieses Datum komme nicht in Betracht.
Mit Bescheid vom 18.02.2013 stellte der Beklagte - unter entsprechender Rücknahme des Bescheides vom 01.12.2011 - beim Kläger ab dem 01.12.2011 einen GdB von 70 fest.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, den er im Wesentlichen damit begründete, der GdB von 50 für die Prostataerkrankung habe schon zum 01.07.2011 vorgelegen. Nach erneuter Stellungnahme des ärztlichen Dienstes wies die Bezirksregierung N den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 24.04.2013 als unbegründet zurück.
Am 03.05.2013 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, bei ihm sei - aufgrund der seit längerer Zeit erhöhten PSA-Werte - vom Vorliegen eines Prostatakarzinoms bereits am 01.07.2011 auszugehen, dies umso mehr als im Rahmen einer Stanzbiopsie im Juli 2010 bereits eine hochgradige prostatische intraepitheliale Neoplasie (high grade PIN) festgestellt worden sei. Hilfsweise seien die übrigen Beeinträchtigungen bereits am 01.07.2011 mit einem GdB von 50 zu bewerten gewesen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachinternistisch/hämatologisch-onkologischen Gutachtens nach Aktenlage, welches durch den Leitenden Oberarzt der Klinik für Innere Medizin II des St.-Johannes-Hospitals E, Herrn Dr. I, am 25.08.2013 erstattet worden ist.
Hierzu hat der Kläger am 25.09.2013 Stellung genommen und im Wesentlichen ausgeführt, er halte die Ausführung des Gutachters nicht für überzeugend und er schätze die medizinische Sachlage anders ein. Darüber hinaus hat er auf das Urteil des Landessozialgerichts C vom 25.04.2013 - L 13 SB 3/13 hingewiesen, in welchem bei Vorliegen eines Prostatakarzinoms eine rückwirkende Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft vorgenommen worden war.
Am 25.11.2013 hat der Gutachter Dr. I eine ergänzende Stellungnahme abgegeben.
Am 29.04.2014 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden, in dem der Kläger beantragt hat,
den Bescheid vom 18.02.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.04.20013 teilweise dahingehend abzuändern, dass dem Kläger für die Zeit ab dem 01.07.2011 bis einschließlich November 2011 ein GdB von mindestens 50 zuerkannt wird.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da diese rechtmäßig sind. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 50 für die den Zeitraum ab dem 01.07.2011.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buch des Sozialgesetzbuches - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des Behinderten das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Außerdem stellen diese Behörden gemäß § 69 Abs. 5 Satz 1 SGB IX auf Antrag des Behinderten aufgrund einer Feststellung der Behinderung einen Ausweis über die Eigenschaft als Schwerbehinderter und den GdB aus. Die Einzelheiten der Ausweisausstellung sind in der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.07.1991 (BGBl. I S. 1739), zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung von 07.06.2012 (BGBl. I S. 1275) geregelt. § 6 Abs. 1 Nr. 1 SchwbAwV normiert hierbei, dass auf der Rückseite des Ausweises als Beginn der Gültigkeit des Ausweises der Tag des Eingangs des Antrags auf Feststellung eines GdB einzutragen ist. § 6 Abs. 1 Satz 2 in der bis zur Änderung durch die Dritte Verordnung zur Änderung der Schwerbehindertenausweisverordnung geltenden Fassung (a.F.) war freilich geregelt, dass - sofern auf Antrag des Schwerbehinderten nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses festgestellt worden ist, dass die Eigenschaft als Schwerbehinderter, ein andere GdB oder mehrere gesundheitliche Merkmale bereits zu einem früheren Zeitpunkt vorgelegen haben - zusätzlich das Datum einzutragen war, von dem ab die jeweiligen Voraussetzungen mit dem Ausweise nachgewiesen werden konnten.
Diese Regeln zeigen die besondere Bedeutung der Antragstellung im Rahmen des Schwerbehindertenrechts. Nach der jüngeren Rechtsprechung ist für die rückwirkende Feststellung nur die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses erforderlich (vgl. BSG Urteil vom 16.02.2012 - B 9 SB 1/11 R = juris; Urteil vom 07.04.2011 - B 9 SB 3/10 R = juris; anders noch BSG Urteil vom 29.05.1991 - 9a/9 RVs 11/89 = juris, wonach eine Rückwirkung nur bei offensichtlichen Fällen in Betracht kam).
Das Bundessozialgericht hat in seiner Entscheidung vom 16.02.2012 ausgeführt: "Hinsichtlich der auf Antrag des behinderten Menschen gesetzlich vorgeschriebenen behördlichen Feststellung der Behinderung und des GdB (siehe § 4 Abs. 1 Satz 1 SchwbG, § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX) hat der Senat darauf hingewiesen, dass im Gesetz zwar nicht geregelt war und ist, von welchem Zeitpunkt an diese Entscheidung zu treffen ist. Hinreichende Maßgaben zur Bestimmung des Wirksamkeitsbeginns einer GdB-Feststellung lassen sich jedoch aus dem Sinn und Zweck solcher Feststellungen und dem Erfordernis einer Vermeidung unnötigen Verwaltungsaufwandes herleiten. Dabei ist davon auszugehen, dass es sich um Statusfeststellungen handelt, die in einer Vielzahl von Lebensbereichen die Inanspruchnahme von Vorteilen und Nachteilsausgleichen ermöglichen sollen. Da eine derartige Inanspruchnahme regelmäßig nicht (für längere Zeit) rückwirkend möglich ist, reicht es grundsätzlich aus, wenn die GdB-Feststellung für die Zeit ab Antragstellung erfolgt. Mit der Stellung des Antrags bringt nämlich der behinderte Mensch der Behörde gegenüber sein Interesse an einer verbindlichen Statusfeststellung erstmalig zum Ausdruck. Insofern ist es sachgerecht, von dem behinderten Menschen die Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses zu verlangen, wenn er seinen GdB ausnahmsweise schon für einen vor der Antragstellung liegenden Zeitraum festgestellt haben möchte. Diese aus dem SchwbG - und dem SGB IX - herzuleitenden rechtlichen Grundsätze haben ihren Niederschlag in den gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften über die Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises gefunden. Dazu gehört auch die Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV."
Die Regelung des § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV ist freilich zwischenzeitlich aufgehoben worden. Hierin manifestiert sich aber nicht etwa der Wille des Verordnungsgebers, eine rückwirkende Feststellung gänzlich für unzulässig zu erachten oder aber etwa wieder auf offensichtliche Fälle zu beschränken. Der Wegfall der Möglichkeit ein früheres Datum auf dem Ausweis zu vermerken, beruht allein darauf, dass aufgrund eines neuen Formats der Ausweise für weitere Daten kein Platz mehr ist. Der Verordnungsgeber ging ausdrücklich davon aus, dass Schwerbehinderte durch die Streichung kein Einbußen ihrer Rechtsposition erleiden sollen und auch in Zukunft die Möglichkeit haben sollen, etwa durch einen entsprechenden Feststellungsbescheid oder eine gesonderte Bescheinigung eine rückwirkende Geltung nachzuweisen (BR-Drs. 184/12, S. 8).
Aufgrund der Abschläge bei den Leistungen aus der gesetzlichen Rentenversicherung hat der Kläger nach Auffassung der Kammer das Vorliegen eines besonderen Interesses im Sinne der oben dargelegten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts glaubhaft gemacht. Es kommt damit dem Grunde nach die begehrte rückwirkende Feststellung eines GdB von 50 in Betracht.
Sie scheidet allerdings deswegen aus, weil zum maßgeblichen Zeitpunkt das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen nicht nachgewiesen ist.
Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
Beweisbelastet für das Vorliegen entsprechender gesundheitlicher Beeinträchtigungen ist nach den allgemeinen Regeln im vorliegenden Fall der Kläger. Es gilt der Beweismaßstab des Vollbeweises. Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht erforderlich, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch noch zweifelt, d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (Bayerisches Landessozialgericht Urteil vom 20.03.2012 - L 15 SB 66/11 = juris unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris; so auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 25.04.2013 - L 13 SB 3/13 = juris).
Beim Kläger waren am 01.07.2011 nach diesem Maßstab folgende Beeinträchtigungen nachgewiesen:
1. Funktionseinschränkung der Wirbelsäule 2. Funktionseinschränkung der unteren Gliedmaße 3. Funktionsstörung der oberen Gliedmaße 4. Suchtkrankheit 5. Funktionseinschränkung des Herzens 6. Fettstoffwechselstörung 7. Leistenhernie 8. Psoriasis 9. Blütenpollen- und Nickelallergie 10. Erhöhter PSA-Wert und high grade PIN
Das Vorliegen dieser Beeinträchtigungen steht zur Überzeugung der Kammer aufgrund der vorliegenden Befund- und Arztberichte sowie des Gutachtens des Dr. I fest.
1. Der Kläger stand seit Juni 2009 bei Herrn W2 in fachorthopädischer Behandlung. Dort wurde im März 2011 für den Bereich der Wirbelsäule das Vorliegen einer Osteochondrose, eines degeneratives Wirbelsäulensyndrom und eines HWS-Syndrom mit Blockierung diagnostiziert. Daraus resultierende Beeinträchtigungen sind indes nur als leicht bis mittelgradig objektiviert. So zeigte sich etwa im Rahmen einer EKG-Untersuchung am 13.05.2011 eine insgesamt klopfschmerzfrei Wirbelsäule. Bei der Aufnahme des Klägers in das Gesundheitszentrum T am 31.08.2011 war die Halswirbelsäule zwar eingeschränkt beweglich in allen Richtungen bei einem Kinn-Jugulum-Abstand 2/18 cm, einer Rotation 30°/0°/30° und einer Seitenneigung 10°/0°/10° beidseits. Die Wirbelsäulenmuskulatur war verspannt. Der Finger-Boden-Abstand konnte mit 12 cm ermittelt werden. Es bestanden ein Schmerz bei Vorbeugen und Aufrichten sowie ein Druckschmerz im Bereich der unteren LWS-Region. Das ISG war beidseits frei. Bei der Entlassung war die Rotation der HWS aber rechts 45° und links 30° möglich. Der Finger-Boden-Abstand wurde mit nur noch 2 cm ermittelt. Beim Wiederaufrichten wurden nur leichte Schmerzen angegeben. Im Rahmen der Aufnahme des Klägers in die LVR-Klinik E am 19.10.2011 wurden dann auch keine Besonderheiten der Wirbelsäule beschrieben. Durch die Reha-Klinik C wurde ein Finger-Boden-Abstand von 11cm ermittelt. Die Wirbelsäule war über den Dornfortsätzen weder druck- noch klopfschmerzhaft. Nach Auffassung der Kammer, in Übereinstimmung mit den Feststellungen des Gutachters Dr. I, sind beim Kläger für den hier maßgeblichen Zeitpunkt gemäß leichte bis höchstens mittelgradige funktionelle Auswirkungen im Bereich der Wirbelsäule objektiviert. Mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten sind nicht beschrieben, weswegen für den Bereich der Wirbelsäule ein GdB von 20 in Ansatz zu bringen war.
2. Für den Bereich der unteren Extremitäten sind ein Impingementsyndrom der rechten Hüfte, eine Coxarthrose, ein beidseitiger Senk-Spreizfuß, ein beidseitiger Hallux valgus, eine femoropatellare Arthrose, eine beidseitige Großzehengrundgelenksarthrose, eine beginnende Sprunggelenksarthrose links, Metatarsalgie und Arthralgien bei Psoriasis zu berücksichtigten. Die insoweit beschriebenen funktionellen Auswirkungen sind unterschiedlich. So wird bei der Aufnahme in das Gesundheitszentrum die Hüftbeweglichkeit rechts mit 85°/0°/0° und links mit 100°/0°/0° beschrieben. Bei der Entlassung dann gebessert auf 105°/0°/0°. Im Rahmen des Entlassungsberichts der Klink C wurde dann auch eine altersentsprechend freie Beweglichkeit der unteren Extremitäten festgestellt. Nach den hierdurch objektivierten Beeinträchtigungen ist mit dem Gutachter Dr. I davon auszugehen, dass für den Bereich der unteren Extremitäten gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinschen Grundsätzen keinesfalls ein höherer GdB als 20 in Betracht kommt.
3. Für das Funktionssystem der oberen Gliedmaße ist gemäß Teil B Ziffer 18.13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von mehr als 10 im maßgeblichen Zeitpunkt nicht objektiviert. So diagnostiziert der Orthopäde X2 zwar eine Herbeden-Arthrose und einen Zustand nach ulnarer Seitenbandruptur des rechten Daumengrundgelenks sowie ein Impingementsyndrom links, doch wurden weder bei der Aufnahme in das Gesundheitszentrum Schwäbische Alb Ende August 2011 noch durch die Klink C besondere funktionelle Auswirkungen beschrieben.
4. Der Kläger leidet seit Jahren unter einer Alkoholkrankheit mit wiederholten Entgiftungsmaßnahmen und stationären Behandlungen. Gemäß Teil B Ziffer 3.8 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze in der Fassung der ersten Verordnung zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung, welche seit dem 10.03.2010 in Kraft ist, gilt:
3.8 Psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen
Der schädliche Gebrauch psychotroper Substanzen ohne körperliche oder psychische Schädigung bedingt keinen Grad der Schädigungsfolgen. Die Abhängigkeit von Koffein oder Tabak sowie von Koffein und Tabak bedingt für sich allein in der Regel keine Teilhabebeeinträchtigung. Abhängigkeit von psychotropen Substanzen liegt vor, wenn als Folge des chronischen Substanzkonsums mindestens drei der folgenden Kriterien erfüllt sind: - starker Wunsch (Drang), die Substanz zu konsumieren, - verminderte Kontrollfähigkeit (Kontrollverlust) den Konsum betreffend, - Vernachlässigung anderer sozialer Aktivitäten zugunsten des Substanzkonsums, - fortgesetzter Substanzkonsum trotz des Nachweises schädlicher Folgen, - Toleranzentwicklung, - körperliche Entzugssymptome nach Beenden des Substanzkonsums.
Es gelten folgende GdS-Werte: Bei schädlichem Gebrauch von psychotropen Substanzen mit leichteren psychischen Störungen beträgt der GdS 0-20.
Bei Abhängigkeit: - mit leichten sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 30-40, - mit mittleren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 50-70, - mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten beträgt der GdS 80-100.
Ist im Fall einer Abhängigkeit, die zuvor mit einem GdS von mindestens 50 zu bewerten war, Abstinenz erreicht, muss eine Heilungsbewährung von zwei Jahren ab dem Zeitpunkt des Beginns der Abstinenz abgewartet werden. Während dieser Zeit ist ein GdS von 30 anzunehmen, es sei denn, die bleibenden psychischen oder hirnorganischen Störungen rechtfertigen einen höheren GdS. Weitere Organschäden sind unter Beachtung von Teil A Nummer 2 Buchstabe e der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu bewerten.
Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle sind nach Teil B Nummer 3.7 zu bewerten.
Für die Kammer steht fest, dass beim dem Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt eine Alkoholabhängigkeit bestand. Hieraus resultierten auch bereits soziale Anpassungsschwierigkeiten, die allerdings noch als leichter zu qualifizieren sind. Der Alkoholentzug erfolgte jeweils freiwillig und unter Begleitung und Unterstützung seiner Familie. Trotz suchtbedingter Konflikte wird die familiäre Situation nach den Feststellungen der LVR-Klinik nicht als wesentlich beeinträchtigt beschrieben. Nach alledem ist der GdB für das Funktionssystem Psyche, auch unter Berücksichtigung der Kenntnis vom Anstieg der PSA-Werte, zum maßgeblichen Zeitpunkt mit 30 zutreffend zu bewerten.
5. Der Kläger leidet seit Längerem unter arterieller Hypertonie, welche mit einem Betablocker behandelt wird. Der zeitweilig hohe Alkoholkonsum hat sich nachteilig auf den Blutdruck ausgewirkt. Ein Echokardiographie zeigte im Dezember 2011 aber eine reguläre Pumpleistung und keine Hinweise auf Folgeschäden am Herzen. In der Klinik C wird im März 2012 eine gute Leistungsfähigkeit auch bei der Ergometrie beschrieben. Gemäß Teil B Ziffer 9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist für das Funktionssystem Herz und Kreislauf ein höherer GdB als 10 nicht objektiviert.
6. bis 9. Die bestehende, medikamentös behandelte Fettstoffwechselstörung zeitigte seinerzeit keine Folgeerkrankungen, so dass gemäß Teil B Ziffer 15.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB hierfür nicht in Ansatz zu bringen war. Da eine erhebliche Einschränkung der Belastungsfähigkeit des Klägers aufgrund der bestehenden Leistenhernie zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht objektiviert war, kommt gemäß Teil B Ziffer 11.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ebenfalls kein GdB in Betracht. Die beim Kläger durch die Psoriasisarthritis versuchten Beschwerden wurden bereits bei der Bewertung der Gelenke und der Wirbelsäule mit berücksichtigt. Im Übrigen wurde ein besonderer Befall nicht beschrieben. Auch wurden wesentliche Beeinträchtigungen durch die diagnostizierten Allergien nicht nachgewiesen, so dass gemäß Teil B Ziffer 17.7 und 17.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von mehr als 10 keinesfalls in Betracht kommt.
10. Zum maßgeblichen Zeitpunkt war gemäß Teil B Ziffer 13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze beim Kläger kein GdB in Ansatz zu bringen. Voraussetzung für die Feststellung eines GdB - wie oben bereits dargelegt - ist der Nachweis des Vorliegens einer entsprechenden gesundheitlichen Beeinträchtigung im Vollbeweis. Dies ist schon aus Gründen der Rechtssicherheit und Gleichbehandlung geboten.
Im vorliegenden Fall war beim Kläger vor dem Zeitpunkt des Vorliegen des Ergebnisses der Prostatastanzbiopsie im Dezember 2011 für das Funktionssystem der männlichen Geschlechtsorgane das Vorhandenseins eines Karzinoms nach medizinisch-wissenschaftlicher Lehrmeinung nicht nachgewiesen. Dies steht zur Überzeugung der Kammer auf Grund des Gutachtens des Dr. I nebst ergänzender Stellungnahme fest.
Das Gutachten ist von einem erfahrenen medizinischen Gutachter erstellt worden und die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der im in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde, gestellten Diagnosen und gezogenen Schlussfolgerungen zu zweifeln. Soweit der Klägerbevollmächtigte die Ergebnisse des Gutachtens in Zweifel gezogen hat überzeugt dies nicht. Es handelt sich hierbei um Mutmaßungen, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nach Auffassung der Kammer nicht standhalten, wie auch die ergänzende Stellungnahme des Gutachters Dr. I gezeigt hat.
Insbesondere die Annahme des Klägers und seines Bevollmächtigten, bereits ab dem 01.07.2011 habe jedenfalls ein Tumor vorgelegen ist - nach den überzeugenden Ausführungen des Gutachters - medizinisch nicht nachvollziehbar. Danach ist die Diagnose eines Prostatakarzinoms erst dann sicher, wenn diese histologisch nachgewiesen ist. Die Frage, wann es zum Übergang von dem vorbestehenden high grade PIN zum Karzinom gekommen ist, kann nur spekulativ beantwortet werden. Das Tumorwachstum ist, worauf der Gutachter zutreffend hinweist, kein lineares Geschehen bei dem man aus verschiedenen bekannten Variablen (PSA-Werte, Größe, Erscheinungsbild und vorbestehendes high grade PIN) extrapolieren kann, wann genau der Übergang zum Karzinom erfolgt ist. Nach Auffassung der Kammer kommt es bei der Feststellung eines GdB für ein Prostatakarzinom aber gerade darauf an, dass das Vorliegen dieses Karzinoms nachgewiesen ist. Mutmaßungen begründen insoweit keinen GdB. Soweit der Kläger darauf hinweist, dass es bei ihm bereits seit längerer Zeit zu einem Anstieg des PSA-Wertes gekommen war, so verkennt die Kammer diese Tatsache nicht. Mit dem Gutachter ist davon auszugehen, dass vor einer Prostataentfernung ein erhöhter PSA-Wert gerade nicht spezifisch genug ist, um beim Kläger sicher vom Vorliegen eines Tumors auszugehen.
Etwas anders gilt für einen PSA-Anstieg nach Entfernung eines Tumors. Wurde ein solcher gesichert und kommt es danach zu einem Anstieg des PSA-Wertes so gibt es hierfür praktisch keine andere Ursache als einen Rückfall des Karzinoms oder eine Metastasierung. Entsprechend kann in letzterem Fall nach Auffassung des Sachverständigenbeirats auch vom Vorlegen eines malignen Geschehens ausgegangen werden (vgl. dazu Wendler, Versorgungsmedizinische Grundsätze, 5. Aufl. 2012, S. 235). So liegt der Fall aber hier gerade nicht.
An dieser Feststellung ändern auch die Ausführungen des Landessozialgerichts C in seinem Urteil vom 25.04.2013 - L 13 SB 3/13 nichts. Dort war offensichtlich im Februar 2008 der PSA-Wert des dortigen Klägers auf einen "abklärungswürdigen" Wert angestiegen. Am 02.04.2008 war dann eine Biopsie durchgeführt worden, die das Vorliegen eines Karzinoms bestätigte. Das Landessozialgericht verwies in seinem Urteil ebenfalls darauf hin, dass nach den dortigen Feststellungen "nach medizinischen Maßstäben nur darauf geschlossen werden könne, dass Karzinom höchstwahrscheinlich vorliege" Aufgrund der kurzen Zeit zwischen festgestellten PSA-Anstiegs und der Biopsie - es waren dies gerade einmal zwei Monate - war das Landessozialgericht davon überzeugt, dass mit an eine "Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit " bei dem dortigen Kläger bereits im Februar 2008 ein maligner Prostatatumor bestand, der mit einem GdB von 50 zu bewerten war.
Diese Überzeugung konnte die Kammer im vorliegenden Fall aber gerade - unter Berücksichtigung der vorliegenden Arztberichte und des Gutachtens des Dr. I - nicht gewinnen. So war schon die Frist zwischen Sicherung der Diagnose "Prostatakarzinom" und begehrtem Feststellungsdatum schon länger. Im vorliegenden Fall waren dies fünf Monate. Darüber hinaus handelte es sich im vorliegenden Fall um einen verhältnismäßig schnellwachsenden G3 Tumor, der - unter Berücksichtigung der vorliegenden Werte - durchaus auch erst in der Zeit zwischen Juli und Dezember 2011 sich entwickelt haben kann. Schon vor diesem Hintergrund steht für die Kammer gerade - in Übereinstimmung mit dem eingeholten fachmedizinischen Gutachten - nicht "mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit" fest, dass der Tumor bereits im Juli 2011 vorhanden war. Der erforderliche Beweis des Vorliegens ist damit nicht geführt.
Die Kammer verkennt auch nicht die Bedeutung des vorliegenden Rechtsstreits für den Kläger und kann auch den Hinweis des Klägers, es handele sich doch nur um eine Erhöhung des GdB um 10 für ein paar Monate, vor diesem Hintergrund auch durchaus nachvollziehen. Wie aber bereits oben ausgeführt, ist - schon aus Gründen der Rechtssicherheit und damit verbunden aus Gleichbehandlungsgrundsätzen - der Nachweis des Vorliegens einer gesundheitlichen Beeinträchtigung unabdingbar für die Feststellung eines GdB. Nachgewiesen ist im entscheidungsrelevanten Zeitpunkt aber lediglich ein erhöhter PSA-Wert sowie ein high grade PIN, welcher allein nicht die Feststellung eines GdB bedingt entsprechend Teil B Ziffer 13 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze bedingt.
Auf der Grundlage der genannten Einzel-GdB-Werte ist bei dem Kläger für den maßgeblichen Stichtag (01.07.2011) nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze kein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).
Im vorliegenden Fall stehen die psychischen Beeinträchtigungen mit einem GdB von 30 im Vordergrund. Die daneben bestehenden Beeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule und der unteren Extremitäten sind mit einem GdB von 20 zu bewerten, wobei letztere gerade so eben erreicht sind. Insgesamt bedingte dies einen GdB von 40. Die übrigen Beeinträchtigungen sind entsprechend den Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem GdB von 10 zu bewerten und nehmen in der Regel an der Bildung des Gesamt-GdB nicht teil. Ausnahmen, die im vorliegenden Fall eine Berücksichtigung gleichwohl erforderlich machten, liegen nicht vor. Die Feststellung eines Gesamt-GdB von 50 oder mehr kommt zum maßgeblichen nicht in Betracht, da das Gesamtausmaß der Behinderung des Klägers insgesamt nicht mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen lässt, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben, wie es Teil A Nr. 3 lit b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorschreibt (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Eine Vergleichbarkeit mit Menschen, mit Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen, wie z. B. die Versteifung großer Teile der Wirbelsäule - eine Beeinträchtigung, die nach Teil B Nr. 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem Einzel-GdB von 50 zu bewerten ist - oder aber mit Verlust der Gebrauchsfähigkeit eines Armes liegt nicht vor. Eine vergleichbare Einschränkung der Beweglichkeit und Mobilität und damit der gesellschaftlichen Teilhabe ist bei dem Kläger - auch unter zusätzlicher Berücksichtigung der übrigen Erkrankungen - nicht gegeben. Auch ist der Kläger nicht vergleichbar mit Personen mit schweren seelischen Störungen, welche mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten nach sich ziehen. Die Feststellung eines GdB von 40 für die Zeit ab dem 01.07.2011 entsprach nicht dem Klagebegehren des Klägers. Für eine solche rückwirkende Feststellung war im Übrigen auch kein besonderes Interesse glaubhaft gemacht. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.