SG Aachen – Az.: S 12 SB 7/03 - Urteil vom 08. September 2003 |
Der Nachteilsausgleich „aG“ kann auch zustehen, wenn Wegstrecken von 150 Metern zurückgelegt werden können.
Der Kläger begehrt die Gewährung des Nachteilsausgleiches "aG".
Der am .... geborene Kläger hat aufgrund von Verschleißveränderungen der Wirbelsäule und Funktionseinschränkungen der Gliedmaßen einen Gesamtgrad der Behinderung von 70. Zudem hat die Beklagte bei ihm seit 1988 den Nachteilsausgleich "G" anerkannt.
Am 11.07.2002 beantragte der Kläger die Erhöhung seines Grades der Behinderung und den Nachteilsausgleich "aG". Sein gesamter gesundheitlicher Zustand habe sich verschlimmert. Er legte ein Attest von dem Internisten Dr. V. vor, wonach er unter einer Lumboischialgie mit Gefühlsstörungen und Paresen leide. Desweiteren liegt ein Arztbericht des Neurologen Prof. Dr. N. vor. Der Beklagte ließ einen Befundbericht durch den Internisten Dr. V. erstellen. Mit Bescheid vom 29.08.2002 lehnte er den Antrag ab. Der Kläger gehöre nicht zu dem Personenkreis, bei dem eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliege. Mit seinem Widerspruch vom 09.09. 2002 machte der Kläger geltend, er sei nicht mehr in der Lage, seine Wohnung allein zu verlassen. Außerhalb seines PKW s könne er sich nur mit großer Anstrengung bewegen. Er reichte Arztberichte von dem Neurochirurgen Dr. B. dem Neurologen Dr. H. sowie den Entlassungsbericht der L. Kliniken ein. Die Beklagte ließ den Kläger daraufhin durch ihren ärztlichen Dienst untersuchen. Dieser Arzt war der Auffassung, dass das Gangbild beim Kläger zu ebener Erde mit zwei Unterarmgehstützen im sicheren Kreuzschritt verlangsamt und Schrittlängen reduziert, keinesfalls aber mühsam gezeigt wurden. Auch erfolgte das An- und Auskleiden sowie das Besteigen und Verlassen der Untersuchungsliege bei morbider Adipositas insgesamt verlangsamt, jedoch ohne auffällige Ausweichsbewegungen. Mit Widerspruchsbescheid vom 10.12.2002 wies der Beklagte den Widerspruch unter Bezugnahme hierauf zurück.
Hiergegen richtet sich die am 16.01.2003 erhobene Klage. Der Kläger behauptet, aufgrund der Schädigungen der unteren Extremitäten in erheblichem Ausmaß sei eine Fortbewegung nur mit erheblichen Beschwerden für kurze Strecken möglich. Er sei auf einen Rollator angewiesen. Wegen der zusätzlichen Beschwerden im Bereich beider Oberarme sei auch die Benutzung des Rollators nur selten und auf wenigen Metern möglich.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid vom 29.08.2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.12.2002 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Nachteilsausgleich "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, die medizinischen Voraussetzungen für eine erhebliche Gehbehinderung ließen sich nicht begründen. Der Kläger sei nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Er könne Gehstrecken unter 150 Meter Länge noch mit Unterarmgehstützen in zumutbarer Zeit zurücklegen.
Das Gericht hat ein Gutachten von dem Internisten und Arbeitsmediziner Dr. M. eingeholt. Dieser kommt zu dem Ergebnis, dass der Kläger mit der bei ihm bestehenden Spinalkanalstenose mit einer Quadrizepslähmung links und Belastungsschmerzen hauptsächlich im linken Bein zum Gehen auf die Benutzung zweier Unterarmgehstützen angewiesen ist. Damit könne er sich nur mit großer Anstrengung außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen. Er sei nur in der Lage, eine ununterbrochene Gehstrecke von etwa 55 Meter in ca. 2 Minuten zurückzulegen. Mit Pausen könnte er noch 150 Meter in etwa 10 Minuten gehen. Um einer alsbaldigen weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes entgegenzuwirken, sei er nicht auf einen Rollstuhl angewiesen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird im übrigen auf das Gutachten verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist begründet. Der Kläger ist durch die angefochtene Entscheidung im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, denn er hat einen Anspruch auf die Zuerkennung des Nachteilsausgleiches "aG".
Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch die gesundheitlichen Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist. Eine derartige Feststellung eröffnet den Zugang zu steuerlichen Vorteilen und straßenverkehrsrechtlich zu Parkerleichterungen als Autofahrer. Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz in Verbindung mit Nr. 11 der zu § 46 StVO erlassenen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift vom 20.07.1976 sind Parkerleichterungen für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gebehinderung unter folgenden Voraussetzungen erlaubt:
Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Hierzu zählen:
Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen zu können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind.
Zwar gehört der Kläger nicht zu einer in dieser Verwaltungsvorschrift beispielhaft aufgeführten Gruppe von schwerbehinderten Menschen, er kann nach den Kriterien dieser Norm aber als außergewöhnlich gehbehindert angesehen werden, weil er diesem Personenkreis gleichzustellen ist. Für eine solche Gleichstellung hat die Rechtsprechung folgende Maßstäbe entwickelt:
Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die oben aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 23). Die Vorschrift richtet sich demnach an Schwerbehinderte mit "außergewöhnlicher Gehbehinderung", fordert also nicht den vollständigen Verlust der Gehfähigkeit, sondern lässt ein - gegebenenfalls erst durch orthopädische Versorgung ermöglichtes - Restgehvermögen zu. Die Gehfähigkeit muss nur so stark eingeschränkt sein, dass es den Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen.
Dies ist im vorliegenden Falle bei dem Kläger gegeben. Aufgrund der bei ihm bestehenden zahlreichen Erkrankungen, insbesondere im orthopädischen Bereich, durch das rezidivierende Wirbelsäulensyndrom mit starken Einschränkungen der Hals-Brust- und Lendenwirbelsäule, Hyertonus, Übergewicht, Beeinträchtigung der Verdauungsorgane, einer Fettleber sowie Bewegungsschmerzen in beiden Hüftgelenken und Verdacht auf degenerative Veränderungen der Kniegelenke und einer Periarthropathie beider Schultergelenke mit Bewegungseinschränkung ist er erheblich beeinträchtigt. Wie bereits der Sachverständige Dr. M. ausführt, kann der Kläger insbesondere aufgrund der Spinalkanalstenose mit einer Quadrizepslähmung links und Belastungsschmerzen hauptsächlich im linken Bein sich nur mit der Benutzung zweier Unterarmgehstützen fortbewegen. Hierbei muss er sich sehr anstrengen. 55 Meter kann er in zwei Minuten zurücklegen. Für 150 Meter maximale Gehstrecke benötigt er etwa 10 Minuten. Dabei sollte er keinen Rollstuhl benutzen, um einer alsbaldigen weiteren Verschlechterung seines Gesundheitszustandes entgegenzuwirken. Nach Auffassung des Sachverständigen Dr. M. ist der Kläger in ähnlicher Weise gehbehindert wie ein Oberschenkelamputierter, der kein Kunstbein tragen kann. Eine Begleitperson kann ihm beim Gehen nicht nennenswert helfen, da diese nicht verhindern könnte, dass die Schmerzen im linken Bein bei Gehbelastungen auftreten.
Die Kammer folgt der Einschätzung dieses Sachverständigen. Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von dem erfahrenen medizinischen Sachverständigen unter Einsatz vielfältiger Hilfsmittel durchgeführt worden sind. Die Kammer sieht keinen Anlass, an der Richtigkeit und Vollständigkeit des Gutachtens zu zweifeln. Einwendungen gegen die im Gutachten erhobenen Diagnosen und Feststellungen werden weder vom Kläger noch von dem Beklagten erhoben.
Im Gegensatz zur Auffassung des Beklagten sind damit auch die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" erfüllt. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich weder griffig quantifizieren noch qualifizieren (vgl. BSG-Urteil vom 10.12.2002, Az.: B 9 SB 7/01 R). Es gibt keinen exakten Beurteilungsmaßstab, um den berechtigten Personenkreis nach dem gesteigerten Energieaufwand beim Gehen abzugrenzen. Daher taugt auch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke dazu nicht. Auch stellen die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies noch möglich ist, nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich (insbesondere Parkerleichterung) auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG aaO). Bei dem Kläger ist diese Gehfähigkeit demnach in entsprechendem hohen Maße eingeschränkt. Er leidet bereits bei den ersten Schritten unter erheblichen Schmerzen aufgrund der Wirbelsäulenproblematik mit den weiteren Einschränkungen auf internistischem und orthopädischem Gebiet. Darüber hinaus ist das Gehen mit zwei Unterarmgehstützen auch äußerst beschwerlich. Der Kläger hat keine Möglichkeit, sich mit einem Arm woanders festzuhalten oder mit diesem Arm Signale an Dritte zu geben. Er ist bereits nach sehr kurzer Strecke, das heißt nach 55 Metern erschöpft und muss eine Pause einlegen, um neue Kräfte zu sammeln, bevor er weiter gehen kann. Auch die Tatsache, dass er insgesamt mit Pausen in etwa 10 Minuten bis zu 150 Meter gehen kann, steht der Gewährung des Nachteilsausgleichs "aG" nicht entgegen. Eine derartige Distanz muss regelmäßig zurückgelegt werden, um von den entsprechenden privilegierten Sonderparkplätzen in der Nähe von Behörden und Kliniken bzw. vor Wohnungen und Arbeitsstätten zu diesen Gebäuden zu kommen und die innerhalb der Gebäude i.d.R. längeren Flure entlangzugehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.