LSG Schleswig-Holstein - S 2 SF 12/05 SK - Beschluss vom 12.09.2006
Setzt man die Kriterien des § 14 RVG ins Verhältnis zur Rahmengebühr, dann ist die Mittelgebühr immer dann angebracht, wenn der zeitliche Aufwand und die Intensität der Arbeit für den Rechtsanwalt einen durchschnittlichen Aufwand erfordert haben.
Ein Verfahren, in dem es um 4.152,00 EUR geht, ist hinsichtlich des Streitwertes nicht zu vergleichen mit den in der Sozialgerichtsbarkeit üblichen Renten- und Lohnersatzleistungen, die sich meist über Jahre erstrecken und die Existenz des Berechtigten und eventuell seiner Familienangehörigen absichern.
Auch die Terminsgebühr ist nach den Kriterien des § 14 RVG festzusetzen. Die Abgeltung der anwaltlichen Tätigkeit durch unterschiedliche Rahmengebühren verbietet es, die Kriterienbewertung nach § 14 RVG bei der einen Rahmengebühr blindlings auf die andere Rahmengebühr zu übertragen. Es kann durchaus vorkommen, dass ein unterdurchschnittlicher Verfahrensaufwand betrieben wird, die mündliche Verhandlung sich aber sehr schwierig gestaltet und überdurchschnittlich lange dauert. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Die sehr aufwändige schriftliche Vorbereitung kann zu einer extrem kurzen mündlichen Verhandlung führen.
Gründe:
Die Beteiligten streiten über die Höhe der anwaltlichen Vergütung.
Der Antragsteller war dem Kläger des Verfahrens S 3 AL 107/04 im Wege der Prozesskostenhilfe als Prozessbevollmächtigter beigeordnet (Beschluss vom 18. Oktober 2004). Zuvor war in diesem Verfahren in der Zeit vom 12. Mai bis 4. Oktober 2004 ein anderer Rechtsanwalt bevollmächtigt. In der Sache ging es dem Kläger um Fahrkosten zur Berufsschule in Höhe von 173,00 EUR monatlich. Diese Leistung hatte die Beklagte im Rahmen der Berufausbildungsbeihilfe gewährt, dann aber mit Wirkung vom 1. Februar 2004 eingestellt. Der Kläger begehrte ihre Weiterzahlung bis zum Ausbildungsende am 31. Januar 2006.
Nach Akteneinsicht nahm der Antragsteller an der mündlichen Verhandlung vom 17. Februar 2005 teil. Diese dauerte eine halbe Stunde. Eine Beweisaufnahme fand nicht statt. Das Verfahren endete mit dem zusprechenden Urteil vom 17. Februar 2005.
In seiner Kostenrechnung vom 25. Februar 2005 machte der Antragsteller eine Verfahrensgebühr nach Nr. 3102 VVRVG in Höhe von 250,00 EUR (Mittelgebühr) und eine Terminsgebühr nach Nr. 3106 VVRVG von 200,00 EUR (Mittelgebühr) sowie weitere hier nicht umstrittene - Gebühren geltend. Die Kostenbeamtin des Sozialgerichts bewilligte nur die Hälfte der streitbefangenen Gebühren (Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. April 2005). Sie ging von einem unterdurchschnittlichen Streitverfahren aus. Die zugestandene Vergütung belief sich auf 336,98 EUR.
Auf die Erinnerung hiergegen äußerte sich der Geschäftsleiter des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts am 27. April 2005. Nachdem sich auch der Antragsteller am 13. Mai 2005 schriftsätzlich Stellung bezogen hatte, hat das Sozialgericht den Kostenfestsetzungsbeschluss abgeändert und die zu erstattenden Kosten antragsgemäß auf 597,98 EUR festgesetzt (Beschluss vom 4. Oktober 2005).
Hiergegen richtet sich die fristgemäße Beschwerde des Geschäftsleiters des Schleswig-Holsteinisches Landessozialgerichts, der zur Begründung auf seinen Schriftsatz vom 27. April 2005 verweist. Das Sozialgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und das Verfahren an das Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht abgegeben. Dem Senat liegen die Akten des Verfahrens L 1 B 320/05 SF SK sowie die Streitakte S 3 AL 107/04 vor. Auf den Inhalt dieser Akten, auf die gewechselten Schriftsätze sowie die ergangenen Beschlüsse wird im Übrigen Bezug genommen.
Die Entscheidung des Sozialgerichts ist rechtlich nicht haltbar.
Nach § 3 RVG in Verbindung mit § 45 RVG ist ein Prozesskostenhilfe-Anwalt vor den Sozialgerichten ebenso zu vergüten wie ein Wahlanwalt. Der Anwalt hat deshalb auch § 14 RVG zu beachten. Danach bestimmt der Rechtsanwalt die Gebühr im Einzelfall unter Berücksichtigung aller Umstände, vor allem des Umfangs und der Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, der Bedeutung der Angelegenheit sowie der Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Auftraggebers nach billigem Ermessen. Gegebenenfalls ist auch das Haftungsrisiko zu berücksichtigen. Ist die Gebühr von der Staatskasse zu ersetzen - wie es bei der Prozesskostenhilfe der Fall ist - dann ist die vom Rechtsanwalt getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn sie unbillig ist. Unbilligkeit liegt vor, wenn die in § 14 Satz 1 aufgeführten Kriterien - auch unter Berücksichtigung eines gewissen Beurteilungsspielraums - objektiv nicht hinreichend beachtet sind. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Die Kostenrechnung vom 25. Februar 2005 ist unbillig. Die Verfahrensgebühr ist nicht in Höhe der Mittelgebühr auszusetzen. Die Verfahrensgebühr ist in sozialgerichtlichen Streitigkeiten eine Rahmengebühr und beträgt 40,00 bis 460,00 EUR. Sie deckt das Betreiben des Geschäfts einschließlich der Information ab (amtliche Vorbemerkung 3 zu Teil 3 VVRVG). Setzt man die Kriterien des § 14 RVG ins Verhältnis zur Rahmengebühr, dann ist die Mittelgebühr immer dann angebracht, wenn der zeitliche Aufwand und die Intensität der Arbeit für den Rechtsanwalt einen durchschnittlichen Aufwand erfordert haben. Das ist hier nicht der Fall. Das normale sozialgerichtliche Verfahren läuft so ab, dass der Kläger durch seinen Anwalt eine Klagschrift einreicht und sich dann ein Schriftwechsel zwischen den Beteiligten entwickelt. Sehr häufig erfolgen gerichtliche Ermittlungen, zu denen die Beteiligten Stellung beziehen können. All diese Arbeit ist hier für den Antragsteller nicht angefallen. Nach der Akteneinsicht hat der Antragsteller keinen Schriftsatz gefertigt. Er hat auch keine Schriftsätze der Gegenseite annehmen und bearbeiten müssen. Der dokumentierte Zeitaufwand hat deshalb weit unter dem gelegen, was in einem sozialgerichtlichen Verfahren normalerweise anfällt. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts kann nicht gebührenerhöhend berücksichtigt werden, dass der Antragsteller im vorangegangenen Eilverfahren einen fünfseitigen Schriftsatz gefertigt hat. Für seine Arbeit im Eilverfahren ist der Antragsteller gesondert entschädigt worden. Eher lässt sich umgekehrt argumentieren: durch die Arbeit im Eilverfahren ist der Arbeitsaufwand für das Hauptverfahren geringer gewesen.
Auch die Bedeutung des Verfahrens für den Kläger berechtigt nicht zu der Festsetzung der Mittelgebühr. Streitgegenstand waren Fahrkosten für 24 Monate in Höhe von 173,00 EUR monatlich. Es ging dem Kläger also insgesamt um 4.152,00 EUR. Dieser Streitwert ist nicht zu vergleichen mit den in der Sozialgerichtsbarkeit üblichen Renten- und Lohnersatzleistungen, die sich meist über Jahre erstrecken und die Existenz des Berechtigten und eventuell seiner Familienangehörigen absichern. Dass der Kläger ohne Fahrkostenübernahme seine Ausbildung hätte abbrechen müssen, ist nicht belegt. Nach einer Gesamtschau aller Umstände und aller Kriterien des § 14 RVG ist die halbe Mittelgebühr angemessen.
Gleichermaßen unbillig ist es, die Terminsgebühr in Höhe der Mittelgebühr geltend zu machen. Die Terminsgebühr in sozialrechtlichen Streitigkeiten beträgt 20,00 bis 380,00 EUR (Nr. 3106 VVRVG). Auch diese Rahmengebühr ist nach den Kriterien des § 14 RVG festzusetzen. Die Abgeltung der anwaltlichen Tätigkeit durch unterschiedliche Rahmengebühren verbietet es, die Kriterienbewertung nach § 14 RVG bei der einen Rahmengebühr blindlings auf die andere Rahmengebühr zu übertragen. Es kann durchaus vorkommen, dass ein unterdurchschnittlicher Verfahrensaufwand betrieben wird, die mündliche Verhandlung sich aber sehr schwierig gestaltet und überdurchschnittlich lange dauert. Auch der umgekehrte Fall ist denkbar: Die sehr aufwändige schriftliche Vorbereitung kann zu einer extrem kurzen mündlichen Verhandlung führen. Die Verfahrens- und die Terminsgebühr sind daher differenzierend zu betrachten. Es sind stets zwei sorgfältige Prüfungen nach Nr. 3102 und Nr. 3106 VVRVG erforderlich. Demgemäß hat auch der Anwalt entsprechend ausführlich darzustellen, warum die jeweilige Rahmengebühr von ihm in der geltend gemachten Höhe begründet ist.
Im vorliegenden Fall hat der Antragsteller nicht dargetan, weshalb die mündliche Verhandlung umfangreich und schwierig gewesen ist und den Grad des Durchschnittlichen erreicht hat. Die Verhandlung hat 30 Minuten gedauert. Wie aus dem Urteil vom 17. Februar 2005 ersichtlich ist, war der Sachverhalt klar und übersichtlich und erforderte keine gerichtlichen Ermittlungen oder Beweiserhebungen. Es galt eine rechtliche Frage zu erörtern. Zwar führt der Antragsteller aus, die erörterte Frage sei rechtlich schwierig gewesen. Diese Einschätzung ist aber subjektiv und kann nicht Maßstab einer an objektivierbaren Anhaltspunkten orientierten Kostenfestsetzung sein. Außerdem entspricht der Schluss, dass die Erörterung schwieriger Rechtsfragen eine schwierige Verhandlung nach sich ziehe, nicht der gerichtlichen Praxis. Wenn die Richter den rechtlichen Ausführungen des Anwalts folgen, wird dies in aller Regel für den Anwalt eine leichte Verhandlung sein. Schwierig kann für ihn dann allenfalls die Vorbereitung auf die Verhandlung gewesen sein. Diese Vorbereitung ist aber durch die Verfahrensgebühr abgegolten. Nach der amtlichen Vorbemerkung Nr. 3 Abs. 3 zu Teil 3 VVRVG deckt die Terminsgebühr ausdrücklich nur die Vertretung in einem Termin ab.
Bei der Überlegung, ob eine halbstündige Verhandlung die Hälfte der Mittelgebühr rechtfertigt, geht der Senat davon aus, dass der Aufwand des Anwalts für eine extrem kurze und extrem leichte Verhandlung nach dem Willen des Gesetzgebers mit 20,00 EUR abgegolten wird. Für die extrem schwierige und extrem lange Verhandlung sind dagegen 380,00 EUR vorgesehen. Demzufolge rechtfertigt eine Verhandlung, deren Schwierigkeitsgrad und Länge im durchschnittlichen Bereich liegt, eine Vergütung von 200,00 EUR. Um festzustellen, wie lange eine durchschnittliche Verhandlung in der ersten Instanz der Sozialgerichtsbarkeit dauert, hat der Senat statistische Erhebungen durchgeführt. Aus jedem Sozialrechtsgebiet wurden 20 Akten darauf durchgesehen, wie lange die erstinstanzliche Verhandlung gedauert hat, ungeachtet, ob eine Beweisaufnahme erfolgt war oder nicht. Als Durchschnittswert ergab sich hierbei eine Verhandlungsdauer in der ersten Instanz von 48,47 Minuten. Der Senat ist der Auffassung, dass hiermit auf hinreichend sicherer Basis eine durchschnittliche Verhandlungsdauer von gerundet 50 Minuten festgestellt ist. Dauert die Verhandlung so lange, rechtfertigt sich die Mittelgebühr nach Nr. 3106 VVRVG, sofern nicht Besonderheiten des Einzelfalles geltend gemacht werden oder auffallen. Die Hälfte der Mittelgebühr wäre demnach bei 25 Minuten anzusetzen. Da den Kostenbeamten jedoch ein Entscheidungsspielraum zuzugestehen ist, ist im vorliegenden Fall die Festsetzung der halben Mittelgebühr rechtlich tragbar und nicht zu beanstanden.
Nach alldem muss es bei dem Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. April 2005 bleiben. Der Antragsteller ist mit 336,98 EUR zu vergüten.
Dieser Beschluss ist nach § 56 Abs. 2 Satz 2 RVG gebührenfrei. Kosten werden nicht erstattet.
Die Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).