SG Dortmund - S 3 SB 58/07 - Urteil vom 07.12.2007
Da die Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit keine Vorgaben für eine komplexe Funktionsstörung als Folge einer Kinderlähmung enthalten, ist eine Analog-Bewertung vorzunehmen. Wenn die Folgen der Kinderlähmung mehrere Organsysteme, schwerpunktmäßig das rechte Bein, den unteren Rücken und den rechten Fuß betreffen, ist es zweckmäßig diesen Beeinträchtigungskomplex unter dem Begriff des Nervenleidens zusammenzufassen. Damit sind insbesondere die verminderte Funktion des rechten Beines und die daraus resultierenden fehlstatischen Belastungen der Lendenwirbelsäule erfasst.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um den Behinderungsgrad des Klägers.
Mit Bescheid vom 15.11.1995 hatte das beklagte Land bei dem am .. . .. .1972 geborenen Kläger einen Grad der Behinderung (GdB) von 30 festgestellt und dabei ein organisches Nervenleiden (Zustand nach Kinderlähmung) mit einem Einzel-GdB von 30, Beeinträchtigung der Füße mit einem Einzel-GdB von 20 und ein Wirbelsäulenleiden mit einem GdB von 10 berücksichtigt.
Den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 09.06.2006 lehnte das beklagte Land aufgrund von Befundberichten des Orthopäden Dr. P. und des Allgemein Mediziners Dr. B. mit Bescheid vom 05.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2007 ab, da eine Verschlimmerung, die einen höheren Behinderungsgrad rechtfertigen würde, nicht zu belegen sei.
Mit der Klage vom 12.02.2007 beansprucht der Kläger einen GdB von mindestens 50. Er hat auf eine erhebliche Verschlimmerung des Hals- und Lendenwirbelsäulenleidens mit Schmerzausstrahlung verwiesen und auf den Befundbericht von Dr. P. Bezug genommen.
Der Kläger beantragt,
das beklagte Land unter Aufhebung des Bescheides vom 05.09.2006 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.01.2007 zu verurteilen, einen GdB von mindestens 50 festzustellen.
Das beklagte Land beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat einen Befundbericht von Dr. P., den Entlassungsbericht der Klinik B. O. von November 2006 und ein chirurgisches Gutachten von Dr. G. vom 22.05.2007 eingeholt, auf die auf den Inhalt im Einzelnen verwiesen wird.
Den Regelungsvorschlag des beklagten Landes, dem Gutachten entsprechend einen GdB von 40 festzustellen, weist der Kläger mit dem Hinweis zurück, allein das Lendenwirbelsäulenleiden und das Nervenleiden ergäben einen GdB von 40, der aufgrund des Halswirbelsäulenleidens zu einem Gesamt-GdB von 50 erhöht werden müsse. Zusätzlich bestünden Beschwerden des rechten Armes, die der Sachverständige trotz Hinweis nicht berücksichtigt habe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und auf die Verwaltungsakte des beklagten Landes verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist teilweise begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung eines GdB von 40. Ein GdB von 50 oder mehr steht ihm nicht zu.
Nach Überzeugung der Kammer ergibt sich die Gesamtheit der Behinderungen des Klägers aus dem Zustand nach Kinderlähmung mit einem Einzel-GdB von 30, den Fußdeformierungen mit einem Einzel-GdB von 20 und dem Halswirbelsäulenleiden mit einem GdB von 20, die in der Gesamtschau einen GdB von 40 begründen.
Die Folgen der Kinderlähmung betreffen mehrere Organsysteme, schwerpunktmäßig das rechte Bein, den unteren Rücken und den rechten Fuß. Zweckmäßigerweise ist dieser Beeinträchtigungskomplex unter dem Begriff des Nervenleidens mit einem Einzel-GdB von 30 zusammenzufassen, wobei damit insbesondere die verminderte Funktion des rechten Beines und die daraus resultierenden fehlstatischen Belastungen der Lendenwirbelsäule erfasst sind. Da die Anhaltspunkte für die Gutachtertätigkeit im Schwerbehindertenrecht für diese komplexe Funktionsstörung der unteren Extremität keine konkrete Vorgabe haben, stützt sich die Kammer auf die Einschätzung von Dr. G., wonach unter Berücksichtigung vergleichbarer Beeinträchtigungsausmaße ein GdB von 30 anzusetzen ist. Dies scheint vor dem Hintergrund plausibel, dass die Anhaltspunkte beispielsweise für die Versteifung eines Sprunggelenkes in günstiger Stellung, für eine Bewegungseinschränkung stärkeren Grades im Kniegelenk oder für eine mittelgradige Bewegungseinschränkung im Hüftgelenk jeweils einen GdB von 30 vorsehen und das Funktionsdefizit der unteren Extremität in diesen Behinderungen jeweils vergleichbar ist. Hingegen scheint die Funktionseinbuße des rechten Beines noch nicht vergleichbar mit der vollständigen Versteifung eines Hüftgelenks in günstiger Stellung, denn die physiologischen Bewegungsabläufe beim Gehen, Stehen und Sitzen fallen bei dem Kläger günstiger aus, als wäre beispielsweise eine Hüfte eingesteift.
Die Fußdeformitäten sind mit einem GdB von 20 angemessen bewertet, da die Anhaltspunkte für einen Klumpfuß je nach Funktionsstörung einen GdB von 20 oder mehr und für andere Fußdeformitäten stärkeren Grades mit statischer Auswirkung einen GdB von höchstens 20 vorsehen. Für die neurogene Hohlfußbildung rechtsseitig kann im Ansatz der Vergleich zu einem Klumpfuß einseitig gezogen werden.
Insbesondere unter Berücksichtigung der Ausstrahlungsbeschwerden ist das
Halswirbelsäulenleiden als mittelgradige Funktionsstörung mit einem GdB von 20
entsprechend Nr. 26 Punkt 18 der Anhaltspunkte zu bewerten. Die von dem Kläger
im Rahmen der Begutachtung und der mündlichen Verhandlung geschilderten
Beschwerden des rechten Armes, die im wesentlichen eine subjektive Verminderung
der groben Kraft infolge der Kinderlähmung bedeuten, erhöhen den GdB der
Halswirbelsäule nicht und begründen keinen Einzel-GdB für die oberen
Extremitäten. Eine Beweglichkeitsverminderung des rechten Armes konnte nicht
festgestellt werden. Die Beweglichkeit war in sämtlichen Gelenken erhalten. Das
Ausmaß einer gegebenenfalls bestehenden Kraftminderung im Vergleich zu dem
linken Arm fällt nicht soweit ins Gewicht, dass daraus eine Behinderung
abgeleitet werden könnte. Der Muskelmantel der oberen Extremitäten und des
Schultergürtels war seitengleich kräftig erhalten, so dass eine gewichtige
Funktionsstörung nicht abzuleiten ist. Bedenkt man ferner, dass der (Teil-)
Verlust einzelner Finger mit entsprechenden Einbußen der Greiffunktion keinen
für den Gesamtbehinderungsgrad relevanten Einzel-Behinderungsgrad begründet, so
lässt sich für die gefühlte Krafteinbuße des rechten Armes kein Einzel-GdB
herleiten.
In der Zusammenschau der unteren Extremitäten und des Rückens ergibt sich
ausgehend von einem höchsten Einzel-Behinderungsgrad von 30 eine einmalige
Erhöhung um einen Zehnerschritt auf den Gesamt-GdB von 40. Wie Dr. G.
hervorhebt, können die Funktionseinbußen des rechten Beines und der
Lendenwirbelsäule für sich betrachtet bereits einen GdB von 40 begründen. In
dieser Bewertung ist die Fußdeformität rechtsseitig als Teil der
Funktionsausfälle des rechten Beines bereits enthalten. Die zusätzliche
Funktionsminderung im oberen Rücken, die vornehmlich weitere Beschwerden
hervorruft, erhöht das Gesamtbehinderungsausmaß nicht so entscheidend, dass
daraus eine Schwerbehinderung resultiert. Die Gesamtbehinderung ist noch nicht
vergleichbar mit schwersten Beeinträchtigungen in weiten Teilen der Wirbelsäule,
mit der Versteifung eines Hüftgelenks in ungünstiger Stellung oder mit dem
Verlust eines Beines im Unterschenkel. Im übrigen bestehen funktionale
Überschneidungen zwischen den Folgen der Kinderlähmung und den übrigen
Beeinträchtigungen des Rückens. Ein GdB von 50 wird deshalb nicht erreicht.
Die Kostenentscheidung gemäß § 193 des Sozialgerichtsgesetzes trägt dem moderaten Teilerfolg Rechnung.