Bayerisches LSG - Urteil vom 17. 4. 2002 - Az.: L 18 SB 102/99 

Leitsatz:

Ein MCS -Syndrom ist keine eigenständige Erkrankung.
 
 
 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Behinderungen des Klägers mit einem Grad der Behinderung (GdB) von wenigsten 50 statt 30 zu
bewerten sind.

Der am 1949 geborene Kläger führt seine Behinderungen auf toxische Belastungen in seinem jahrzehntelang ausgeübten
Beruf als Schreiner zurück. Eine Berufskrankheit ist bei ihm nicht anerkannt.

Der Beklagte stellte erstmals mit Bescheid vom 22.02.1996 als Behinderungen mit einem GdB von 20 fest:

   1.Seelische Störung mit chronisch-depressiver Verstimmung und Somatisierungsneigung.
   2.Polyneuropathie.

Im Widerspruchsverfahren half der Beklagte dem Widerspruch insofern ab, als er mit Teilabhilfebescheid vom
27.03.1997 für die Behinderungen einen GdB von 30 feststellte. Den Widerspruch im Übrigen wies er mit
Widerspruchsbescheid vom 14.05.1997 zurück.

Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Würzburg hat der Kläger beantragt,

     die Diagnose unter 1. im Bescheid vom 22.02.1996 als unzutreffend aus dem Bescheid zu streichen, die Art
     der unter Ziffer 2 anerkannten Polyneuropathie festzustellen und "Folgen einer chronischen Holzmittel- und
     Lösungsmittelintoxikation" festzustellen.

Das SG hat von dem Chirurgen Dr. H. ein Terminsgutachten vom 05.03.1998 eingeholt. Dieser hat die Behinderungen
des Klägers wie der Beklagte bezeichnet und den Gesamt-GdB ebenfalls mit 30 bewertet. Der mit Gutachten vom
25.05.1999 gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gehörte Dermatologe und Umweltmediziner Dr. M. hat beim
Kläger im Hinblick auf seine berufliche Schadstoffexposition eine toxische Encephalopathie und Perfusionsminderung
des Gehirns, Hirnstammschädigung, Polyneuropathie mit Verdacht auf autonome Neuropathie, Autoimmunität gegen
Gangliosid und myelinassoziiertes Glyoprotien vom IgM-Typ und ein seborrhoisches Ekzem diagnostiziert. Für die
toxische Enecphalopathie hat er einen Einzel-GdB von 40 sowie für die Hirnstammschädigung und Polyneuropathie
jeweils einen Einzel-GdB von 20 angenommen und den Gesamt-GdB ab 12/1995 mit 60 bewertet. Der Beklagte hat sich
mit einer nervenärztlichen Stellungnahme des PD Dr .K. vom 23.06.1999 gegen das Gutachten des Dr. M. gewandt und
differenzialdiagnostisch das Vorliegen einer Neurasthenie durch Intoxikation für möglich gehalten. Die
Funktionsbeeinträchtigungen entsprächen einer seelischen Störung mit Einschränkung der Erlebnis- und
Gestaltungsfähigkeit und seien mit einem GdB von 30 angemessen bewertet.

Das SG ist dem Gutachten des Dr. H. gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 22.09.1999 abgewiesen. Eine
eigenständige Bewertung eines Multiple Chemikal Sensitivity (MCS)-Syndroms hat es mit der Begründung abgelehnt, ein
solches sei als Erkrankung in der wissenschaftlichen Medizin derzeit noch umstritten.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt. Der Senat hat zur Abklärung der beim Kläger bestehenden
Behinderungen ein Gutachten des Prof. Dr. E.,  Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin, vom 18.09.2001 sowie zur
Feststellung des GdB ein Gutachten des Arztes für Arbeitsmedizin und Sozialmedizin Dr. R. vom 29.11.2001 eingeholt.
Prof. Dr. E. hat beim Kläger keinen Anhalt für eine umweltmedizinisch-humantoxikologisch relevante Belastung gefunden.
Die interdisziplinäre Diagnostik hat beim Kläger Hinweise für das Vorliegen einer psycho-vegetativen Erkrankung mit
Leistungsminderung in Form einer Neurasthenie und polyneuropathisch bedingte distale Parästhesien ohne motorische
Einschränkungen gefunden. Dr. R. hat die Gesundheitsstörung "Neurasthenie mit chronisch depressiver Stimmungslage
und diffusen Befindlichkeitsstörungen" mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Einen Verdacht auf sensorische
Polyneuropathie hat er mit einem Einzel-GdB von 10, den Gesamt-GdB mit 30 eingeschätzt.

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 26.10.1999 beantragt,

     das Urteil des SG Würzburg vom 22.09.1999 aufzuheben und den Bescheid vom 22.02.1996 idF des
     Teilabhilfebescheides vom 27.03.1997, beide idF des Widerspruchsbescheides vom 14.05.1997,
     abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm einen GdB von wenigstens 50 anzuerkennen sowie die
     im Bescheid vom 22.02.1996 aufgenommene Diagnose "Seelische Störung mit chronisch-depressiver
     Verstimmung und Somatisierungsneigung" ersatzlos zu entfernen.

Der Bevollmächtigte des Beklagten hat mit Schriftsatz vom 01.12.1999 beantragt,

     die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Würzburg vom 22.09.1999 zurückzuweisen.

Der Bevollmächtigte des Beklagten hat sich bereit erklärt, die Behinderungen aus dem Verfügungssatz des Bescheides
vom 22.02.1996 herauszunehmen.

Der Kläger ist zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen und war auch nicht vertreten.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt, nach Lage der Akten zu entscheiden.

Ergänzend zum Sachverhalt wird auf die Schwerbehindertenakte des Beklagten, die Archivakte des SG Würzburg S 5 U
229/95 und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht gemäß § 126 SGG nach Lage der Akten.

Die Berufung ist zulässig, aber nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 30.

Das Vorliegen einer Behinderung und den GdB stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes
zuständigen Behörden auf Antrag des Behinderten fest. Die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
werden als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt (§ 69 Abs 1 Sätze 1 und 3 Sozialgesetzbuch - Neuntes Buch -).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach den
Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen
festgestellt (§ 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX). Die Gesamtauswirkung der Behinderung darf nicht durch Anwendung
irgendwelcher mathematischer Formeln, sondern muss aufgrund einer nachvollziehbaren ärztlichen Einschätzung
festgesetzt werden (BSG SozR 3870 § 3 Nr 4 zum im Wesentlichen inhaltsgleichen § 4 Abs 3 Satz 1 SchwbG,
aufgehoben durch Art 63 SGB IX).

Die Behinderungen des Klägers sind mit einem Gesamt-GdB von 30 zutreffend bewertet. Dies ergibt sich zur
Überzeugung des Senats aus den Gutachten des Prof. E. und Dr. R.

Prof. E. hat in für den Senat nachvollziehbarer Weise eine eigenständige Erkrankung durch ein sogenanntes
MCS-Syndrom verneint. Nach den gutachtlichen Feststellungen des Sachverständigen ist es trotz verschiedenster
Ansätze zur wissenschaftlichen Untersuchung der MCS-Problematik bisher noch nicht gelungen, ein abgrenzbares
Syndrom mit einer zuzuordnenden Pathogenese zu beschreiben. Es handelt sich bei MCS vielmehr um eine bloße
Arbeitshypothese (so auch SG Dortmund vom 15.10.2001 Az: S 11 U 120/00), die sich nur auf individuelle subjektive
Symptome von Beschwerden stützen kann, die Umweltexpositionen zugeschrieben werden und die nicht als zur Zeit
messbare, objektiv erwiesene Krankheiten anzusehen sind. Die von Prof. E. beim Kläger im Rahmen eines
Humanbiomonitoring durchgeführten Schadstoffanalysen zeigten, dass die gemessenen Werte für die Parameter PCP
und Lindan deutlich unterhalb der von der Kommission Humanbiomonitoring des Umweltbundesamtes 1998
herausgegebenen Referenzwerte lagen.

Die differenzialdiagnostisch durchgeführte interdisziplinäre Diagnostik (Dermatologie/Allergologie, Psychosomatik,
Neurologie/Neurophysiologie, HNO, Orthopädie, Augenheilkunde, Lungenfunktion, Zahn-Mund-Kieferheilkunde) hat aber
Hinweise für das Vorliegen einer psychovegetativen Erkrankung mit Leistungsminderung in Form einer Neurasthenie und
polyneuropathisch bedingte distale Parästhesien ohne motorische Einschränkungen ergeben, die bei der Bestimmung
des GdB zu berücksichtigen sind.

Der Sachverständige Dr. R. hat die Feststellung eines GdB vorliegend als äußerst schwierig bezeichnet und die
Auffassung vertreten, dass die sozialmedizinische Beurteilung hier an Grenzen stoße, weil sich im Falle des Klägers
objektive Befunde und subjektive Befindensstörungen nahezu diametral gegenüberstünden. Die beim Kläger
durchgeführte neurologisch-psychiatrische Diagnostik konnte keine Strukturschädigung des Hirns nachweisen. Eine
durch organische Lösungsmittelgemische verursachte toxische Encephalopathie kann unter Berücksichtigung der
Einwirkung durch Lösungsmittelgemische und der beim Kläger bestehenden unspezifischen Symptome, insbesondere
Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen, Müdigkeit und Leistungsschwäche, lediglich als Verdachtsdiagnose einer
beginnenden Encephalopathie nicht völlig ausgeschlossen werden, jedoch ist eine Sicherung dieser Diagnose nicht
gelungen. Die Abgrenzung zur Neurasthenie ist schwierig vorzunehmen. Die subjektiven Beschwerden weisen auf eine
mögliche, beginnende Polyneuropathie und Encephalopathie hin, ohne dass diese Erkrankungen durch Befunde
nachvollzogen werden können. Hierdurch wird die sozialmedizinische Beurteilung und Einordnung der
Befindensstörungen erschwert.

Angesichts dieser medizinischen Ausgangslage sind Funktionsstörungen, die einen höheren GdB als 30 bedingen zur
Überzeugung des Senats unter Würdigung sämtlicher vorhandener medizinischer Unterlagen nicht nachgewiesen. Eine
Verdachtsdiagnose kann nicht zur Begründung eines höheren GdB herangezogen werden. Im Hinblick auf die
eingehende interdisziplinäre Untersuchung des Klägers im Rahmen der Begutachtung durch Prof. E. ist der Senat nicht
davon überzeugt, dass die von dem Sachverständigen der ersten Instanz gemäß § 109 SGG, Dr. M., angenommen
vielfältigen Funktionsstörungen tatsächlich in dem beschriebenen Ausmaß vorliegen. Der Senat ist in Übereinstimmung
mit dem Sachverständigenbeirat beim Bundesminister für Arbeit (vgl Tagung der Sektion Versorgungsmedizin vom 25.-
26.11.1998) der Auffassung, dass bei der Bewertung sogenannter "Umweltkrankheiten" - wie dem MCS-Syndrom -, die
mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungeinbußen und Körperfunktionsstörungen, denen
kein oder primär kein organischer Befund zu Grunde liegt, einhergehen, als Vergleichsmaßstab am ehesten die in Ziffer
26.3 Seite 60 ff der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem
Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 unter "neurologische Persönlichkeitsstörungen" genannten stärker behindernden
psycho-vegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und
eventuellen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht kommen (ebenso Landessozialgericht für das Land
Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 03.04.2001, Az: L 6 SB 53/00, bestätigt durch Urteil des Bundessozialgerichts (BSG)
vom 27.02.2002, Az: B 9 SB 6/01 R). Schwere neurologische oder psychische Störungen, die einen höheren GdB als 30
nahelegen, sind beim Kläger nicht erkennbar.

Über den Antrag des Klägers, die Behinderung "Seelische Störung mit chronich-depressiver Verstimmung und
Somatisierungsneigung" ersatzlos zu streichen, brauchte der Senat nicht zu entscheiden, da der Beklagte sich bereit
erklärt hat, die Behinderungen aus dem Verfügungssatz des angefochtenen Bescheides entsprechend dem Urteil des
BSG vom 24.06.1998 - B 9 SB 17/97 R - herauszunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision im Sinne des § 160 Abs 2 Nrn 1 und 2 SGG sind nicht ersichtlich.