LSG Berlin - Urteil vom 29. 10. 2002 - Az.: L 13 SB 59/01 |
Leitsatz:
Ein Antrag auf Zuerkennung eines GdB von "mehr als 20" ist dahingehend auszulegen, dass ein GdB von mindestens 30
angestrebt wird. Der Auslegung, dass mit einem Antrag der Feststellung eines GdB von mehr als 20 die Zuerkennung der
Schwerbehinderteneigenschaft begehrt werde, lediglich hilfsweise ein GdB von 30, kann nicht gefolgt werden.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Beklagte dem Kläger die Hälfte der Kosten des Widerspruchsverfahrens zu erstatten hat.
Auf Antrag des 1949 geborenen Klägers vom 29. April 1999 stellte der Beklagte durch Bescheid vom 14. Juni 1999
einen Grad der Behinderung (GdB) von 20 fest.
Mit dem Widerspruch hiergegen machte der Kläger geltend, bei ihm lägen noch unberücksichtigt gebliebene
Behinderungen vor, so dass eine Einstufung in einen höheren Grad als 20 % angemessen sei.
Der Beklagte ließ daraufhin den Kläger durch den praktischen Arzt Dr. Y untersuchen, der unter Anerkennung weiterer
Behinderungen einen GdB von 30 und die Feststellung empfahl, dass die Behinderung zu einer dauernden Einbuße der
körperlichen Beweglichkeit geführt habe.
Der Beklagte erkannte dem folgend durch Widerspruchsbescheid vom 14. Februar 2000 einen GdB von 30 als
Gesamt-GdB an und stellte fest, dass die Körperbehinderung darüber hinaus zu einer dauernden Einbuße der
körperlichen Beweglichkeit geführt habe. Im Übrigen werde der Widerspruch zurückgewiesen. Der Kläger gehöre auch
weiterhin nicht zum Personenkreis der Schwerbehinderten, so dass sein Widerspruch keinen weitergehenden Erfolg
gehabt habe. Die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen würden zu einem Viertel
erstattet. Die Zuziehung eines Bevollmächtigten sei notwendig gewesen. Die Kostenentscheidung folge aus § 63
Sozialgesetzbuch (SGB) X.
Mit der dagegen vor dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage machte der Kläger geltend, der Widerspruch sei
insgesamt erfolgreich gewesen, da lediglich eine Einstufung in einen höheren GdB als 20 beantragt worden sei. Dem sei
der Beklagte nachgekommen. Ein konkreter Antrag sei nicht erforderlich gewesen, da es für einen Nichtmediziner
schwierig sei, die exakte Höhe des GdB zu bestimmen. Die Sachlage sei mit einem im Zivilprozess zulässigen
unbezifferten Antrag auf Schmerzensgeld vergleichbar.
Durch Urteil vom 2. Juli 2001 hat das Sozialgericht den Widerspruchsbescheid geändert und den Beklagten verurteilt,
dem Kläger die Hälfte seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Soweit der Widerspruch erfolgreich
sei, habe gemäß § 63 Abs. 1 SGB X der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen
habe, demjenigen, der Widerspruch erhoben habe, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen
Aufwendungen zu erstatten. Ein Erstattungsanspruch bestehe nach dem Verhältnis von Erfolg und Misserfolg des
Widerspruchs. Der Widerspruch habe nur zur Hälfte Erfolg gehabt. Zwar bestehe eine Vergleichbarkeit mit einem durch
Klage geltend gemachten zivilrechtlichen Schmerzensgeldanspruch, da die Bewertung einzelner Behinderungen und die
Bildung eines Gesamt-GdB medizinische Sachkenntnisse und dezidierte Kenntnisse der Anhaltspunkte für die ärztliche
Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (Anhaltspunkte)
erfordere. Werde auf einen nach oben offenen Antrag der begehrte Mindest-GdB gewährt, könne wie im Fall einer
Schmerzensgeldklage auf einen Mindestbetrag nicht von einem Misserfolg des Antrags gesprochen werden. Dies sei
aber nur dann der Fall, wenn ausdrücklich ein bestimmter Mindest-GdB begehrt werde; werde lediglich ein höherer GdB
als 20 begehrt, könne dem nicht ohne weiteres entnommen werden, dass das Ziel des Klägers im Wesentlichen ein
Mindest-GdB von 30 gewesen sei. Das Widerspruchsbegehren sei nach den Grundsätzen der §§ 133, 157 Bürgerliches
Gesetzbuch (BGB) auszulegen. Dabei seien die Eigenheiten des GdB-Systems im Schwerbehindertenrecht zu
berücksichtigen, die zwar die Feststellung eines GdB in Zehnerschritten von 20 bis 100 ermöglichten. Im unteren Bereich
komme jedoch der Stufe eines GdB von 30, da diese die Gleichstellung mit Schwerbehinderten aus
Arbeitsplatzschutzgesichtspunkten ermögliche, sowie der Stufe eines GdB von 50, der die
Schwerbehinderteneigenschaft begründe, wesentliche Bedeutung zu. Da sich aus dem klägerischen Begehren weder
eindeutig ergebe, dass eine Schwerbehinderteneigenschaft angestrebt werde, noch, dass ein GdB von mindestens 30
das alleinige Ziel des Widerspruchs gewesen sei, habe der Antrag so verstanden werden müssen, dass die Zuerkennung
der Schwerbehinderteneigenschaft beantragt werde, hilfsweise aber zumindest ein GdB von 30 begehrt werde. Wäre ein
GdB von mindestens 30 das alleinige oder vordringliche Ziel des Widerspruchs gewesen, hätte der Kläger dies durch
Konkretisierung des Begehrens deutlich machen müssen.
Gegen das ihm am 1. August 2001 zugestellte Urteil richtet sich die vom Sozialgericht zugelassene Berufung des
Beklagten vom 8. August 2001. Er macht geltend, dem Kläger stehe höchstens ein Drittel der Kosten zu. Unkonkrete
Anträge seien auszulegen. In einem Fall, in dem der Widerspruchsführer lediglich einen GdB von 20 zugesprochen
erhalten hatte, beziehe sich nach Sinn und Zweck des Widerspruchs der Wille auf das Ziel der Anerkennung als
Schwerbehinderter bzw. die Anerkennung des GdB von 30. Da dem gestellten Antrag jedoch nicht eindeutig zu
entnehmen gewesen sei, dass ein GdB von 30 das eigentliche Ziel des Widerspruchsbegehrens gewesen sei, müsse
eine Quotelung vorgenommen werden. Der vom erkennenden Senat im Beschluss vom 8. August 2001 (L 13 B 29/01
SB) geäußerten Rechtsauffassung sei nicht zu folgen. Entgegen der dort vertretenen Auffassung des Senats könne einem
Antrag "höher als" oder "mehr als" nicht zwingend entnommen werden, der Kläger wolle immer nur eine GdB-Erhöhung
um einen Zehnergrad. Diese Formulierung beinhalte auch rein wörtlich keine Beschränkung, sondern werde vom
Ergebnis her interpretiert. Die von ihm gehaltene Länderumfrage habe keine einheitliche Handhabung bei der Stellung
von unkonkreten Anträgen ergeben. Überwiegend würden die Anträge ausgelegt. Es gebe keine überwiegende Mehrheit
oder Einigkeit, den unkonkreten Antrag lediglich "wörtlich" zu nehmen und bereits bei GdB-Erhöhungen um 10 die vollen
Kosten zuzusprechen. Würde man schon bei geringfügigen Erhöhungen grundsätzlich volle Kosten zusprechen, müssten
die Versorgungsverwaltungen bei ca. 70 % der Klageverfahren, die durch Bescheide gemäß § 96 Sozialgerichtsgesetz
(SGG) beendet würden, die vollen Kosten tragen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Juli 2001 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er macht geltend, der Gesetzgeber habe den "Erfolg" in § 63 Abs. 1 SGB X nicht definiert. Deshalb müsse jede
Abweichung vom Bescheid als Erfolg gewertet werden. Zulässige unbezifferte Anträge seien einer Auslegung nicht
zugänglich.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten
verwiesen, die Gegenstand der Beratung waren.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise
einverstanden erklärt haben, § 124 Abs. 2 SGG.
Die Berufung ist unbegründet.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist lediglich die Verurteilung des Beklagten zur Erstattung der Hälfte der
notwendigen Kosten für das Widerspruchsverfahren.
Nach § 63 Abs. 1 SGB X hat der Beklagte die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen
zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Der Umfang der Erstattungspflicht richtet sich, abgesehen von der
Vorschrift des § 63 Abs. 1 Satz 2 SGB X, allein nach dem Erfolg des Widerspruchs. Danach ist ein Obsiegen in vollem
Umfang dann festzustellen, wenn mit dem Widerspruch lediglich die Zuerkennung eines GdB von mindestens 30 begehrt
worden ist.
Das Sozialgericht hat aus der Tatsache, dass der Kläger keinen Mindest-GdB angegeben hat, sondern einen GdB von
mehr als 20 geltend gemacht hat, gefolgert, dass sein Ziel nicht eindeutig festgestellt werden könne und daraus auf die -
für den Senat nicht überprüfbare - Kostenerstattungspflicht zu 1/2 geschlossen. Dies entspricht nicht der Rechtsprechung
des Senats, von der er auch nach Prüfung der Einwände des Beklagten abzuweichen keine Veranlassung sieht. Danach
ist der Antrag auf Zuerkennung eines GdB von "mehr als 20" dahingehend auszulegen, dass ein GdB von mindestens 30
angestrebt wird. Der Auslegung, dass mit einem Antrag der Feststellung eines GdB von mehr als 20 die Zuerkennung der
Schwerbehinderteneigenschaft begehrt werde, lediglich hilfsweise ein GdB von 30, kann nicht gefolgt werden. Nach der
Ermittlung des Wortsinns einer Willenserklärung sind zwar in einem zweiten Auslegungsschritt die außerhalb des
Erklärungsaktes liegenden Begleitumstände in die Auslegung einzubeziehen. Dies ist jedoch nur dann der Fall, soweit sie
einen Schluss auf den Sinngehalt der Erklärung zulassen. Aus der Tatsache, dass eine Vielzahl von Antragstellern die
Feststellung eines GdB von 50 wegen der damit verbundenen Folgen begehrt, kann nicht gefolgert werden, dass dies als
wahrer Inhalt der Aussage, ein GdB von mehr als 20 % sei festzustellen, anzusehen ist. Dies berücksichtigt nämlich nicht,
dass nach § 4 Abs. 1 des zum Zeitpunkt des Widerspruchsverfahrens noch geltenden Schwerbehindertengesetzes auf
Antrag das Vorliegen einer Behinderung und der Grad der Behinderung festzustellen ist. Nach § 3 Abs. 2
Schwerbehindertengesetz ist die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung als Grad der Behinderung nach
Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Dem Gesetz zufolge besteht also auch ein Anspruch auf
Feststellung eines GdB von 30. Da der GdB von 30 der nächste Schritt nach dem zuerkannten GdB von 20 darstellt, ist
auch der unkonkrete Antrag, einen GdB von "mehr als 20 % zuzuerkennen, auf die Anerkennung eines GdB von
mindestens 30 gerichtet. Abgesehen davon sind als Begleitumstände der Erklärung als wirtschaftliche Überlegungen
auch zu berücksichtigen, dass auch ein GdB von 30 mit der gleichzeitigen Feststellung, dass die Körperbehinderung zu
einer dauernden Einbuße der körperlichen Beweglichkeit geführt hat, nach § 33 b Abs. 2 Ziffer 2 b
Einkommensteuergesetz zu einem Pauschbetrag führt.
Die gegen die Verpflichtung zur (vollen) Kostentragung gerichteten Argumente des Beklagten führen zu keinem anderen
Ergebnis. Sie beziehen sich nämlich auf die Frage, in welchem Umfang dem Beklagten im Klageverfahren bei
anderweitiger Erledigung Kosten auferlegt werden können. Sie berücksichtigen bereits nicht den Unterschied zwischen
einer Kostenerstattungspflicht nach § 63 SGB X und der Kostenentscheidung des Gerichts nach § 193 Abs. 1 Satz 3
SGG.
Maßgeblich für die Kostenerstattung nach § 63 SGB X ist allein der Erfolg des Widerspruchs - es sei denn, die
abhelfende Entscheidung des Rechtsträgers beruht nicht auf dem Widerspruch, sondern auf anderen Umständen (etwa
der nachträglichen Erfüllung von Mitwirkungspflichten, vgl. Bundessozialgericht - BSG - SozR 3-1300 § 63 Nr. 3).
Demgegenüber hat das Gericht bei einer Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG nach sachgemäßem
Ermessen zu entscheiden und dabei neben den Erfolgsaussichten der Klage auch die Gründe für die Klageerhebung,
also die Frage zu prüfen, ob der Beklagte Veranlassung zur Klageerhebung gegeben hat und ob er auf im Laufe des
Rechtsstreits eingetretene Änderungen angemessen reagiert hat.
Soweit der Beklagte sich gegen die Verpflichtung zur Übernahme der (vollen) Kosten bei "nach oben offenen" Anträgen
wendet, wenn ein nur um 10 höherer GdB zuerkannt wird, kann dem auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts nicht gefolgt werden. Danach ist der Betroffene nicht beschwert, wenn der GdB auf den Betrag
festgesetzt wird, der im Widerspruchsverfahren als Mindestbeitrag des erstrebten "höheren GdB" bezeichnet worden ist
(Urteil vom 9. August 1995 - 9 RVs 7/94 = SozR 3-1930 § 116 Nr. 7). An einer Beschwer fehlt es aber nur, wenn der
Rechtsbehelf in vollem Umfang Erfolg gehabt hat.
Die Kostenentscheidung nach § 193 SGG entspricht dem Ergebnis in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, da die vom Beklagten für
klärungsbedürftig erachtete Rechtsfrage bereits im Zusammenhang mit der Frage der Erhöhung der Rahmengebühr nach
§ 116 Abs. 3 BRAGO (BSG a.a.O.) höchstrichterlich entschieden worden ist.