Vernachlässigung von Kindern
Im Hinblick auf die Vielzahl aktueller Verfahren nach dem OEG, in denen Kindesvernachlässigung geltend gemacht wird, ist auf das RdSchr. des BMA vom 13. Februar 2002 zur Anerkennung von Tatbeständen der Vernachlässigung von Kindern im Rahmen des OEG hinzuweisen.
Durchführung des Gesetzes über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (OEG)
Anerkennung von Tatbeständen der Vernachlässigung von Kindern im Rahmen des OEG
RdSchr. des BMA vom 13. Februar 2002 - IV c 2-62030 -
an die für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörden der Länder, nachrichtlich den Landesvertretungen beim Bund und dem Bundesrechnungshof
In jüngster Zeit ist, insbesondere auch über Jugendämter, die Frage nach einer möglichen Einbeziehung von Tatbeständen der Vernachlässigung von Kindern in den Geltungsbereich des OEG an die Länder und das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung herangetragen worden.
Zu dieser Problematik nehme ich unter Berücksichtigung der auf der Ländereferentenbesprechung vom 27./28.11.2001 geführten Diskussion wie folgt Stellung:
Zur Annahme eines tätlichen Angriffes im Sinne des OEG ist grundsätzlich ein gewaltsames, handgreifliches Vorgehen gegen eine Person in feindlicher Absicht erforderlich. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG), die zum sexuellen Missbrauch von Kindern entwickelt wurde, kommt es jedoch weder auf eine besondere Begehungsart der Tat noch auf das Vorliegen einer (subjektiven) Feindseligkeit beim Täter an (BSGE 77, 7, 11, 18; vgl. auch BMA-Rundschreiben vom 28.11.1996 - VI 1 - 52030 -). Somit ist ein im engeren Sinne gewalttätiges Verhalten nicht mehr in jedem Fall für eine Anerkennung im Rahmen des OEG erforderlich. Vielmehr ist entscheidend, ob sich das Verhalten des Täters als (objektiv) rechtsfeindlich darstellt. Als Folge dieser neuen Rechtsprechung liegt damit ein tätlicher Angriff vor, wenn der Täter entweder mit körperlicher Gewalt in feindseliger Absicht gegen das Opfer vorgeht oder in strafbarer Weise die körperliche Integrität eines anderen rechtswidrig verletzt.
Dabei ist für das Vorliegen eines tätlichen Angriffs eine unmittelbare Körperberührung nicht erforderlich. Es genügt ein, aktives Handeln. das unmittelbar gegen den Körper des Opfers gerichtet ist und zu einem körperlich wirkenden Zwang führt.
Das BSG beabsichtigte mit dieser Rechtsprechung allerdings keine allgemeine Erweiterung des Anwendungsbereichs des OEG weit über den einst vom Gesetzgeber geplanten Umfang hinaus. Nach dem Grundgedanken des OEG sollte nämlich keineswegs jedes gewaltlose feindselige Handeln, das bei anderen Menschen zu einer Verletzung der körperlichen Integrität führen kann, zu einer Entschädigung führen. Deshalb hat das BSG auch die Einbeziehung der Missbrauchsfälle mit einigen besonderen Aspekten begründet. Es hat dabei insbesondere darauf abgestellt, dass, die Tat geeignet sein muss, schwere gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, dass es sich bei den Opfern um eine besonders schutzbedürftige Gruppe (Kinder als "schwächste Mitglieder unserer Gesellschaft": SozR 3-3800 § 1 Nr. 7) handeln muss und dass die "gewaltlose" Handlung nach dem StGB strafbar ist. Wenn diese Voraussetzungen für andere Konstellationen übernommen werden, in denen ein - zumindest nach außen hin - "gewaltloses" feindseliges Verhalten gegeben ist, kann die Ausweitung des OEG-Schutzbereichs in einem überschaubaren und bestimmbaren Umfang gehalten werden. Darin werden nämlich nur solche "gewaltlosen" Handlungen in den Schutzbereich des OEG einbezogen, die bei einer Gesamtwürdigung aller Umstände in ihrer Gefährlichkeit und ihren Folgen denen eines sexuellen Missbrauchs vergleichbar sind, wobei es sich um besonders gelagerte Ausnahme- bzw. Einzelfälle handeln dürfte.
M.E. können deshalb Fälle der Vernachlässigung von Kindern in den Schutzbereich des OEG dann einbezogen werden, wenn die zugrunde liegende Tat oder Unterlassung geeignet ist, schwere gesundheitliche Schädigungen hervorzurufen, und zudem nach dem StGB (§ 225 ) strafbar ist.
Zur Klarstellung weise ich noch auf folgendes hin: Der Begriff der Vernachlässigung im Sinne des OEG unterscheidet sich von dem Begriff der Vernachlässigung im familienrechtlichen Sinne. Nicht jede Vernachlässigung, die zum Entzug der elterlichen Sorge führt, ist gleichzeitig auch eine strafrechtlich ahndbare und nach dem OEG anzuerkennende Vernachlässigung.
So setzt beispielsweise die Vernachlässigung im familienrechtlichen Sinne keine Böswilligkeit voraus. Für den Entzug der elterlichen Sorge reicht auch eine in der Zukunft zu erwartende Gefährdung des Kindes aus, was jedoch strafrechtlich - und damit auch im Rahmen des OEG - nicht berücksichtigt werden kann. Für die Berücksichtigung nach dem OEG muss vielmehr eine Handlung (Tun oder Unterlassen) vorliegen, welche - wie bereits ausgeführt - zur Hervorrufung schwerer gesundheitlicher Schädigungen geeignet und zudem nach dem StGB strafbar ist.