SG Dortmund -Urteil vom 21. Februar 2003  -Az.: S 7 SB 48/02 

Leitsatz:

Der Gewährung des Merkzeichens "aG" steht die Möglichkeit einer Fußwegstrecke von bis zu 100 m nicht
entgegen
 
 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "aG"
(außergewöhnliche Gehbehinderung) und "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung) bei dem Kläger.

Der im Jahre 19.. geborene Kläger ist Rentner. Mit Bescheid vom 14. Juli 2000 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen
Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "G"
(erhebliche Gehbehinderung) fest. Dieser Entscheidung lagen folgende Gesundheitsstörungen des Klägers zu Grunde:

     Operiertes Dickdarmleiden,
     Wirbelsäulenverschleiß, Bandscheibenleiden, Hüftgelenksverschleiß beiderseits, Nervenirritation, enger
     Rückenmarkskanal,
     Augenleiden bei Linsenlosigkeit beiderseits,
     Bluthochdruck,
     chronische Atemwegsentzündung,
     Magenleiden.

Mit seinem Änderungsantrag vom 18. Juni 2001 machte der Kläger u.a. das Vorliegen der gesundheitlichen
Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und "B" geltend. Der Beklagte lehnte die Zuerkennung weiterer Merkzeichen mit
Bescheid vom 20. September 2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2002 ab.

Hiergegen richtet sich die am 19. Februar 2002 erhobene Klage. Zur Begründung legt der Kläger ein Attest seines
Hausarztes Dr. A. vor, der die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" befürwortet.

Der Kläger beantragt,

     den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 20. September 2001 in der Fassung des
     Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2002 zu verurteilen, bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen
     der Merkzeichen "B" und "aG" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

     die Klage abzuweisen.

Der Beklagte ist gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. B. vom 25. September 2002 weiterhin der
Auffassung, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" nicht vorlägen. Ein konstant auf das
schwerste eingeschränktes Gehvermögen, vergleichbar einer Doppeloberschenkelamputation oder schweren arteriellen
Verschlusskrankheit mit einem GdB von 80 und einer Limitierung der schmerzfreien Gehstrecke auf unter 50 m liege nicht
vor.

Das Gericht hat die Orthopädin Dr. C. und die Ärztin des Gesundheitsamtes der Stadt D. Dipl. Med. D. zu
Sachverständigen bestellt. Beide Sachverständige kommen in ihren Gutachten vom 23. Juli 2002 bzw. 26. August 2002
zu dem Ergebnis, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "aG" bei dem Kläger vorliegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte des
Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen haben vorgelegen und sind ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand
der mündlichen Verhandlung gewesen.
 

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die angefochtenen Bescheide des Beklagten erweisen sich insoweit als rechtswidrig, als die Feststellung der
gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen "aG" und "B" bei dem Kläger abgelehnt worden ist. Der Kläger ist
seit Juni 2001 außergewöhnlich gehbehindert und bedarf ständiger Begleitung bei der Benutzung von öffentlichen
Verkehrsmitteln.

Nach § 69 Abs. 4 des Sozialgesetzbuchs - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) stellen die
Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die
Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für behinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die
außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist.
Nach § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) können schwerbehinderte Menschen mit
außergewöhnlicher Gehbehinderung (Merkzeichen "aG", § 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung -
SchwbAwV -) Parkerleichterungen gewährt werden. Eine Beschreibung des anspruchsberechtigten Personenkreises
enthält die allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 46 der Straßenverkehrsordnung (StVO). Demnach sind als
schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen, die sich wegen der
Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges
bewegen können. Hierzu zählen Querschnitts gelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte,
Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen oder nur
eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind sowie andere
schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem
vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Der Gewährung des Merkzeichens "aG" steht jedenfalls die Möglichkeit einer Fußwegstrecke von bis zu 100 m nicht
entgegen (Thüringer LSG, Urteil vom 14. März 2001, Az.: L 5 SB 672/00). Für eine Grenzziehung bei der Wegefähigkeit
von 100 m spricht, dass Sonderparkplätze in der Nähe von Behörden und Kliniken und die Parksonderrechte vor
Wohnungen und Arbeitsstätten denjenigen schwerbehinderten Menschen vorbehalten sein sollen, denen nur noch
Wegstrecken zumutbar sind, die von diesen Sonderparkplätzen aus üblicherweise bis zum Erreichen des Eingangs der
Gebäude zurückzulegen sind. Diese Wegstrecken über Straßen und Gehwege in die Eingangsbereiche der genannten
Gebäude liegen regelmäßig unter 100 m (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. März 2001, Az.: L 11 SB 4527/00;
Eine 100-Grenze befürwortend: LSG für das Saarland, Urteil vom 6. Februar 2001, Az.: L 5 b SB 67/99 im Anschluss an
entsprechende Entscheidungen des LSG Mainz vom 19. März 1991, Az.: L 4 VS 78/90, vom 30. November 1994, Az.: L 4
VS 39/93 und vom 14. August 1997, Az.: L 4 VS 131/96).

Sofern demgegenüber nach Auffassung des LSG NRW die Gleichstellung mit dem kraft der allgemeinen
Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVG außergewöhnlich Gehbehinderten voraussetzt, dass ein Leidenszustand vorliege, der
den behinderten Menschen bei der Fortbewegung faktisch an den Rollstuhl binde bzw. der zur Fortbewegung eine
Benutzung des Rollstuhls zumindest dringend geboten erscheinen lasse (LSG NRW, Urteil vom 14. März 2001, Az.: L 10
SB 86/00, SGb 2001, 626), folgt die Kammer dem weiterhin nicht (S.a. SG Dortmund, Urteil vom 29. August 2002, Az.: S
7 SB 198/01). Diese Rechtsauffassung schränkt den begünstigten Personenkreis zu stark in Richtung einer
Gehunfähigkeit ein, zumal behinderte Menschen der Vergleichsgruppe oftmals durch die Versorgung mit Hilfsmitteln eine
gewisse Mobilität erlangen.

Da die Terminsvertreterin des Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 21. Februar 2003 darauf hinwies, sie sei
durch eine generelle Anweisung der Bezirksregierung Münster gehalten, die genannte Entscheidung des LSG NRW
umzusetzen, wird der Beklagte aufgefordert, seine Rechtsauffassung anhand der Entscheidung des BSG vom 10.
Dezember 2002, Az.: B 9 SB 7/01 R zu überprüfen. Das BSG hat die Entscheidung des 10. Senates des LSG NRW vom
14. März 2001 aufgehoben und ausdrücklich festgestellt, dass das gesundheitliche Merkmal außergewöhnliche
Gehbehinderung nicht voraussetze, dass ein schwerbehinderter Mensch nahezu unfähig sei, sich fortzubewegen. Das
BSG führt aus, dass anders als vom LSG angenommen, die Zugangsschwelle des Merkzeichens "aG" nicht auf das
Niveau von Querschnittsgelähmten und den in der Verwaltungsvorschrift genannten Gliedmaßenamputierten ohne
orthopädische Versorgung anzuheben sei. Eine solche Forderung widerspreche sowohl der Verwaltungsvorschrift als
auch dem Sinn und Zweck des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG. Beide Vorschriften richteten sich an schwerbehinderte Menschen
mit "außergewöhnlicher Gehbehinderung", forderten also nicht den vollständigen Verlust der Gehfähigkeit, sondern ließen
ein Restgehvermögen zu. Die Gehfähigkeit müsse nur so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar
sei, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Es komme nicht auf eine bestimmte Wegstrecke an, sondern darauf, ob die
Zurücklegung kurzer Wege nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung möglich sei.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme liegt die Gehfähigkeit des Klägers bei bis zu 50 m. Der Kläger kann sich nach
den Feststellungen der Sachverständigen Dr. C. und nur unter großer Anstrengung auf Grund der Kombination seiner
Gesundheitsstörungen, insbesondere der Rückenmarkskanaleinengung und des Hüftgelenkleidens, außerhalb seines
Kraftfahrzeugs bewegen. Sowohl im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung als auch bei der Teilnahme an der
mündlichen Verhandlung gelingt es dem Kläger nur mit größter Anstrengung und mit großem Zeitaufwand, sich wenige
Meter zu bewegen. Bei einem derartig eingeschränkten Gehvermögen ist die Gleichstellung mit den kraft der allgemeinen
Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVG außergewöhnlich Gehbehinderten vorzunehmen, so dass der Beklagte die
gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "aG" festzustellen hat.

Bei dem Kläger liegen auch die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens "B" (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 SchwbAwV)
vor. Nach § 146 Abs. 2 SGB IX ist ständige Begleitung bei schwerbehinderten Menschen notwendig, die bei Benutzung
von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung zur Vermeidung von Gefahren für sich oder andere regelmäßig
auf fremde Hilfe angewiesen sind.

Der Kläger ist nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln auf fremde
Hilfe angewiesen, um Stufen zu überwinden. Da der Beklagte ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme von
Dr. E. vom 25. September 2002 diesem Ergebnis der Begutachtung durch die Sachverständigen Dr. C. und nicht
widerspricht, erübrigen sich insoweit weitere Ausführungen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.