SG Düsseldorf – Gerichtsbescheid vom 31.12.2002 – Az.: S 31 SB 35/01 |
Unterlässt es der Beklagte – entgegen der Vorgaben der Anhaltspunkte – die Klägerin im Vorverfahren zu begutachten, so ist die Berufung des Beklagten darauf, ein höherer GdB sei erst ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Begutachtung bewiesen, rechts-missbräuchlich. Die Beweislast kehrt sich dann um.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem SGB IX
um die Höhe des Grades der Behinderung - GdB -.
Die 1937 geborene Klägerin stellte im April 2000 beim Beklagten einen Antrag nach dem damals noch gültigen Schwerbehindertengesetz.
Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte und Arztbriefe von den Ärzten der Klägerin ein und erteilte unter dem 12.07.2000 einen Bescheid, wonach die Behinderungen
1.depressives Syndrom (nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten GdB 30)
2.Bewegungseinschränkung bei Wirbesäulenveränderungen (GdB 10)
einen Gesamt-GdB von 30 bedingen.
Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie einen Bericht des S. zur Akte reichte und vortrug, daraus ergebe sich, dass ein Gesamt-GdB von mindestens 50 bei ihr festzustellen sei.
Mit Bescheid vom 17.11.2000 half der Beklagte dem Widerspruch der Klägerin insoweit ab, als der GdB auf 40 angehoben wurde. Nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten lagen dem Bescheid folgende Behinderungen zugrunde:
1.depressives Syndrom, Hirnleistungseinschränkung (GdB 40)
2.Bewegungseinschränkung bei Wirbelsäulenveränderungen (GdB 10).
Mit Bescheid vom 20.12.2000 wies der Beklagte den weitergehenden Widerspruch der Klägerin als sachlich unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich die am 29.01.2001 bei Gericht eingegangene Klage, mit der die Klägerin - im Wesentlichen unter Hinweis auf ihre psychische Erkrankung - weiterhin die Auffassung vertritt, dass der Gesamt-GdB mindestens 50 beträgt.
Die Klägerin hat schriftsätzlich wörtlich beantragt:
Die Beklagte wird in Abänderung des Feststellungsbescheides des
Versorgungsamtes Düsseldorf vom 12.07.2000 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 20.12.2000 sowie unter Einbeziehung
des Abhilfebescheides des Versorgungsamtes Düsseldorf vom 17.11.2000 verpflichtet,
bei der Klägerin einen Grad der Behinderung von mindestens 50
ab dem 18.04.2000 festzustellen.
Der Beklagte hat schriftsätzlich keinen Antrag gestellt.
Der Beklagte hat unter dem 09.01.2002 angeboten, den Gesamt-GdB ab März 2001 mit 50 zu bewerten. Zur Begründung seines Angebots hat er im Wesentlichen ausgeführt, der höhere GdB sei erst ab dem Zeitpunkt der Begutachtung durch die Gerichtlichen Sachverständigen belegt.
Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung ein Gutachten von dem Neurologen Dr. R. eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Das Gericht kann vorliegend durch Gerichtsbescheid gem. § 105 SGG entscheiden, denn der Sachverhalt ist aufgeklärt und die dem Rechtsstreit zugrunde liegenden Rechtsfragen sind einfacher Natur. Im übrigen bietet sich hier die Entscheidung durch Gerichtsbescheid schon deswegen an, weil der Bevollmächtigte der Klägerin in München seine Kanzlei unterhält und eine Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung in Düsseldorf mit einem unverhältnismäßigen Reiseaufwand verbunden wäre.
Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.
Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Für die Beurteilung des Grades der Behinderung geltend gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - festgelegten Maßstäbe entsprechend. Diese Maßstäbe sind in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996" geregelt, wobei das Gericht die "Anhaltspunkte" nur insoweit anwendet, als sie der "Behindertentabelle", die im Internet unter www.behinderten- tabelle.bei.t-online.de dargestellt ist, nicht widersprechen. Der GdB ist danach ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen und Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aufgrund eines Gesundheitsschadens und ist grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten und angestrebten Beruf zu beurteilen.
Nach Maßgabe dieser Vorschriften ist bei der Klägerin ab Antragstellung ein GdB von 50 und ab März 2001 ein GdB von 60 festzustellen.
Die Kammer folgert dies aus dem schlüssigen Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. R.. Dieser hat bei der Klägerin eine Anpassungsstörung mit längerwährender depressiver Reaktion festgestellt. Dabei handelt es sich um eine mittelgradige psychische Störung, die nach 26.3 der "Anhaltspunkte/Behindertentabelle" einen GdB von 50 bedingt. Außerdem leidet die Klägerin seit März 2001 an einem Schlafapnoe-Syndrom, welches nach 26.8 der "Anhaltspunkte/Behindertentabelle" mit einem GdB von 20 zu bewerten ist, weil die Notwendigkeit einer kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung bei der Klägerin besteht.
Schließlich leidet die Klägerin noch an einem geringfügig ausgeprägtem Wirbelsäulensyndrom ohne wesentliche Funktionsbeeinträchtigungen, welches nach 26.18 der "Anhaltspunkte/Behindertentabelle" mit einem GdB von 10 zu bewerten ist. Diese Einzel-Grade der Behinderung sind im übrigen zwischen den Beteiligten unstreitig.
Aus diesen Behinderungen ist ab Antragstellung ein Gesamt-GdB von 50 und ab März 2001 ein Gesamt-GdB von 60 zu bilden. Die "Anhaltspunkte/Behindertentabelle" sehen unter Punkt 19 vor, dass 10er Grade der Behinderung bei der Bildung des Gesamt-GdB keine Berücksichtigung finden und dass im übrigen die einzelnen Behinderungsgrade nicht addiert werden dürfen. Soweit Behinderungen voneinander unabhängig bestehen, ist jede Behinderung entsprechend ihrer Schwere bei der Gesamt-Beurteilung zu beachten. Die organisch-psychische Störung und das Schlafapnoe-Syndrom stehen hier nebeneinander und betreffen ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens. Da das Schlafapnoe-Syndrom im übrigen keine leichte Behinderung darstellt, wie der Sachverständige Dr. R. in seiner ergänzenden Stellungnahme ausdrücklich ausgeführt hat, ist es vorliegend gerechtfertigt, den Gesamt-GdB ab März 2001 auf 60 anzuheben.
Ob der Behinderungsgrad von 50 schon zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlag oder ob die Behinderung sich in diesem Ausmaß erst später eingestellt hat, bleibt nach Aktenlage offen. Der Sachverständige Dr. R. ist jedenfalls der Auffassung, dass die Behinderung schon zum Zeitpunkt der Antragstellung bestanden hat. Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Klägerin im vorliegenden Verfahren beweispflichtig ist mit der Folge, dass ein entsprechender GdB erst ab dem Zeitpunkt festgestellt werden kann, ab dem das Vorliegen dieses GdB bewiesen ist. Entgültig bewiesen ist hier das Vorliegen eines höheren GdB durch die Untersuchung bei Dr. R.. Allerdings ist die Berufung des Beklagten darauf, die Klägerin habe den höheren GdB erst ab dem Zeitpunkt der Untersuchung belegt, rechtsmißbräuchlich. Der Beklagte hat nämlich die Beweisführung der Klägerin durch eigene Versäumnisse vereitelt. Insoweit wäre der Beklagte vorliegend verpflichtet gewesen, die Klägerin im Verwaltungsverfahren begutachten zu lassen. Entgegen der Auffassung des Beklagten im Schreiben vom 21.11.2002 darf der Beklagte im Schwerbehindertenrecht nicht grundsätzlich von einer Begutachtung im Verwaltungsverfahren absehen. Gemäß Punkt 5 der "Anhaltspunkte/ Behindertentabelle" darf der Beklagte nur ausnahmsweise "zur Vermeidung von Doppeluntersuchungen" auf eine Untersuchung der Antragsteller verzichten, wenn sich aus den vorhandenen Unterlagen "in überzeugender Weise ein ausreichendes Bild von der Art und dem Ausmaß aller geltend gemachten Behinderungen" ergibt. Dieser Zustand ist in der Regel nur erfüllt, wenn zahlreiche Unterlagen vorliegen, "die sich gegenseitig ergänzen oder bestätigen" (Punkt 5 der "Anhaltspunkte/Behindertentabelle").
Unter Beachtung dieser Vorschrift hätte der Beklagte die Klägerin im Vorverfahren in jedem Falle begutachten müssen. Zwar lagen der Feststellung des Behinderungsgrades ausführliche Berichte des S. zugrunde, diese Berichte beziehen sich aber im Wesentlichen auf die bei der Klägerin durchgeführte Therapie und die Therapierbarkeit der psychischen Störung. Das Ausmaß der psychischen Störung wird in den Berichten nicht oder nur unzureichend geschildert. Zudem lagen keine sich "ergänzenden oder bestätigenden" Unterlagen vor.
Unabhängig davon hätte der Beklagte die Unterlagen nicht von einer Ärztin für Allgemeinmedizin bzw. von einem Internisten auswerten lassen dürfen. Das Bundessozialgericht hat in seinem Urteil vom 15.03.1979 (SozR 3870 § 3 SchwbG Nr. 5) ausdrücklich festgestellt, dass fachfremde Ärzte zur Beurteilung von Gesundheitsstörungen im Schwerbehindertenrecht nicht heranzuziehen sind.
Eine sachgerechte Behandlung des Falles durch den Beklagten hätte wahrscheinlich dazu geführt, dass heute festgestellt werden könnte, welcher Gesundheitszustand bei der Klägerin zu welchem Zeitpunkt bestand. Dass dies nun nicht mehr genau festgestellt werden kann, kann daher nicht zu Lasten der Klägerin gehen. Die Beweislast kehrt sich daher vorliegend um und der Beklagte muss belegen, dass ein höherer GdB nicht bereits früher bestand. Diesen Beweis hat er nicht erbracht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.