SG Düsseldorf Urteil vom 12.11.2002, Az.: S 31 SB 46/02 |
1. Bei der Bildung des Gesamt-GdB nach den "Anhaltspunkten " (oder der "Behindertentabelle") sind die ermittelten Einzel-GdB nicht daraufhin zu überprüfen, ob die von ihnen ausgehenden Funktionsbeeinträchtigungen tatsächlich einen GdB in der Höhe rechtfertigen, die die "Anhaltspunkte" vorgeben.
2. Bewerten die "Anhaltspunkte" eine Gesundheitsstörung, wie z.B. die Bluterkrankheit, mit einem bestimmten GdB (hier 20), so ist bei der Bildung des Gesamt- GdB davon auszugehen, dass diese Behinderung funktionell gleichwertig ist mit jeder anderen Behinderung, die nach den "Anhaltspunkten" ebenfalls diesen GdB (hier 20) bedingt. Bei Einzel- GdB von 30 für eine Bauchwandschwäche mit Narbenbruch und Verwachsungen, 20 für einen Hüft- und Kniegelenksverschleiß und 20 für eine Bluterkrankheit kann daher ein Gesamt- GdB von 50 nicht mit der Begründung versagt werden, die Bluterkrankheit sei nicht mit funktionellen Einschränkungen verbunden.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch - SGB IX - um die Höhe des Grades der Behinderung - GdB -.
Der 1953 geborene Kläger stellte im Januar 2000 beim Beklagten einen Antrag nach dem Schwerbehindertengesetz. Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte von den Ärzten des Klägers ein und lehnte den Antrag mit Bescheid vom 27.06.2000 mit der Begründung ab, beim Kläger sei ein GdB von mindestens 20 nicht feststellbar.
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein.
Der Beklagte holte daraufhin weitere Befundberichte von dem Chirurgen Dr. W. und dem Orthopäden Dr. T.l ein und erteilte unter dem 05.09.2000 einen Abhilfebescheid, wonach die Behinderungen
1. Verwachsungsbeschwerden nach Darmoperationen, Bauchwandschwäche
(nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des
Beklagten GdB 20)
2. Wirbelsäulenverschleiß, Schulter-Arm-Syndrom (GdB 10)
3. Hüft- und Kniegelenksverschleiß (GdB 20)
einen Gesamt-GdB von 30 bedingen.
Unter dem 24.10.2000 stellte der Kläger einen Änderungsantrag. Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht von dem praktischen Arzt Dr. S ein und zog einen Entlassungsbericht der Klinik N. über eine Kurmaßnahme des Klägers bei. Mit Bescheid vom 15.01.2001 stellte der Beklagte - ab 24.10.2000 - beim Kläger einen Gesamt-GdB von 40 fest. Nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten lagen dem folgende Behinderungen zugrunde:
1. Bauchwandschwäche mit Narbenbruch und Verwachsungen nach
Darmoperationen (GdB 30)
2. Wirbelsäulenverschleiß, Schulter-Arm-Syndrom (GdB 10)
3. Hüft- und Kniegelenksverschleiß (GdB 20)
4. Bluterkrankheit (GdB 20).
Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er vortrug, seine Beweglichkeit sei erheblich eingeschränkt. Bewegungen, die mit der Belastung des Bauches verbunden seien, bereiteten ihm erhebliche Schmerzen. Außerdem sei er durch ein Knie- und Hüftgelenksleiden sowie durch die bei ihm vorliegende Arthrose in seiner Beweglichkeit erheblich beeinträchtigt.
Der Beklagte holte daraufhin einen Arztbrief des M.Hospitals ein. Unter dem 20.08.2001 stellte der Kläger einen weiteren Änderungsantrag. Der Beklagte ließ den Kläger daraufhin amtsärztlich von der Obermedizinalrätin G. begutachten. Mit Bescheid vom 17.12.2001 - zur Post gegeben am 02.01.2002 - wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Versorgungsamtes Düsseldorf vom 15.01.2001 als sachlich unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich die am 29.01.2002 bei Gericht eingegangene Klage.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung bzw. Abänderung der
Bescheide vom 27.06.2000, 05.09.2000 und 15.01.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 17.12.2001 auf den Antrag vom 13.01.2000
einen Gesamt-GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung Gutachten von dem Internisten Dr. O. und dem Orthopäden Dr. J. eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig. Die Klage richtet sich auch gegen den Abhilfebescheid vom 05.09.2000, obwohl der Beklagte einen Widerspruchsbescheid nur hinsichtlich des Bescheides vom 15.01.2001 erteilt hat. Allerdings hat der Beklagte über den Widerspruch des Klägers vom 15.07.2000 gegen den Bescheid vom 27.06.2000 nie entschieden. Soweit der Kläger also vorliegend sich auch gegen den Bescheid vom 05.09.2000 und den Bescheid vom 27.06.2000 wendet, ist diese Klage jedenfalls als Untätigkeitsklage im Sinne des § 88 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässig.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.
Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.
Für die Beurteilung des Grades der Behinderung geltend gemäß § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX die im Rahmen des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes - BVG - festgelegten Maßstäbe entsprechend. Diese Maßstäbe sind in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996" geregelt, wobei das Gericht die "Anhaltspunkte" nur insoweit anwendet, als sie der "Behindertentabelle", die im Internet unter www.behindertentabelle.bei.t-online.de abgedruckt ist, nicht widersprechen. Der GdB ist danach ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen und Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft aufgrund eines Gesundheitsschadens und ist grundsätzlich unabhängig vom ausgeübten und angestrebten Beruf zu beurteilen.
Nach Maßgabe dieser Vorschriften ist beim Kläger ein Gesamt-GdB von 50 festzustellen. Ausweislich der Gutachten von dem Internisten Dr. O. und dem Orthopäden Dr. J. leidet der Kläger an einem Bauchdeckenbruch und Verwachsungen nach einer Darmoperation. Der Sachverständige Dr. O. hat diese Behinderung zutreffend mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Nach 26.11 der Anhaltspunkte kann ein Bauchnarbenbruch mit ausgedehnter Bauchwandschwäche und fehlender oder stark eingeschränkter Bauchwandpresse mit einem GdB von 20 bewertet werden. Ein höherer GdB kommt in Betracht, wenn eine Beeinträchtigung der Bauchorgane vorliegt. Eine solche Beeinträchtigung liegt zwar beim Kläger nicht vor, beim Kläger bestehen aber Verwachsungsbeschwerden mit Funktionseinschränkungen, die über den Bauchdeckenbruch hinausgehen. Der Sachverständige hat daher zutreffend von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, den GdB entsprechend zu erhöhen und hier mit 30 zu bewerten. Daneben leidet der Kläger auf internistischem Fachgebiet an einer Bluthochdruckerkrankung. Diese liegt allerdings in einer leichten Form vor und ist daher nach 26.9 der Anhaltspunkte nur mit einem GdB von 10 zu bewerten. Weiter leidet der Kläger an einer Störung der Gerinnungs- funktion. Nach 26.16 der Anhaltspunkte können Hämophilie-Erkrankungen in einer leichten Form mit einem GdB von 20 bewertet werden. Wenn es zu Blutungen kommt, kann ein höherer GdB in Ansatz gebracht werden. Dieser Fall liegt allerdings beim Kläger nicht vor, so dass hier ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen ist. Auf orthopädischem Fachgebiet liegt beim Kläger eine Funktionseinschränkung der Wirbelsäule mit leichten funktionellen Einschränkungen vor. Nach 26.18 der Anhaltspunkte ist diese Behinderung mit einem GdB von 10 zu bewerten. Weiter hat der Sachverständige Dr. J. beim Kläger eine Einschränkung der Hüftgelenksbeweglichkeit, der Kniegelenksbeweglichkeit und eine Fußdeformität festgestellt. Zwar rechtfertigen die einzelnen Bewegungseinschränkungen hinsichtlich der Kniegelenksbeweglichkeit und der Hüftgelenksbeweglichkeit für sich genommen noch nicht einen Einzel-GdB von 20, das Gericht hat allerdings keine Bedenken
dem Sachverständigen soweit zu folgen, dass die gesamte untere Extremität zusammen bewertet wird und dann die Gesamtbehinderung an der unteren Extremität einen Einzel-GdB von 20 rechtfertigt. Außerdem leidet der Kläger an einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. Diese Behinderung hat beim Kläger in erheblicherem Umfang bis April 2002 bestanden. Wie aus dem vom Kläger nachgereichten Bericht des Krankenhauses Mörsenbroich-Rath vom 29.04.2002 hervorgeht, ist der Kläger dort am 25.04. 2002 diesbezüglich operiert worden. Bis zur Operation betrug der Doppler-Index beim Kläger rechts 0,7. Daraus kann geschlossen werden, dass beim Kläger eine entsprechend eingeschränkte Gehstrecke vorlag, die nach 26.9 der Anhaltspunkte einen GdB von 20 bedingt. Nach der Operation dürfte es zu einer Besserung gekommen sein, so dass nunmehr nur noch ein GdB von 10 vorliegt.
Aus den so ermittelten Einzel-Graden der Behinderung ist - nach Auffassung der Kammer - ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Die Kammer weist insoweit von der Auffassung des gerichtlichen Sachverständigen Dr. O. ab, der hier nur einen Gesamt-GdB von 40 festgestellt hat. Die Anhaltspunkte sehen unter Punkt 19 vor, dass - ausgehend vom höchsten Einzel-GdB - zu prüfen ist, inwieweit weitere Behinderungen zu einer Anhebung des Gesamt-GdB führen. Dabei finden 10er Grade der Behinderung grundsätzlich keine Berücksichtigung, 20er Grade der Behinderung müssen nicht unbedingt zu einer Anhebung des Gesamt-GdB führen. In jeden Falle dürfen die einzelnen Behinderungen nicht addiert werden. Zur Bildung des Gesamt-GdB ist also vorliegend zunächst der GdB von 30 für den Bauchdeckenbruch zugrunde zu legen. Die Einzel-Grade der Behinderung von 10 für das Wirbelsäulenleiden und 10 für die Bluthochdruckerkrankung finden keine Berücksichtigung. Es verbleiben dann die Störungen der Gerinnungsfunktion, die Funktionseinschränkungen der unteren Extremitäten und die periphere arterielle Verschlusskrankheit bis April 2002. Im Verhältnis zum Bauchdeckenbruch handelt es sich bei der Gerinnungsstörung und der Funktionseinschränkung der unteren Extremitäten um Behinderungen, die im Sinne von Punkt 19 völlig unabhängig voneinander bestehen und damit ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Derartige Behinderungen sind der Schwere der einzelnen Gesundheitsstörungen entsprechend bei der Gesamt-Beurteilung zu beachten. Allein diese Behinderungen führen zu einem Gesamt-GdB von 50, denn es handelt sich bei beiden 20er Werten nicht um sogenannte schwache 20er Werte, so dass sie bei
der Bildung des Gesamt-GdB Berücksichtigung finden müssen. Die von Dr. O. vertretene Auffassung, die Hämophilie-Erkrankung sei deswegen nicht Gesamt-GdB erhöhend, weil sie symptomfrei sei, kann die Kammer nicht folgen. Die Kammer geht davon aus, dass die Einzel-Grade der Behinderung - so wie sie in den Anhaltspunkten aufgeführt sind - bei der Bildung des Gesamt-GdB gleichwertig berücksichtigt werden müssen, das heißt, es darf bei der Bildung des Gesamt-GdB keine zusätzliche Prüfung erfolgen, ob bestimmte Behinderungen tatsächlich mit funktionellen Beeinträchtigungen verbunden sind und daher letztendlich den von den Anhaltspunkten vorgegebenen Einzel-GdB rechtfertigen. Wenn die Anhaltspunkte für die Behinderung Hämophilie-Erkrankung zwingend einen GdB von 20 vorsehen, so ist diese Behinderung also bei der Bildung des Gesamt-GdB genauso zu bewerten wie jede andere Behinderung aus den Anhaltspunkten, die einen GdB von 20 rechtfertigt. Anderenfalls würde der Sachverständige bei der Bildung des Gesamt-GdB eine Überprüfung der Schlüssigkeit der Einzel-Grade der Behinderung nach den Anhaltspunkten vornehmen und damit die Vorgaben der Anhaltspunkte in Frage stellen. Dies ist aber nicht Aufgabe des Sachverständigen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.