6.
BSG 15.3.1979 Az: 9 RVs 16/78
1. Die Auswahl des ärztlichen Sachverständigen, der bei der Gesamtbeurteilung des GdB bei mehreren unterschiedlichen Behinderungen hinzuzuziehen ist.
2. Die Gesamtbehinderung eines Menschen (Gesamt-GdB) lässt sich rechnerisch nicht ermitteln. Vielmehr sind alle Behinderungen in einer Gesamtschau unter Betrachtung ihrer wechselseitigen Beziehung zueinander einzuschätzen, und zwar in einer Würdigung, wie sie dem Verfahren des ZPO § 287 entspricht
3. Weil demnach wertungsbedingte Unsicherheitsfaktoren bei Bestimmung des Gesamt-GdB in Kauf zu nehmen sind, ist auf die sorgfältige Auswahl des hinzuzuziehenden Sachverständigen besonders zu achten. Je weniger die Sachaussage eines Sachverständigen in seine eigentliche Sachkompetenz fällt (hier: eines HNO-Arztes hinsichtlich Fragen aus der inneren Medizin und Orthopädie oder Chirurgie), um so mehr hängt die Überzeugung des Gerichts, daß seine Auffassung richtig sei, von dessen persönlicher Autorität ab. Daß dem Sachverständigen diese Autorität zu Recht zuerkannt worden ist, weil sie seiner Qualifikation entspricht, muß das Gericht dann besonders deutlich darlegen.
4. Die Bewertung des GdB ist im Recht der Kriegsopferversorgung und nach dem Schwerbehindertenrecht einheitlich vorzunehmen.
5. Der Sachverständige, dem die Gesamtbeurteilung des GdB obliegt, muss in der Lage sein, die Auswirkungen dieser Behinderungen in ihrer Gesamtheit beweiskräftig zu bewerten.
Bundessozialgericht, Beschluss vom 08.08.2001 Az.:- B 9 SB 5/01 B
Zum Verhältnis von Berufs-Erwerbsunfähigkeit und Grad der Behinderung
Gründe:
Der 1949 geborene Kläger erhielt von der Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz unter Zugrundelegung eines Versicherungsfalls vom 1. August 1995 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) zunächst auf Zeit, später auf Dauer. Auf seinen Antrag vom August 1994 wurde gemäß § 4 Schwerbehindertengesetz (<SchwbG>; vgl seit 1. Juli 2001 § 69 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch ,<SGB IX>) eine Behinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 20, auf seinen Widerspruch mit einem GdB von 30 festgestellt. Das Sozialgericht (SG) Köln verurteilte den Beklagten mit Urteil vom 10. Juni 1997, ab August 1994 einen GdB von 40 festzustellen, und wies die Klage im übrigen ab. Der Beklagte hat dieses Urteil mit Bescheid vom 25. September 1997 ausgeführt. Die Berufung des Klägers blieb erfolglos (Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Nordrhein-Westfalen vom 31. Oktober 2000).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Er hält die Rechtsfrage für klärungsbedürftig, ob das Vorliegen der EU im Sinne des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) die Schwerbehinderteneigenschaft gemäß § 1 SchwbG (vgl ab 1. Juli 2001 § 2 Abs 2 SGB IX) begründet.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Entgegen der Ansicht des Klägers bedarf die gestellte Rechtsfrage keiner Klärung durch ein Revisionsverfahren. Gemäß § 1 SchwbG sind - bei Vorliegen sonstiger, hier nicht interessierender Voraussetzungen - Schwerbehinderte im Sinne des SchwbG Personen mit einem GdB von wenigstens 50. Dieser Vorschrift entspricht seit 1. Juli 2001 § 2 Abs 2 SGB IX (vgl Gesetz vom 19. Juni 2001 BGBl I, 1046 ff), wonach Menschen im Sinne des Teils 2 des SGB IX schwerbehindert sind, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt.
Als Behinderung im Sinne des SchwbG gilt die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht. Regelwidrig ist der Zustand, der von dem für das Lebensalter typischen abweicht. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als sechs Monaten.
Bei mehreren sich gejenseitig beeinflussenden Funktionsbeeinträchtigungen ist deren Gesamtauswirkung maßgeblich. Die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung ist als GdB nach Zehnergraden abgestuft von 20 bis 100 festzustellen. Für den GdB gelten die im Rahmen des § 30 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) festgelegten Maßstäbe entsprechend (§ 3 SchwbG). Auf Antrag des Behinderten stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden , das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG). Eine derartige Feststellung ist nicht zu treffen, wenn eine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) schon in einem Rentenbescheid, einer entsprechenden Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung oder einer vorläufigen Bescheinigung der für diese Entscheidungen zuständigen Dienststellen getroffen worden ist, es sei denn, daß der Behinderte ein Interesse an anderweitiger Feststellung glaubhaft macht (§ 4 Abs 2 Satz 1 SchwbG). Eine Feststellung der MdE nach Satz 1 gilt zugleich als Feststellurig des GdB (§ 4 Abs 2 Satz 2
SchwbG). Den vorstehend wiedergegebenen Vorschriften entsprechen nunmehr § 2 Abs 1 Satz 1 und § 69 Abs 1 bis 3 SGB IX.
Demgegenüber sind erwerbsunfähig gemäß dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden § 44 Abs 2 SGB VI aF in erster Linie Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben oder Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zu erzielen, das ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße übersteigt; erwerbsunfähig sind auch Versicherte nach § 1 Nr 2 SGB VI, die wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können. Erwerbsunfähig ist aber nicht, wer eine selbständige Tätigkeit ausübt oder - ohne Rücksicht auf die. jeweilige Arbeitsmarktlage - eine Tätigkeit vollschichtig ausüben kann. Seit 1. Januar 2001 (Inkrafttreten des Gesetzes vom 20. Dezember 2000 BGBl I, 1827) ist der Versicherungsfall der EU im SGB VI weggefallen; der Begriff der EU hat im wesentlichen nur noch für die
bis zum 31. Dezember 2000 eingetretenen Versicherungsfälle Bedeutung behalten (vgl auch § 302 b SGB VI nF). An die Stelle der EU ist der in § 43 Abs 2 SGB VI nF geregelte Versicherungsfall der "vollen Erwerbsminderung" getreten. Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI nF Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden erwerbstätig zu sein, ferner nach Satz 3 Nr 1 auch Versicherte, die wegen Art oder Schwere der Behinderung
nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein können; dieser Personenkreis galt bereits nach dem bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Recht ebenfalls als erwerbsunfähig (Niesel KassKomm RdNr 19 zu § 44; BT-Drucks 14/4230 S 25 zu Nr 10 jeweils mwN). Der Senat versteht die gestellte Rechtsfrage dahin, daß diese sich auch darauf richtet, ob das Vorliegen von voller Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs 2 SGB VI nF die Schwerbehinderteneigenschaft gemäß § 1 SchwbG bzw § 2 Abs 2 SGB IX begründet.
Die aufgeworfene Rechtsfrage beantwortet sich bereits aus dem Gesetz. Ob eine Person einen GdB von 50 aufweist und somit schwerbehindert ist, steht mit der Frage, ob bei ihr nach dem SGB VI aF EU oder nach dem SGB VI nF volle Erwerbsminderung besteht, in keinerlei Wechselwirkung, weil die jeweiligen gesetzlichen Voraussetzungen völlig unterschiedlich sind. Die Frage nach dem Bestehen von Schwerbehinderung ist für die Feststellung der Erwerbsfähigkeit bzw. vollen Erwerbsminderung auch nicht als Vorfrage entscheidungserheblich (vgl BSG - unveröffentlichter - Beschluß vom 5. Dezember 1987 - 5b BJ 156/87 -). Für die genannten rentenversicherungsrechtlichen Tatbestände sind - nach bestimmten Maßgaben - die "konkreten" Erwerbsmöglichkeiten des Rentenversicherten maßgeblich. Es bleibt daher bei
den die EU oder die volle Erwerbsminderung betreffenden Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sowie den sie
abschließenden Entscheidungen offen, welchen GdB im Sinne des SchwbG bzw des SGB IX ein Erwerbsunfähiger 9 C 7/00 (bzw voll Erwerbsgeminderter) im Sinne des SGB VI aufweist. Die Frage nach der Schwerbehinderung beurteilt sich dagegen nicht nach den konkreten Erwerbsmöglichkeiten des Behinderten, sondern nach den abstrakten Maßstäben des § 30 Abs 1 BVG (§ 3 Abs 3 SchwbG; § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX), die im allgemeinen in einem gesonderten Verfahren. von den für die Kriegsopferversorgung zuständigen Behörden anzuwenden sind. Dieses Verfahren ist für die Feststellung der Behinderung, des GdB und damit auch der daraus ggf folgenden Schwerbehinderung in aller Regel unentbehrlich (§ 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG, § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX). Nur ausnahmsweise kann darauf verzichtet werden (§ 4 Abs 2 SchwbG und § 69 Abs 2 SGB IX). Voraussetzung dafür ist aber, daß nicht nur über das Vorliegen einer Behinderung, sondern auch über den Grad der auf ihr beruhenden Erwerbsminderung bereits auf die in § 4 Abs 2 Satz 1
SchwbG (§ 69 Abs 2 Satz 1 SGB IX) genannte Weise Feststellungen getroffen worden sind. Eine derartige Feststellung liegt, wenn der Rentenversicherungsträger für Zeiten vor dem 1. Januar 2001 EU bzw nach dem 31. Dezember 2000 volle Erwerbsminderung festgestellt hat, nicht vor. Es fehlt jede Möglichkeit, aus einem Rentenbescheid, mit dem das Vorliegen von EU (volle Erwerbsminderung) anerkannt wird, den für die Feststellung der Schwerbehinderung unerläßlichen maßgeblichen GdB herzuleiten. Allenfalls von der - allein nicht ausreichenden - Feststellung einer Behinderung könnte aufgrund eines derartigen Rentenbescheides möglicherweise ausgegangen werden.
Im übrigen spricht auch § 2 SchwbG (§ 2 Abs 3 iVm § 68 Abs 2 SGB IX), wonach Personen mit einem GdB von weniger als 50, aber wenigstens 30 unter bestimmten Voraussetzungen auf ihren Antrag Schwerbehinderten gleichgestellt werden sollen, dagegen, daß Behinderte, welche die Voraussetzungen für die EU bzw für die volle Erwerbsminderung im rentenrechtlichen Sinne erfüllen, zugleich schon kraft Gesetzes als schwerbehindert zu gelten haben. Beruht nämlich die EU (volle Erwerbsminderung) darauf, daß der Rentenberechtigte wegen seiner Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich oder
gar überhaupt erwerbstätig zu sein oder daß ihm der Teilzeitarbeitsmarkt verschlossen war, so wird regelmäßig der in § 2 SchwbG (§ 2 Abs 3 SGB IX) geregelte Fall vorliegen, daß die Behinderung der Erlangung eines Arbeitsplatzes entgegensteht. Dieser Umstand führt aber nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht schon von vornherein und kraft Gesetzes dazu, daß der GdB, sollte er unter 50 liegen, auf mindestens 50 ansteigt und damit der Schwerbehindertenstatus erreicht wird, sondern allenfalls dazu, daß der Behinderte ggf auf seinen Antrag durch das Arbeitsamt Schwerbehinderten gleichgestellt werden kann.
Die vom Kläger gestellte Rechtsfrage wird denn auch im Schrifttum - soweit ersichtlich - allgemein verneint (vgl
Großmann/Schimanski, GK-SchwbG, 2. Aufl, RdNr 57 zu § 4; Cramer, SchwbG, 5. Aufl, § 4 RdNr 11 mwN; auch - unveröffentlichtes - Urteil des BSG vom 8. August 1984 - 9a RVs 3/83; Weber, Schwerbehindertengesetz, § 4 Anm 9 diskutiert die gestellte Frage nicht einmal; vgl im übrigen AHP 1996, Abschn 18, S 29; die angeblich abweichende Ansicht von Neumann-Pahlen, SchwbG, § 4 RdNr 26 besteht lediglich in der nicht weiter begründeten Nennung auch von Rentenbescheiden der Rentenversicherungsträger unter den aufgezählten vorgreiflichen Feststellungstiteln).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Landessozialgericht Niedersachsen
18.12.96
Az: L 8 Vs 248/95
Orientierungssatz
1. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist ein Einzel-GdB (Teilwert) einer eigenen Feststellung nicht
zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsakts und ist nicht isoliert
anfechtbar. Er erwächst auch nicht in Bindung. Wird die Festlegung eines Einzel-GdB mit
Revisionsrügen angegriffen, muß zugleich dargetan werden, daß sich hierdurch der Gesamt-GdB
ändert (vgl BSG vom 5.5.1993 - 9/9a RVs 2/92 = SozR 3-3870 § 4 Nr 5).
LSG NRW- Urteil vom 28. November 2000 - AZ.: L 6 SB 46/98
Tatbestand:
Umstritten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Bei der 1948 geborenen Klägerin war zuletzt wegen der Behinderungen
"1. Wirbelsäulen-Syndrom, Verschleiß der Halswirbelsäule, Bandscheibenschäden, Restbeschwerden nach Scheuermann-Erkrankung,
2. Rezidivierende Bronchitis,
3. Varikosis
4. Verlust der Gebärmutter"
ein GdB von 40 festgestellt worden (Bescheid vom 20.11.1987). In der diesem Bescheid zugrundeliegenden gutachtlichen Stellungnahme vom 10.10.1987 waren für die Behinderung zu 1. ein Einzel-GdB von 40 und für die weiteren Behinderungen Einzel-GdB von jeweils 10 in Ansatz gebracht worden.
Mit ihrem Änderungsantrag von Juli 1996 machte die Klägerin wegen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes einen höheren GdB geltend. Zur Stützung ihres Antrags reichte sie u.a. einen Arztbrief des Arztes für innere Medizin - Rheumatologie, Psychotherapie - Dr. N., Chefarzt der II. Med. Klinik des E.-K. E., vom 07.03.1996 ein. Hierin heißt es u.a., dass sich deutliche Zeichen eines Fibromyalgie-Syndroms gefunden hätten.
Nach Beiziehung und Auswertung verschiedener Befund- und Behandlungsberichte lehnte es der Beklagte ab, einen höheren GdB als 40 festzustellen. Dabei ergänzte er die unter Ziffer 3. berücksichtigte Behinderung um: "Bewegungseinschränkung des rechten Fußgelenkes nach Knochenbruch" (Bescheid vom 02.01.1997).
Im anschließenden Widerspruchsverfahren (Widerspruch vom 13.01.1997) machte die Klägerin unter Vorlage eines weiteren Arztbriefes des Dr. N. vom 16.10.1996 geltend, dass das vonDr. N. diagnostizierte Fibromyalgiesyndrom nicht berücksichtigt worden sei.
Auf der Grundlage einer hierzu eingeholten weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 02.04.1997 ergänzte der Beklagte nun mehr die Behinderung zu Ziffer 1. um: "Fibromyalgiesyndrom". Im übrigen wies er den Widerspruch zurück, weil der GdB mit 40 weiterhin ausreichend bemessen sei (Widerspruchsbescheid vom 08.09.1997).
Mit ihrer hiergegen am 16.09.1997 erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt und die Auffassung vertreten, ihre Behinderungen rechtfertigten einen GdB von 50. Die mit ihren Behinderungen einhergehenden ständigen Schmerzen würden zu erheblichen Einschränkungen in nahezu allen Bereichen des täglichen Lebensführen. Im Termin am 25.03.1998 hat sie auf Befragen dem Sozialgericht Art und Ausmaß ihrer Schmerzen geschildert.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 02.01.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.09.1997 zu verurteilen, ab dem 01.01.1997 einen GdB von 50 festzustellen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte hat die angefochtenen Bescheide für zutreffend erachtet.
Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines fachorthopädischen Gutachtens des Dr. A. vom 05.01.1998. Hierin hat der Sachverständige ausgeführt, die feststellbaren Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule rechtfertigten allenfalls, da mehrere Wirbelsäulenabschnitte betroffen seien, einen GdB von 30. Das von Dr. N. festgestellte Fibromyalgiesyndrom, bei dem es sich um eine seronegative Erkrankung aus dem rheumatologischen Formenkreis handele, bedinge keinen Einzel-GdB. Vielmehr könne das Fibromyalgiesyndrom unter die Beschwerden, hervorgerufen durch die Wirbelsäule, subsumiert werden. Insgesamt sei ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt.
Mit Urteil vom 25.03.1998 hat das Sozialgericht der Klage stattgegeben und den Beklagten verurteilt, ab dem 01.01.1997 einen GdB von 50 festzustellen. Dabei ist es entsprechend der Einschätzung des Sachverständigen Dr. A. davon ausgegangen, dass die durch die Wirbelsäulenveränderungen hervorgerufenen Funktionsbeeinträchtigungen einen Teil-GdB von 30 bedingen. Entgegen der Auffassung des Sachverständigen sei jedoch das Fibromyalgiesyndrom gesondert zu bewerten. Ausgehend von der glaubhaften Beschwerdeschilderung der Klägerin sei das in den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz", 1996 (AHP) unter Ziffer 26.18, S. 136, erstmals aufgenommene Fibromyalgiesyndrom den entzündlich-rheumatischen Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule mit geringen Auswirkungen gleichzustellen. Aufgrund der Vielzahl der Gelenke, die bei der Klägerin betroffen seien, und der erheblichen Schmerzen bei größtenteils noch leichtgradigen Funktionseinbußen sei für das Fibromyalgiesyndrom ein Einzel-GdB von 40 angemessen. Insgesamt sei daher der GdB ab 01.01.1997 mit 50 zu bewerten.
Gegen dieses ihm am 07.04.1998 zugestellte Urteil richtet sich die am 05.05.1998 eingelegte Berufung des Beklagten. Der Beklagte meint weiterhin, dass in den gesundheitlichen Verhältnisses der Klägerin keine so wesentliche Änderung eingetreten ist, die die Feststellung eines GdB von 50 rechtfertige. Die ausdrückliche Aufnahme des Fibromyalgie-Syndroms in die AHP bedinge keine wesentliche Änderung. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts könne das Fibromyalgiesyndrom nicht analog zu den entzündlich-rheumatischen Krankheiten der Gelenke bewertet werden. Insgesamt sei ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 25.03.1998 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im übrigen sieht sie sich durch im Berufungsverfahren nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingeholtes internistisch-rheumatologisches Gutachten des Dr. N. vom 01.06.1999 bestätigt.
Im Berufungsverfahren ist im wesentlichen Beweis erhoben worden durch Einholung von Sachverständigengutachten des Dr. A. vom 20.01.1999 und des Dr. N. vom 01.06.1999 mit ergänzenden Stellungnahmen vom 14.02.2000 bzw. 07.04.2000. Dr. A. hat unter Berücksichtigung der muskulären Rückenbeschwerden für die Wirbelsäulenveränderungen einen GdB von insgesamt 30 für vertretbar erachtet. Demgegenüber hat Dr. N. im wesentlichen unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 40 für ein Wirbelsäulensyndrom in mehreren Abschnitten und eines Teil-GdB von 50 für eine Fibromyalgie mit mittelgradigen Auswirkungen (dauernde erhebliche Funktionseinbuße, therapeutisch schwer beeinflussbare Krankheitsaktivität) den Gesamt-GdB seit 1995 auf mindestens 50 eingeschätzt.
Zur weiteren Sachverhaltsdarstellung und bzgl. des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die Inhalte der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen. Die Inhalte dieser Akten waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist begründet.
Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, einen GdB von 50 festzustellen. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind die angefochtenen Bescheide nicht zu beanstanden. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 40; § 48 Abs. 1 Sozialgesetzbuch 10 (SGB X) und § 4 Abs. 1 und 3 SchwbG.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist eine wesentliche Änderung i. S. d. § 48 SGB X, die einen höheren GdB als 40 rechtfertigen könnte, nicht nachgewiesen. Vielmehr entsprechen auch die heute feststellbaren Funktionsstörungen im wesentlichen den gesundheitlichen Verhältnissen, die dem Bescheid vom 20.11.1987 zugrundegelegen haben.
Dies folgt zur Überzeugung des Senats unter Berücksichtigung der nach den AHP, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts normähnliche Wirkung haben (zuletzt Urteil vom 01.09.1999 - B 9 V 25/98 R -), maßgeblichen Beurteilungskriterien insbesondere aus den Feststellungen der Sachverständigen Dr. A. und des Dr. A. Demgegenüber sind die vom Sozialgericht angeführten Gesichtspunkte und auch das Gutachten des Sachverständigen Dr. N. nicht geeignet, eine wesentliche Änderung nachzuweisen.
Auch heute sind die für die Höhe des GdB maßgeblich die Wirbelsäulenveränderungen und die Schmerzsymptomatik. Nach den von den Sachverständigen Dr. A. und Dr. A. mitgeteilten Befunden ist nicht erkennbar, dass sich die durch die Wirbelsäulenschäden bedingten Funktionsstörungen verschlimmert haben. Denn hiernach finden sich heute eher geringgradige Verschleißveränderungen und Bewegungseinschränkungen. Auch die Schmerzsymptomatik ist nicht neu aufgetreten. Vielmehr klagte die Klägerin auch früher schon immer neben Kopfschmerzen über diverse Schmerzen in Brust-, Schulter- und Rückenbereich, die bereits in früheren medizinischen Unterlagen Erwähnung gefunden haben und die in die letzte Bewertung des GdB mit 40 eingeflossen sind. Eine wesentliche Verstärkung dieser Schmerzsymptomatik, die einen höheren GdB als 40 rechtfertigen könnte, ist auch nach den von Dr. N. mitgeteilten Befunden nicht nachweisbar.
Allein die nunmehr gestellte Diagnose eines Fibromyalgie-Syndroms stellt keine wesentliche Änderung dar. Dabei kann es offen bleiben, ob diese Diagnose zutreffend ist oder ob sie angesichts der Ausführungen des Dr. A., wonach die recht diffusen Beschwerden nicht mit den für eine Fibromyalgie zu fordernden typischen Schmerzen an den Triggerpunkten deckungsgleich sind, zumindest zweifelhaft sein kann. Denn für die GdB-Bewertung und damit auch für die Beurteilung einer wesentlichen Änderung i. S. d.§ 48 SGB X ist nicht die Diagnose, die als Ursache einer Funktionsbeeinträchtigung in Betracht kommt, maßgeblich. Entscheidend ist vielmehr das tatsächliche Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der jeweiligen Organbeteiligung und der Auswirkungen auf den Allgemeinzustand.
Auch unter Zugrundelegung eines Fibromyalgie-Syndroms sind zusätzliche bislang nicht berücksichtigte Funktionsstörungen, die einen höheren GdB als 40 rechtfertigen, nicht erkennbar. Neu ist insoweit lediglich die Diagnose, demgegenüber ist die Erkrankung selbst nicht neu aufgetreten. Wie von Dr. A. dargelegt ist die gesamte Symptomatik nicht neu, sondern nunmehr lediglich unter der Bezeichnung Fibromyalgiesyndrom subsumiert. Auch nach den Ausführungen des Dr. N. handelt es sich um eine seit langem bestehende Erkrankung. Soweit Dr. N. meint, es sei gegenüber den früheren Feststellungen eine wesentliche Änderung eingetreten, weil die seit langem bestehende primäre Fibromyalgie mit ihrer starken Schmerzhaftigkeit zu einem erheblichen Leidensdruck mit depressiver Verstimmung geführt habe, lässt sich hieraus eine wesentliche Änderung nicht nachweisen. Wie die Schmerzsymptomatik stellt auch die depressive Verstimmung keinen neuen Befund dar. Denn bereits in dem Bericht des praktischen Arztes Dr. W. vom 15.01.1981 ist eine vegetative Dystonie mit Depressionen aufgeführt.
Die neue Diagnose Fibromyalgie ist zwar geeignet, die seit Jahren bestehende Schmerzsymptomatik und die damit einhergehenden Begleiterscheinungen zu erklären. Sie vermag aber keine zusätzlichen für den GdB wesentlichen Funktionsbeeinträchtigungen, die einen noch höheren GdB als 40 rechtfertigen, nachzuweisen.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts bewirkt auch die erstmalige Aufnahme des Fibromyalgie-Syndroms in die AHP 1996 keine wesentliche Änderung. Dies folgt bereits daraus, dass die Funktionsbeeinträchtigungen, die sich heute als Auswirkungen eines Fibromyalgie-Syndroms darstellen, jedenfalls bereits bei den früheren Feststellungen berücksichtigt worden sind. Im übrigen konnten auch vor dem 01.01.1997 Funktionsstörungen, die auf einem fibromyalgischen Krankheitsbild beruhen, ohne weiteres bei Feststellungen nach dem SchwbG berücksichtigt werden. Die AHP beinhalten keinen numerus clausus der berücksichtigungsfähigen Gesundheitsstörungen (Ziffer 26.1 Abs. 2 AHP 1983 und 1996).
Insgesamt ist es zur Überzeugung des Senats unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen nicht nachgewiesen, dass in den gesundheitlichen Verhältnisses der Klägerin eine für den GdB wesentliche Änderung eingetreten ist. Auch unter Berücksichtigung der Angaben der Klägerin lässt sich eine Verstärkung der subjektiven Schmerzkomponente nicht nachweisen. Schon wegen des Fehlens einer wesentlichen Änderung ist der Beklagte nicht verpflichtet, den früheren Bescheid vom 20.11.1987 abzuändern und einen höheren GdB als 40 festzustellen.
Auch wenn man ungeachtet der nicht nachgewiesenen Änderung der Verhältnisse den GdB auf der Grundlage der heute feststellbaren Funktionsstörungen - wie es das Sozialgericht im Ergebnis getan hat - neu bildete, wäre dieser jedenfalls nicht höher als 40.
Maßgeblich für die GdB-Bewertung sind zum einen die feststellbaren Wirbelsäulenschäden und zum anderen die Schmerzsymptomatik, die sich als mögliche Auswirkung einer Fibromyalgie darstellt.
Für die feststellbaren Wirbelsäulenveränderungen kann ohne Berücksichtigung der Schmerzsymptomatik allenfalls ein GdB von 20 in Ansatz gebracht werden. Denn nach den von Dr. A. und Dr. A. erhobenen Befunde lassen sich lediglich eher geringgradige degenerative Veränderungen der Hals- und Lendenwirbelsäule feststellen. Wesentliche Verschleißerscheinungen fanden sich in keinem Wirbelsäulenabschnitt. Zudem zeigte sich auch die Beweglichkeit der einzelnen Wirbelsäulenabschnitte nur mäßiggradig eingeschränkt. Bestätigt werden die von den Sachverständigen aufgezeigten allenfalls leichtgradigen Funktionsstörungen durch die anlässlich des Heilverfahrens in der V. G. vom 11.01. bis 08.02.2000 erhobenen Befunde. Denn hiernach war die Halswirbelsäule altersentsprechend freibeweglich und die Lendenwirbelsäule in der Entfaltung lediglich altersentsprechend eingeschränkt. Angesichts dieser Befunde lassen sich nur Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen feststellen. Da keine mittelgradigen funktionellen Auswirkungen erkennbar sind, hält der Senat nach den Bewertungskriterien der AHP (Ziffer 26.18, S. 139f) auch unter dem Gesichtspunkt, dass mehrere Wirbelsäulenabschnitte betroffen sind, für die Wirbelsäulenschäden allenfalls einen GdB von 20 für angemessen. Soweit Dr. N. demgegenüber einen GdB von 40 vorschlägt, steht diese Einschätzung auch unter Berücksichtigung der von ihm mitgeteilten Befunde mit den Bewertungskriterien AHP nicht in Einklang, weil mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten nicht erkennbar sind. Ein GdB von allenfalls 30, wie ihn Dr. A. und Dr. A. vorschlagen, lässt sich nur dann vertreten, wenn man bei der GdB-Bewertung für die Wirbelsäulenschäden die Schmerzsymptomatik miteinbezieht. Subsumiert man hingegen die Schmerzsymptomatik unter das Krankheitsbild Fibromyalgiesyndrom, verbleibt es allein für die Wirbelsäuleschäden bei einem GdB von allenfalls 20.
Auch eine gesonderte Berücksichtigung des Fibromyalgie-Syndroms rechtfertigt jedenfalls keinen höheren Gesamt-GdB als 40. Da für die Bewertung des Fibromyalgie-Syndroms in den AHP keine speziellen GdB-Werte genannt sind, beurteilt sich der GdB hierfür in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen (vgl. AHP Ziffer 26.1 Abs. 2, S. 48).
Der vom Sozialgericht angenommene Teil-GdB von 40 für das Fibromyalgiesyndrom lässt sich nicht aus den nach den AHP für entzündliche-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule maßgeblichen Bewertungskriterien (AHP Ziffer 26.18, S. 135f) herleiten. Zwar ist das Fibromyalgiesyndrom als chronisches Schmerzsyndrom ohne organischen Befund in Ziffer 26.18 der AHP 1996 den rheumatischen Erkrankungen zugeordnet worden. Dabei sind die AHP der Systematik der ICD (Internationale Classifikation der Krankheiten) - 10 gefolgt, in der das Fibromyalgiesyndrom unter M 79.0 - "andere nicht näher bezeichnete Weichteilerkrankungen" - aufgeführt ist (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung - BMA - vom 28. bis 29.04.1999). Dies rechtfertigt es aber nicht, für die Bewertung des Fibromyalgie-Syndroms die für entzündlich-rheumatische Krankheiten der Gelenke und/oder der Wirbelsäule (z. B. Bechterew- Krankheit) geltenden GdB-Werte zu übernehmen, wie es das Sozialgericht getan hat. Bei entzündlich-rheumatischen Erkrankungen kommt ein GdB von 40 nur bei erheblichen Gelenkbeteiligungen in Betracht. Denn maßgeblich für die Bewertung ist u.a. Art und Umfang des Gelenkbefalles. Eine solche Gelenkbeteiligung oder anderweitige Organbeteiligung ist hier nicht erkennbar. Allein die Schmerzsymptomatik rechtfertigt es nicht, den für entzündlich- rheumatische Erkrankungen vorgesehenen GdB von 40 zu übernehmen.
Als Vergleichsmaßstab kommen bei einem Fibromyalgiesyndrom wie auch bei anderen Krankheitsbildern (z. B. chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple chemical sensivity) mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen, denen kein oder kein primär organischer Befund zu grundeliegt, am ehesten die in Ziffer 26.3, S. 60 AHP unter "Neuologischen Persönlichkeitsstörungen" genannten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und evtl. sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht (Niederschrift über die Tagung der Sektion "Versorgungsmedizin" des ärztlichen Sachverständigenbeirates bei BMA vom 25. bis 26.11.1998).
Hiernach ist für leichtere psychovegetative oder psychische Störungen ein Bewertungsrahmen von 0 - 20 vorgesehen. Ein GdB von 30-40 ist erst bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere, depressive, hypochondrische, asthenische, oder phobische Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) gegeben. Ein GdB von 50 kann erst bei schweren Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Ansatz gebracht werden (vgl. AHP S. 60f).
Unter Berücksichtigung dieser Bewertungskriterien ist der von Dr. N. für das Fibromyalgiesyndrom vorgeschlagene GdB von 50 als überhöht anzusehen. Denn die von Dr. N. als Folgen des Fibromyalgie-Syndroms beschriebene starke Schmerzhaftigkeit, die mit einer depressiven Verstimmung einhergeht, kann nicht mit schweren Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gleichgestellt werden. Nach ihren dem Senat gemachten Angaben bezieht die Klägerin nunmehr Arbeitslosengeld, sie steht also dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Da sie auch keinen Rentenantrag gestellt hat, kann schon deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass es wegen der fibromyalgischen Erkrankung, z. B. durch einen Rückzug aus dem Erwerbsleben zu mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten gekommen ist.
Eine Gleichstellung mit ausgeprägteren depressiven Störungen, die einen GdB von 30-40 rechtfertigen, erscheint angesichts der von Dr. N.... angegebenen bloßen depressiven Verstimmung ebenfalls nicht möglich. Auch die sich im wesentlichen auf subjektive Empfindungen der Klägerin gründende Schmerzhaftigkeit lässt sich nicht mit einer stärker behindernden Störung, die zu einer wesentlichen Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit führt, gleichstellen. Insbesondere sind auch die Angaben der Klägerin zu Art und Ausmaß der Schmerzen nicht geeignet, derartige Einschränkungen, wie sie bei ausgeprägteren depressiven oder somatoformen Störungen gegeben sind, nachzuweisen. Zudem sind auch nach dem Entlassungsbericht über das im Januar/Februar 2000 in der V. durchgeführte Heilverfahren Aggravationstendenzen nicht auszuschließen.
Insgesamt sind die mit der fibromyalgischen Erkrankung einhergehenden Begleiterscheinungen unter Würdigung sämtlicher medizinischer Unterlagen am ehesten mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen zu vergleichen, so dass hierfür innerhalb des Bewertungsrahmens von 0 - 20 ein GdB von 20 in Ansatz gebracht werden kann.
Auch unter Berücksichtigung dieses eigenständigen Teil-GdB von 20 für die Fibromyalgie, der im wesentlichen durch die Schmerzkomponente bedingt ist, ist im Ergebnis der von Dr. A. vorgeschlagene GdB von insgesamt 30 zutreffend. Denn bei den zu berücksichtigenden Teil-GdB von jeweils 20 für die Fibromyalgie und die reinen Wirbelsäulenschäden erscheint ein GdB von 30 vertretbar. Jedenfalls ist ein höherer GdB als von insgesamt 40 nicht gerechtfertigt. Letzteres gilt im übrigen auch dann, wenn man die durch die Fibromyalgie hervorgerufenen Störungen mit stärker behindern den Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bedingen, gleichstellen wollte und einen GdB-Rahmen von 30-40 für vertretbar erachtete. Denn selbst bei Annahme eines GdB von 40 für das Fibromyalgiesyndrom würde dieser GdB durch den Teil-GdB von 20 für die reinen Wirbelsäulenschäden nicht auf 50 erhöht. Denn nach den für die Bildung des Gesamt-GdB maßgeblichen Beurteilungskriterien ist es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Letzteres ist hier der Fall. Entscheidend hierfür ist, dass die reinen Wirbelsäulenschäden lediglich leichte Funktionsstörungen bedingen und sich diese Funktionsstörungen zu dem mit der durch das Fibromyalgiesyndrom bedingten Schmerzsymptomatik überschneiden.
Insgesamt ist auch unter Zugrundelegung der heute feststellbaren Funktionsstörungen ein höherer GdB als 40 nicht gerechtfertigt. Auch wenn man ein Fibromyalgiesyndrom als nachgewiesen ansieht, lässt sich aus der hierdurch bedingten im wesentlichen auf subjektiven Empfindungen beruhenden Schmerzsymptomatik jedenfalls nicht die Schwerbehinderteneigenschaft der Klägerin herleiten. Abgesehen hiervon sind - wie oben ausgeführt - die angefochtenen Bescheide jedenfalls bereits deshalb nicht zu beanstanden, weil eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i. S. d. § 48 SGB X nicht nachgewiesen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz.
Es besteht kein Anlass, die Revision zuzulassen.
Sozialgericht Düsseldorf, Urteil vom 13.02.2002, Az.: S 31 SB 282/01
Leitsätze:
1. Ein von der Versorgungsverwaltung nach dem Schwerbehindertengesetz gewährter Grad der Behinderung (GdB) kann nicht - unter Berufung auf das Institut der „Heilungsbewährung“ welches in den vom Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales herausgegebenen „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit“ geregelt ist - entzogen werden.
2. Die vom Bundesministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales herausgegebenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“, auf die sich die Versorgungsbehörden bei der Festsetzung von Behinderungsgraden stützen, sind kein Gesetz. Ihre Anwendung durch die Behörden ist mit elementaren Grundsätzen der Verfassung nicht vereinbar.
3. Die im Internet veröffentlichte „Behindertentabelle“ (www.behindertentabelle.de) ist den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit“ vorzuziehen. Behinderte sollten darauf achten, dass ihr Behinderungsgrad unter Zugrundelegung der „Behindertentabelle“ und nicht der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit“ gebildet wird.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz - SchwbG - um die Höhe des Grades der Behinderung - GdB -.
Bei der 1945 geborenen Klägerin hatte der Beklage mit Bescheid vom 29.08.1995 einen GdB von 50 wegen
1. Verlust der Gebärmutter im Stadium der Heilungsbewährung (nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten GdB 50)
2. Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Skoliose und Beckenschiefstand rechts (GdB 10)
festgestellt.
Im Juli 2000 trat der Beklagte in eine Überprüfung des Behinderungsgrades von Amts wegen ein. Zu diesem Zweck holte er Befundberichte von dem Frauenarzt Dr. S. und dem Arzt für Nervenheilkunde Dr. H. ein und hörte die Klägerin unter dem 16.10.2000 zu einer ins Auge gefassten Herabsetzung des GdB auf 20 an. Zur Begründung führte der Beklagte in seinem Anhörungsschreiben aus:
"Nach den maßgebenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz werden bei Erkrankungen, die zu Rückfällen neigen, für einen bestimmten Zeitraum nicht nur die Funktionsstörungen infolge von Organ- und Gliedmaßenschäden sowie die damit verbundenen Leistungsbeeinträchtigungen berücksichtigt, sondern auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung in der Lebensführung.
In Anbetracht dieser besonderen Umstände ist bei ihnen der GdB höher als allein nach den objektiv vorliegenden Funktionseinschränkungen festgestellt worden. Aus den mir jetzt vorliegenden Berichten des Dr. S. von 21.08.2000 sowie des Dr. H. vom 18.09.2000, die ich unter Beteiligung meines ärztlichen Beraters ausgewertet habe, ergibt sich, dass hinsichtlich der bei ihnen festgestellten Funktionsbeeinträchtigung "Verlust der Gebärmutter" eine Heilungsbewährung eingetreten ist. In den letzten Jahren seit ihrer Erkrankung sind Rückfälle nicht aufgetreten, das Risiko eines Rückfalls ist erheblich reduziert und ihr Gesundheitszustand hat sich stabilisiert".
Hiergegen wendete sich die Klägerin, indem sie ausführte, die beabsichtigte Herabstufung wegen einer Heilungsbewährung sei falsch. Bei der Klägerin bestehe ein familiär erhöhtes Karzinom-Risiko.
Mit Bescheid vom 22.01.2001 setzte der Beklagte den GdB auf 20 herab. Dabei ist der Beklagte - nach der internen ärztlichen Stellungnahme vom 05.10.2000 - allein von der Behinderung
degenerative Veränderung der Wirbelsäule, Skoliose mit Beckenschiefstand rechts, chronisches Schmerzsyndrom (GdB 20)
ausgegangen.
Gegen den Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein, den sie erneut mit dem familiär erhöhten Krebsrisiko begründete.
Mit Bescheid vom 13.06.2001 wies der Beklagte den Widerspruch als sachlich unbegründet zurück. Zur Begründung führte der Beklagte unter anderem aus:
bei Funktionsbeeinträchtigungen, die zu Rückfällen neigen oder bei denen die Belastbarkeit abgewartet werden muss, stellt ohne Befundänderung allein die durch Zeitablauf eingetretene Heilungsbewährung eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne von § 48 des Zehntes Buches des Sozialgesetzbuches - SGB X - dar.
Gegen den Bescheid richtet sich die am 16.07.2001 bei Gericht eingegangene Klage.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 22.01.2001 und den Widerspruchsbescheid vom 13.06.2001 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung Befundberichte von dem Orthopäden Dr. D., dem Internisten Dr. G., dem Nervenarzt Dr. H. und dem Gynäkologen Dr. S. eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht erhobene und Klage ist als Anfechtungsklage zulässig. Maßgebend ist die Rechtslage bei Erlass des angefochtenen Widerspruchsbescheides, der noch zu Zeiten des Schwerbehindertengesetzes erlassen wurde (Seit Juli 2001 SGB IX).
Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.
Nach § 48 SGB X, auf den der Beklagte seinen Bescheid gestützt hat, kann, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt aufgehoben werden.
Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen vorliegend nicht vor. Weder in den rechtlichen noch in den tatsächlichen Verhältnissen hat sich seit Erteilung des Verwaltungsaktes vom 29.08.1995 eine wesentliche Änderung ergeben.
Tatsächlich liegt eine Änderung nicht vor, weil der Gesundheitszustand hinsichtlich des Krebsleidens am 29.08.1995 im Wesentlichen der gleiche war wie zum Zeitpunkt des Bescheides vom 22.01.2001. Sowohl im Januar 2001 wie auch im August 1995 hat die Klägerin an einem Zustand nach Verlust der Gebärmutter durch Krebs gelitten. Der bei der Klägerin vorliegende Gebärmutterkrebs ist im M.-hospital Düsseldorf im Februar 1994 entfernt worden. Seitdem sind Metastasen des Tumors nicht mehr nachgewiesen worden. Eine erkennbare Änderung im Gesundheitszustand zwischen August 1995 und Januar 2001 ist demnach nicht ersichtlich. Wenn überhaupt hat sich hier eine Verschlechterung ergeben, denn das Wirbelsäulenleiden der Klägerin wird nun mit einem GdB von 20 bewertet.
In den Verhältnissen der Klägerin ist auch keine rechtliche Veränderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X eingetreten. Die Vorschrift des § 48 SGB X ist im fraglichen Zeitraum nicht verändert worden.
Soweit sich der Beklagte hinsichtlich der Änderung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X auf die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, 1996" - Anhaltspunkte - beruft, ist festzuhalten, dass diese "Anhaltspunkte" keine Rechtsgrundlage für den Entzug von Sozialleistungen darstellen können. Nach Artikel 19 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - darf in eine Rechtsposition nur mittels eines allgemein geltenden Gesetzes eingegriffen werden. Die "Anhaltspunkte" sind kein Gesetz (Strassfeld , Charakter der „Anhaltspunkte“ unter www.uwendler.de). Zwar hat das Bundessozialgericht (BSG Urteil vom 11.10.1994, Az.: 9 RVs 1/93) festgestellt, dass den "Anhaltspunkten" rechtsnormähnliche Qualität zukommt, dies reicht jedoch ebenfalls nicht aus, um den Vorgaben des Grundgesetzes gerecht zu werden. Das Bundessozialgericht hat nämlich gleichzeitig ausgeführt, dass auf Dauer den "Anhaltspunkten" nur gefolgt werden kann, wenn diese in ein Gesetz überführt werden. Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 06.03.1995 (Az.: 1 BvR 60/95) festgestellt, dass die "Anhaltspunkte" in Zukunft nur Beachtung finden können, wenn sie in ein "Gesetz" überführt werden. Vor dem Bundesverfassungsgericht hat der Bundesminister für Arbeit, der die "Anhaltspunkte" herausgibt, seinerzeit zugesagt, die "Anhaltspunkte" alsbald in ein Gesetz zu überführen. Das Bundesverfassungsgericht hat dann ausgeführt:
"Bis zur Schaffung der erforderlichen Rechtsgrundlagen ist ein Eingreifen des Bundesverfassungsgericht noch nicht angezeigt (....)."
Diesbezüglich ist allerdings festzuhalten, dass inzwischen sieben Jahre vergangen sind und der Bundesminister für Arbeit keinerlei Anstalten macht, die "Anhaltspunkte" in ein Gesetz zu überführen. In einem Parallelverfahren vor dem SG Düsseldorf hat der Bundesminister inzwischen mitgeteilt, dass jedenfalls in dieser Legislaturperiode keine "Verrechtlichung" der Anhaltspunkte mehr geplant ist. Das Gericht geht davon aus, dass die Überführung der "Anhaltspunkte" in ein Gesetz damit zumindest noch auf Jahre nicht erfolgen dürfte. Damit wird ein für Gerichte und Behinderte nicht hinnehmbarer Rechtszustand zementiert. Nach somit weiter geltender "Rechtslage" wird nämlich das "Gesetz" im Schwerbehindertenrecht weiterhin ausschließlich von der Verwaltung selbst gemacht. Inwieweit die "Anhaltspunkte" geändert oder fortgeschrieben werden bestimmt nämlich der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesminister für Arbeit. Dieser besteht aus den leitenden Ärzten der Landesversorgungsämter und einigen Mitarbeitern des Bundesministeriums für Arbeit. Dieses Gremium unterliegt keiner wie immer gearteten parlamentarischen oder rechtlichen Kontrolle, sondern es bestimmt allein nach Gutdünken darüber, welcher Behinderungsgrad welcher Krankheit zugeordnet wird.
Neben der Tatsache, dass die Verwaltung hier das maßgebliche Recht selber ausgestaltet, ist das gewählte Verfahren auch aus anderen Gründen bedenklich. Zum einen fehlt den „Anhaltspunkten“ jegliche Transparenz, denn Außenstehende und selbst die Gerichte können nicht erkennen, welche Behinderung gerade wie bewertet wird. Zum anderen erfüllen die "Anhaltspunkte" nicht die vom Bundessozialgericht aufgestellten Anforderungen, weil sie einer wissenschaftlichen Grundlage entbehren und nicht von einem entsprechenden Fachgremium aufgrund der zusammengefassten Sachkunde und Erfahrung ihrer sachverständigen Mitglieder erstellt werden (vgl. BSG Urteil vom 02.05.2001 Az.: B 2 U 24/00 R). Außerdem sind die "Anhaltspunkte" rechtswidrig, denn Sie weichen vielfach von Begutachtungsrichtlinien der Berufsgenossenschaften ab, was zu Feststellungen nach dem SchwbG führt, die mit Art. 3 GG nicht in Einklang zu bringen sind.
1. Die mangelnde Transparenz der Anhaltspunkte folgt daraus, dass die Anhaltspunkte nur etwa alle 10 Jahre neu gefasst werden. Zwischenzeitlich werden aber die "Anhaltspunkte" durch den ärztlichen Sachverständigenbeirat beim BMA - auf seinen halbjährlichen Beiratssitzungen - geändert. Die Beschlüsse über diese Änderungen werden vom Bundesminister für Arbeit ausschließlich den Versorgungsbehörden zur Verfügung gestellt. So hat der Bundesminister für Arbeit mit Schreiben vom 01.08.2001 an alle Ministerien und Senatoren für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Bundesländer folgendes Schreiben verschickt:
Wie die (...) Prüfung der Rechtslage ergeben hat, sind die Niederschriften urheberrechtlich geschützt. Bei ihnen handelt es sich weder um Rechtsnormen noch um sonstige, im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlichte Werke im Sinne des § 5 Urheberschutzgesetz.
Eine Veröffentlichung oder Verwertung der Niederschriften über die Sitzungen des ärztlichen Sachverständigenbeirats, ob als Druckwerk oder im Internet, ist deshalb (...) unzulässig."
Anlass für dieses Schreiben war die Veröffentlichung von Beiratsbeschlüssen (ohne nicht öffentliche Aussagen und persönliche Angaben in den Beschlüssen) durch das Landessozialgericht NRW, auf dessen Internetseite. Folgerichtig hat der BMA dem LSG und Anderen, die die Beschlüsse veröffentlichen wollten, dies auch untersagt (vgl. "Rechtliches" auf der Internetseite http://www.uwendler.de.). Mit dem Schreiben des BMA wird klargestellt, dass die Versorgungsämter die Niederschriften in keiner Weise weitergeben dürfen. Die geht auch aus dem Vermerk zur Beiratssitzung von November 2000 hervor, wo der Beirat ausführt:
Aus gegebenem Anlaß wurde darauf hingewiesen, dass die Sitzungen der Sektion Versorgungsmedizin nicht öffentlich sind. Die Niederschriften der Sitzungen werden deshalb nur einem sehr eng begrenzten Kreis von Berechtigten (...) übersandt. Mit der Übersendung hat der Empfänger nicht das Recht, die Niederschriften (...) weiterzugeben, oder sogar für eine Veröffentlichung (...) freizugeben.
Da die Niederschriften nur mit nichtöffentlichen Aussagen und persönlichen Angaben weitergegeben werden, und Niederschriften ohne diese Zusätze vom Bundesminister weder erstellt noch veröffentlicht werden, ist ein Zugriff Dritter, sogar der Gerichte, auf die Niederschriften nicht möglich. In NRW erhalten die Gerichte die Niederschriften zwar seit 1997 aufgrund einer Vereinbarung mit dem Landesversorgungsamt NRW, dies gilt jedoch für andere Bundesländer nicht. Der BMA hat sich jedenfalls gegenüber dem Sozialgerichts Düsseldorf geweigert, die Niederschriften zur Verfügung zu stellen.
Zwar wird ein Teil der Niederschriften in dem von Mitarbeitern des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung bearbeiteten Kommentar Rohr/Strässer "veröffentlicht", dies reicht jedoch zur allgemeinen Kenntnisnahme nicht aus. Abgesehen davon, dass der oben genannte Kommentar mehrere hundert Euro kostet und daher als allgemeine Veröffentlichungsquelle schon nicht geeignet ist, werden in dem Kommentar nur einige der Beiratsbeschlüsse aufgeführt. Zudem werden die Beschlüsse dort nicht im Wortlaut wiedergegeben, sondern ihnen wird von den Kommentatoren ein vermeintlicher Inhalt unterstellt. So kann nicht ausgeschlossen werden, dass Beschlüsse falsch oder Sinn entstellt wiedergegeben werden. Zudem werden ältere Beschlüsse des ärztlichen Sachverständigenbeirats, die nicht mehr dem aktuellen Stand der "Anhaltspunkte" entsprechen oder die die Verfasser des Kommentars für nicht mehr zutreffend halten, nicht abgedruckt. Damit ist der nach § 48 SGB X erforderliche Vergleich der Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses früherer Bescheide mit der heutigen Rechtslage anhand des Kommentars nicht möglich.
Auch die gelegentlich vom Bundesminister für Arbeit veröffentlichten Änderungen der „Anhaltspunkte“ in seinem Ministerialblatt sind zur Herstellung der erforderlichen Transparenz nicht ausreichend. So hat der BMA beispielsweise erst im Jahre 2001, rückwirkend einzelne Änderungen der letzten vier Jahre in seinem Ministerialblatt veröffentlicht (Schreiben des BMA vom 20.3.2001 Geschäftszeichen VI a 5 –65463-3). Eine so sporadische und zudem äußerst lückenhafte Veröffentlichung der Beiratsbeschlüsse und der Änderungen der „Anhaltspunkte“ hält das Gericht für nicht ausreichend.
Tatsächlich ist auch von Seiten des Bundesarbeitsministeriums gar nicht beabsichtigt, den Antragstellern, Anwälten und Behindertenvertretern sowie den Gerichten den aktuellen Stand der "Anhaltspunkte" bekannt zu geben. Dies wird schon daraus sichtbar, dass sich der BMA nach dem oben zitierten Schreiben vom 01.08.2001 hier auf das Urhebergesetz beruft und zwar mit der Begründung,
Die Beiratsbeschlüsse seien nicht „zur allgemeinen Kenntnisnahme“
bestimmt (Schreiben vom 1.8.01(a.a.O.).
Es ist nicht Aufgabe dieser Entscheidungsgründe über Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise des BMA zu spekulieren. Es muss aber die Feststellung getroffen werden, dass der BMA jedenfalls mit allen Mitteln versucht, eine Unterrichtung breiter Kreise über die Fortschreibung der „Anhaltspunkte“ zu verhindern.
2. Die "Anhaltspunkte" stellen zudem kein "einleuchtendes und abgewogenes Beurteilungsgefüge" (BSG Urteil vom 11.10.1994 a.a. O.) dar. Dies schon deshalb, weil die "Anhaltspunkte" - entgegen entsprechender Behauptungen des BMA - nicht auf eine wissenschaftliche Grundlage gestellt sind. Die "Anhaltspunkte" werden nämlich - wie bereits oben dargelegt - ausschließlich von den leitenden Ärzten der Landesversorgungsämter und den Mitarbeitern des BMA ausgestaltet. Diese Schöpfer der Anhaltspunkte sind in der Regel nicht wissenschaftlich oder klinisch tätig, in der Regel nicht einmal mit der praktischen Auslegung der "Anhaltspunkte" befasst, denn die leitenden Ärzte der Landesversorgungsämter sind ganz überwiegend mit Verwaltungsorganisationstätigkeiten betraut. Es erscheint daher nicht unbedingt zwingend, dass gerade dieser Kreis von Medizinern den ausschließlichen Sachverstand besitzt, die Auswirkung von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu beurteilen. Tatsächlich funktionieren die "Anhaltspunkte" nach einem System, dessen wissenschaftliche Legitimation eher fraglich ist; nämlich wie folgt:
Der Leiter der Sektion Versorgungsmedizin beim Bundesminister für Arbeit Dr. R. ist gleichzeitig Chefredakteur (Hauptschriftleiter) der Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige" und zwar nicht nur im Nebenamt, sondern offenbar im Rahmen seiner BMA-Tätigkeit, denn er firmiert auf dem Briefpapier des die Zeitschrift herausgebenden „Gentner Verlages“ mit seiner Dienstbezeichnung und (ausschließlich) seiner dienstlichen Telefonnummer beim BMA. Dieser Zeitschrift – die, nur wenige Abonnenten (soweit bekannt ca. 1000) hat und Verbreitung kaum über die Verwaltung hinaus findet – spricht der BMA und der Sachverständigenbeirat beim BMA die Kompetenz zu, den Stand der medizinischen Wissenschaft bei Begutachtungen wiederzugeben. Bei näherer Betrachtung gewinnt der Beobachter allerdings den Eindruck, dass es sich bei dieser Zeitschrift um ein abgeschottetes System handelt, um unter Anderem. die "Anhaltspunkte" (pseudo-) wissenschaftlich zu begründen. Jedenfalls liegen dem Gericht Beschwerden von unabhängigen Sachverständigen vor, dass eine Veröffentlichung Ihrer Beiträge von der Zeitschrift abgelehnt wurde.
Wie aus verschiedenen Beiratsbeschlüssen ersichtlich, funktioniert das System in der Praxis so, dass beispielsweise ein zum ärztlichen Sachverständigenbeirat gehörender oder diesem Beirat gesonnener Arzt, einen entsprechenden Bericht in der Zeitschrift "Der medizinische Sachverständige" veröffentlicht. Diese Veröffentlichung wird dann, bei der nächsten Beiratssitzung, zur Tischvorlage gemacht und unter Berufung auf diese Veröffentlichung, die nun angeblich den Stand der medizinischen Wissenschaft wiedergeben soll, werden die „Anhaltspunkte“ geändert. Dieser Irreführung ist sogar das Bundessozialgericht in seinem Urteil vom 11.10.1994 aufgesessen. Zur Untermauerung, dass das vom BMA (Dr. R.) in den „Anhaltspunkten“ verankerte Institut der "Heilungsbewährung" wissenschaftlichem Stand entspricht, wird dort auf einen Aufsatz von Dr. R. in "Der medizinische Sachverständige“ (Chefredakteur Dr. R.) verwiesen.
Auch in vielen anderen Bereichen werden die „Anhaltspunkte“ von unabhängigen Sachverständigen zum Teil scharf angegriffen.
So berücksichtigen die „Anhaltspunkte“ beispielsweise bei Herzerkrankungen weder das Geschlecht (trotz nachweislich unterschiedliche Leistungsfähigkeit) noch das Gewicht.
Das Institut der Heilungsbewährung ist z.T. systemwidrig (fehlende Funktionsbeeinträchtigung) z.T. –hinsichtlich der Zeiten - willkürlich, seine Begründung ist zweifelhaft, wie auch der vorliegende Fall zeigt. So führt der Bekl. im Widerspruchsbescheid aus, die „Heilungsbewährung“ bewerte „für einen bestimmten Zeitraum nicht nur die Funktionsstörungen infolge von Organ- und Gliedmaßenschäden sowie die damit verbundenen Leistungsbeeinträchtigungen, sondern auch die Rückfallneigung und die damit verbundenen Ängste, die Ungewissheit über die Wiederherstellung der Belastbarkeit und die Anpassungsschwierigkeiten durch die Umstellung in der Lebensführung“. Die Klägerin stützt aber ihre Klage hier – mit guten Gründen – gerade darauf, dass entsprechende Ängste und Ungewissheiten in gleichem Ausmaß auch nach Ablauf der Heilungsbewährung bestehen können.
Bei Gelenkveränderungen bewerten die „Anhaltspunkte“ im Wesentlichen nur die Funktionsbreite, nicht aber die Minderbelastung von Gelenken u.s.w..
Viele ernst zu nehmende Wissenschaftler zweifeln daher an, dass die „Anhaltspunkte“ ein in sich logisches und wissenschaftlich nachvollziehbares Beurteilungsgefüge bilden. Da Sie aber über die Zeitschrift „Der medizinische Sachverständige“ (s.o) kein Forum für Ihre Thesen erhalten, bleibt ihre Meinung bei Änderungen der „Anhaltspunkte“ unbeachtet.
3. Schließlich sind die „Anhaltspunkte“ mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften des SGB XI nicht in Einklang zu bringen. Gemäß § 69 Abs. 2 (früher § 4 Abs. 2 SchwbG) des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - SGB IX - ist eine Feststellung nach Abs. 1 des § 69 nicht zu treffen, wenn eine Feststellung über das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Erwerbsminderung schon in einem Rentenbescheid, einer entsprechenden Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidung oder einer vorläufigen Bescheinigung der für dieser Entscheidungen zuständigen Dienststellen getroffen worden ist. Eine Feststellung nach Satz 1 gilt zugleich als Feststellung des Grades der Behinderung.
Nach der vorgenannten zitierten Rechtsnorm hat also derjenige, bei dem eine bestimmte MdE zum Beispiel in einem berufsgenossenschaftlichen Verfahren festgestellt wurde, gleichzeitig Anspruch auf einen entsprechenden GdB bzw. die bei ihm festgestellte MdE gilt als GdB nach dem Schwerbehindertengesetz. Unter Berücksichtigung von Art. 3 GG (Gleichheitsgrundsatz) gebietet diese gesetzliche Vorschrift die „Anhaltspunkte“ in den entsprechenden Bereichen so zu gestalten, wie die entsprechenden Tabellen zum Beispiel der Berufsgenossenschaften. Dem werden die „Anhaltspunkte aber nicht gerecht. So hat noch der ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMA in seiner Sitzung vom April 2001 bekundet, dass er der Änderung der Berufsgenossenschaft bei dem Verlust einer Hand nicht folgen will und den GdB für diese Behinderung weiterhin mit 50 ansetzen will (BG= MdE 60). Dies hat praktisch zur Folge, dass jemand der seine Hand bei einem Berufsunfall verliert Anspruch auf einen GdB von 60 hat. Wer dagegen seine Hand bei einem Freizeitunfall verliert, hat dagegen nur Anspruch auf einen GdB von 50. Diese Unterscheidung ist nicht nur grob systemwidrig, sondern auch rechtlich nicht vertretbar, denn das Schwerbehindertenrecht unterscheidet ausdrücklich nicht danach, bei welcher Gelegenheit und aus welchem Grund eine Behinderung eingetreten ist. Nach Recherchen der Kammer weichen die (verschiedenen) BG-Richtlinien in über 40 Fällen von den "Anhaltspunkten" ab, so dass bei Berufsunfällen die Bildung des GdB häufig eher zufällig ist.
Nach alledem hält es die Kammer nicht mehr für gerechtfertigt, die "Anhaltspunkte" anzuwenden, denn die Behinderten werden von diesen unangemessen benachteiligt.
Zudem hat das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.) den Gerichten ausdrücklich die Möglichkeit eröffnet, eigene Beurteilungskriterien zu entwickeln. Zwar haben die Gerichte bislang hiervon keinen Gebrauch gemacht, eine Gruppe von unabhängigen Sachverständigen hat jedoch im Internet inzwischen eine "Behindertentabelle" (www.behindertentabelle.de) veröffentlicht, die eine Reihe der oben zitierten Fehler der „Anhaltspunkte“ beseitigt. Diese Tabelle ist für jedermann zugänglich und die aus ihr abzulesenden Behinderungsgrade sind damit nachvollziehbar. Im Übrigen folgt die Tabelle internationalen Vorgaben und Standards und die Tabelle gleicht die Behinderungsgrade in zahlreichen Fällen den "BG-Richtlinien" an (zumindest dort, wo Behinderte benachteiligt sind. In den Fällen, wo Behinderte durch die „Anhaltspunkte“ begünstigt werden, ist eine Angleichung gemäß § 69 SGB IX nicht erforderlich). Mit dem Erscheinen der "Behindertentabelle" sind auch die Bedenken des BSG hinsichtlich einer gleichmäßigen Behandlung der Behinderten ausgeräumt. Das Bundessozialgericht hat nämlich die weitere Anwendung der "Anhaltspunkte" im wesentlichen damit begründet, dass eine Alternative zu den „Anhaltspunkten“ fehle. Zwar dürfte auch die „Behindertentabelle“ – zumindest derzeit – noch nicht alle Ungereimtheiten der „Anhaltspunkte“ beseitigen. Gerichte, unabhängige Sachverständige und Behinderte haben aber die Möglichkeit diese Tabelle entsprechend auszubauen und zu beeinflussen.
RMB