Bundessozialgericht  Az.: B 9 SB 3/01 R BSG - Urteil vom 07. November 2001
 

Leitsatz:
Keine Erstattung von Fahrtkosten durch feststellende Behörde bei verspäteter Feststellung des Nachteilsausgleichs "G"
 
 
 

Tatbestand:                                                    I

Der Kläger begehrt von dem Beklagten Erstattung ihm durch die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel entstandener
Kosten, die er zeitlich nach dem (rückwirkend festgestellten) Eintritt seiner Schwerbehinderung und seiner erheblichen
Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (Merkzeichen "G"), aber vor dem Erlaß des
entsprechenden Feststellungsbescheides aufgewendet hat.

Der 1953 geborene Kläger beantragte im Juli 1997 unter anderem die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Nachdem
sich das Verwaltungsverfahren wegen seiner Alkoholerkrankung und entsprechender Entziehungskuren zunächst
verzögert hatte, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 23. März 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7.
Juni 1999 ab 10. Juli 1997 einen Grad der Behinderung (GdB) von 60 und die gesundheitlichen Voraussetzungen für die
Zuerkennung des Merkzeichens "G" fest. Daraufhin beantragte der Kläger am 10. Juni 1999 die Erstattung von Kosten
für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in der Zeit vom Juli 1997 bis Juni 1999. In dieser Zeit seien ihm 1.941,00
DM Kosten entstanden. Der auf diese Monate entfallende Eigenanteil betrage 150,00 DM, so daß ihm 1.791,00 DM zu
erstatten seien.

Mit Bescheid vom 15. Juni 1999 lehnte der Beklagte die Erstattung mit der Begründung ab, hierfür gebe es keine
gesetzliche Grundlage. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30. August 1999
zurückgewiesen, seine Klage und seine Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts <SG> Lübeck vom
14. Dezember 1999 sowie Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts <LSG> vom 5. Dezember 2000).
Das LSG führte in seinem Urteil sinngemäß aus, ein Anspruch auf teilweise Erstattung der Fahrtkosten für die Benutzung
öffentlicher Verkehrsmittel finde weder im Schwerbehindertengesetz (SchwbG) noch in der Ausweisverordnung
Schwerbehindertengesetz (SchwbAwV) eine Rechtsgrundlage. Dem Beklagten gegenüber komme von vornherein nur
ein Anspruch auf Ausstellung eines Beiblattes zum Schwerbehindertenausweis mit den entsprechenden Wertmarken für
die unentgeltliche Beförderung in Betracht. Ein solches Beiblatt könne schon deswegen nicht nachträglich ausgestellt
werden, weil zunächst ein Schwerbehindertenausweis erteilt werden müsse, der die vorherige Feststellung der
Behinderung und des GdB sowie der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" voraussetze. Dem
Kläger sei einzuräumen, daß diese Gesetzeslage im Fall der rückwirkenden Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G"
zu unbefriedigenden Ergebnissen führen könne. Das in § 6 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SchwbAwV für den Beginn der
Gültigkeitsdauer des Schwerbehindertenausweises vorgesehene Datum lasse nämlich erkennen, daß Feststellungen
nach § 4 SchwbG stets auch für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum erfolgten. Es hätte nahegelegen, dafür
Sorge zu tragen, daß die mit den Statusfeststellungen verbundenen Rechtsvorteile dem Betroffenen auch rückwirkend
zugute kommen. Das sei hinsichtlich steuerlicher Vergünstigungen auch der Fall. Indessen widerspreche es der
gesetzlichen Systematik, wenn im Falle einer nachträglichen Feststellung der Voraussetzungen für den
Nachteilsausgleich "G" die Versorgungsämter eine Geldleistung gegenüber dem Schwerbehinderten zu erbringen hätten.
Auch bestehe insoweit weder ein Folgenbeseitigungsanspruch noch ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch.

Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seinen Anspruch weiter. Er rügt die Verletzung des § 59 iVm § 4
SchwbG und der §§ 4 bis 6 der SchwbAwV. Es leuchte nicht ein, weshalb dem Schwerbehinderten, der nach § 3a Abs 3
SchwbAwV anstelle der unentgeltlichen Beförderung die Kraftfahrzeugsteuerermäßigung in Anspruch nehmen wolle,
diese rückwirkend zugute komme, dem Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen "G", der kein Kraftfahrzeug besitze,
der ihm zugedachte Nachteilsausgleich dagegen nicht. Es sei nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber ein solches
Ergebnis beabsichtigt habe. Mithin liege eine Gesetzeslücke vor, die insbesondere deswegen erheblich sei, weil
erfahrungsgemäß zwischen Antragstellung und Zuerkennung des Merkzeichens häufig mehrere Jahre vergingen.

Der Kläger beantragt,

     den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Juni 1999 in der Gestalt des
     Widerspruchsbescheides vom 30. August 1999 sowie des Urteils des Sozialgerichts Lübeck vom 14.
     Dezember 1999 und des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichtes vom 5. Dezember
     2000 zu verurteilen, an den Kläger die ihm im Zeitraum vom 10. Juli 1997 bis zum 7. Juni 1999 entstandenen
     Kosten für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel in Höhe von 1.941,00 DM abzüglich des gesetzlich
     vorgesehenen Eigenanteils zu erstatten.

Der Beklagte beantragt,

     die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts für richtig.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt.
 
 

Entscheidungsgründe                                              

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.

Da der Kläger Erstattungsansprüche für Zeiträume vor Inkrafttreten des seit 1. Juli 2001 geltenden Neunten Buchs
Sozialgesetzbuch (SGB IX) vom 19. Juni 2001 (BGBl I S 1046) geltend macht, sind die einschlägigen Bestimmungen
des SchwbG idF der Neubekanntmachung vom 26. August 1986 (BGBl I S 1421) und des Gesetzes vom 11. Januar
1993 (BGBl I S 50) sowie die SchwbAwV vom 25. Juli 1991 (BGBl I S 1739) idF des Gesetzes vom 27. Dezember 1993
(BGBl I S 2378) maßgebend.

Gemäß § 59 Abs 1 Satz 1 SchwbG sind ua Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit
im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen
Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 4 Abs 5 SchwbG (Schwerbehindertenausweis) im
Nahverkehr unentgeltlich zu befördern. Gemäß Sätzen 2 und 3 der Vorschrift muß der Ausweis mit einer Wertmarke
versehen sein, der idR gegen Entrichtung eines Betrages von 120,- DM für ein Jahr (oder 60,- DM für ein halbes Jahr)
ausgegeben wird. Gemäß § 4 Abs 1 und 4 SchwbG haben die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes
(BVG) zuständigen Behörden (Versorgungsämter usw) einerseits die Schwerbehinderung (§ 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG
iVm § 1 SchwbG) und andererseits das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die erhebliche Beeinträchtigung
der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr (§ 4 Abs 4 iVm § 59 Abs 1 und § 60 Abs 1 SchwbG) festzustellen. Ferner
obliegt es ihnen, einen Ausweis über die Eigenschaft als Schwerbehinderter sowie über das Vorliegen einer erheblichen
Behinderung der Bewegungsfähigkeit im öffentlichen Straßenverkehr auszustellen (§ 4 Abs 5 SchwbG). Einzelheiten
bestimmt insoweit die gemäß § 4 Abs 5 Satz 5 erlassene SchwbAwV, welche in § 1 Abs 2 für Schwerbehinderte, die
das Recht auf unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Personenverkehr in Anspruch nehmen können, die Ausstellung
eines Ausweises mit einem halbseitig orangefarbenen Flächenaufdruck vorsieht. Gemäß § 3 Abs 2 Nr 2 SchwbAwV ist
auf der Rückseite dieses Ausweises im ersten Feld das Merkzeichen "G" vorgedruckt. Den Behörden der
Versorgungsverwaltung obliegt es schließlich auch, den Schwerbehinderten, die das Recht auf unentgeltliche
Beförderung in Anspruch nehmen wollen, auf Antrag ein Beiblatt auszustellen, das mit einer Wertmarke versehen ist (§ 59
Abs 1 Satz 7 SchwbG iVm § 3a SchwbAwV). Den Unternehmern, die nach § 59 SchwbG zur unentgeltlichen Beförderung
der mit diesen Urkunden versehenen Schwerbehinderten im Nahverkehr verpflichtet sind, werden die Fahrgeldausfälle
gemäß § 62 ff SchwbG in pauschalierter Form durch die in § 65 bestimmten Kostenträger erstattet.

Statt der Wahrnehmung des vorbezeichneten Nachteilsausgleichs steht es den Schwerbehinderten mit dem Merkzeichen
"G" auch frei, Kraftfahrzeugsteuerermäßigung nach § 3a Abs 2 Kraftfahrzeugsteuergesetz (KraftStG) in Anspruch zu
nehmen. Nach dieser Vorschrift, die hier in der Fassung vom 24. Mai 1994 (BGBl I S 1102) - gültig 1. April 1994 bis 30.
Juni 2001 - anzuwenden ist, ermäßigt sich die Steuer um 50 vH für Kraftfahrzeuge, die für Schwerbehinderte zugelassen
sind, welche in geeigneter Form nachweisen, daß sie die Voraussetzungen des § 59 Abs 1 Satz 1 SchwbG erfüllen. Die
Steuerermäßigung wird nicht gewährt, solange der Schwerbehinderte das Recht zur unentgeltlichen Beförderung nach §
59 SchwbG in Anspruch nimmt. Die Inanspruchnahme der Steuerermäßigung ist vom Finanzamt auf dem
Schwerbehindertenausweis zu vermerken. Andererseits wird nach § 59 Abs 1 Satz 6 SchwbG die zur unentgeltlichen
Beförderung im Nahverkehr erforderliche Wertmarke nicht ausgegeben, wenn der Ausweis einen gültigen Vermerk über
die Inanspruchnahme von Kraftfahrzeugsteuerermäßigung enthält.

Der Status des Schwerbehinderten und die Berechtigung zur Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen beginnen
grundsätzlich mit dem Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen (vgl BSGE 48, 167, 169 = SozR 2200 § 176c Nr 1;
BSG SozR 2200 § 176c Nr 9; BSGE 60, 284, 285 = SozR 3870 § 3 Nr 23; Neumann/Pahlen, SchwbG, 9. Aufl, RdNr 11 ff
zu § 1, RdNr 37 zu § 4; Dopatka in GK-SchwbG, 2. Aufl, RdNr 149 zu § 4). Dem entspricht es, daß in § 6 Abs 1 Nr 1 der
SchwbAwV als Beginn der Gültigkeit des Ausweises idR nicht etwa der Tag der behördlichen Feststellung iS des § 4
Abs 1 und 4 SchwbG oder der Zeitpunkt der Aushändigung des Ausweises, sondern der Tag des Eingangs des
Antrages auf Feststellungen iS des § 4 SchwbG einzutragen ist, es sei denn, die jeweiligen Voraussetzungen seien zu
einem späteren Zeitpunkt eingetreten. Nach § 6 Abs 1 Satz 2 SchwbAwV kann auf Antrag unter bestimmten
Voraussetzungen sogar ein früherer Zeitpunkt als der der Antragstellung eingetragen werden. Der Gesetzgeber
beabsichtigte somit für den Regelfall eine rückwirkende Geltung des Ausweises. Dessen ungeachtet erhält der
Behinderte die Möglichkeit, seinen Status als Schwerbehinderter und das Vorliegen der Voraussetzungen für
Nachteilsausgleiche nachzuweisen, erst mit der Aushändigung des - ggf entsprechend gekennzeichneten -
Schwerbehindertenausweises, welche die vorherigen Statusfeststellungen nach § 4 SchwbG voraussetzt.

Die Feststellung der nach § 59 Abs 1 SchwbG erforderlichen Voraussetzungen hat der Beklagte erst im Juni 1999
getroffen. Infolgedessen hat der Kläger frühestens zu diesem Zeitpunkt den entsprechend gekennzeichneten
Schwerbehindertenausweis erhalten (vgl die Worte "auf Grund" in § 4 Abs 5 SchwbG), mochte dieser auch bereits seit
Juli 1997 gültig sein. Für den bereits zurückliegenden Zeitraum von Juli 1997 bis Juni 1999 war der Kläger faktisch
gehindert, Freifahrten in Anspruch zu nehmen. Zutreffend verweist die Revision darauf, daß der Kläger in dem Fall, daß in
den Jahren 1997 bis 1999 ein Kraftfahrzeug auf ihn zugelassen gewesen wäre und er sein Wahlrecht entsprechend
ausgeübt hätte, für diese Jahre rückwirkend Kraftfahrzeugsteuerermäßigung nach § 3a Abs 2 KraftStG erhalten hätte.
Gleichwohl stehen ihm wegen der Unmöglichkeit, rückwirkend für denselben Zeitraum noch unentgeltliche
Personenbeförderung nach § 59 SchwbG in Anspruch zu nehmen, keine Ausgleichsansprüche in Geld zu. Für
Geldansprüche, welche den Schwerbehinderten nachträglich wirtschaftlich so stellen, als habe er seinen
Schwerbehindertenausweis mit dem Aufdruck "G" bereits bei Beginn des Rückwirkungszeitraums besessen, findet sich
in den geltenden gesetzlichen Vorschriften keine Stütze. Das gilt insbesondere für die Erstattung etwaiger in der
Vergangenheit aufgewendeter Kosten für die Beförderung im Personennahverkehr. Das Fehlen entsprechender
gesetzlicher Vorschriften ist auch nicht verfassungswidrig. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:

Auszugehen ist davon, daß der in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigte
Schwerbehinderte gegen den Versorgungsträger keinen Sozialleistungsanspruch hat, insbesondere keinen solchen auf
unentgeltliche Personenbeförderung. Der Versorgungsträger ist insoweit nicht zu einer Leistung, auch nicht zu einer
Sachleistung verpflichtet. Zwar ist die Versorgungsverwaltung an sich eine Leistungsverwaltung; soweit sie aber das
SchwbG durchführt, hat sie nur die Aufgabe, Bescheide über die in § 4 SchwbG genannten Tatbestände, dh
Feststellungsbescheide über die Zugehörigkeit von Behinderten zu einem bestimmten Personenkreis (Statusbescheide),
zu erlassen, insbesondere das Vorliegen einer Behinderung, den GdB (§ 4 Abs 1 Satz 1 SchwbG) und das Vorliegen
weiterer gesundheitlicher Merkmale als Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen (§ 4 Abs 4
SchwbG) festzustellen. Die ihr außerdem nach näherer Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen obliegenden
Verpflichtungen, entsprechende Ausweise und - für den Fall der Feststellung des Merkzeichens "G2 - Beiblätter und
Wertmarken auszustellen, dienen nur dieser Aufgabe. Der Schwerbehinderte mit dem Merkzeichen "G" wird durch diese
Unterlagen instand gesetzt, seinen Status nachzuweisen und die ihm eingeräumten Rechte (Nachteilsausgleiche) zu
verwirklichen. Die Versorgungsbehörden würden bei der Anwendung des Schwerbehindertengesetzes nur dann über
Sozialleistungen entscheiden, wenn die vorgenannten Feststellungen ihrerseits als Sozialleistungen anzusehen wären.
Das hat der Senat aber - unbeschadet der Anwendbarkeit bestimmter Vorschriften des Leistungsrechts auf die
Statusbescheide der Versorgungsbehörden nach dem SchwbG (vgl BSGE 60, 287, 291 = SozR 1300 § 48 Nr 29) - in
mehreren Entscheidungen verneint (BSGE 69, 14 = SozR 3-1300 § 44 Nr 3 und BSGE 66, 120 ff = SozR 3870 § 4 Nr 4).
Mithin kann die späte Realisierbarkeit des dem Kläger zugedachten Nachteilsausgleichs schon deswegen keine
irgendwie gearteten "Ersatzansprüche" gegen den Beklagten begründen, weil dieser gar nicht die unentgeltliche
Beförderung, sondern lediglich die Feststellung eines vergünstigenden Status schuldet.

Auch gegen die Unternehmer des Nahverkehrs bestehen keinerlei Erstattungsansprüche. Es kann hier dahinstehen,
welcher Natur der diesen gegenüber in § 59 Abs 1 SchwbG eingeräumte Anspruch auf unentgeltliche Beförderung ist,
insbesondere ob er privatrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Natur ist und ob er etwa eine Sozialleistung in Gestalt
einer Sachleistung iS des § 11 SGB I zum Gegenstand hat (so möglicherweise das LSG; anders offenbar Spiolek in
GK-SchwbG, 2. Aufl, RdNr 96 zu § 59). Selbst ein solcher Sachleistungsanspruch wäre jedenfalls immer nur im Rahmen
des § 59 SchwbG, also erst ab Innehabung von Ausweis und Wertmarken eingeräumt. Infolgedessen fehlt es für den
Zeitraum, für den der Kläger Erstattung seiner Fahrtkosten geltend macht, auch in dieser Richtung an einem
Leistungsanspruch, an dessen Stelle ein solcher Erstattungsanspruch treten könnte. Die Unternehmer sind auch nicht
etwa dadurch ungerechtfertigt bereichert, daß sie nach §§ 62 ff SchwbG ihrerseits Erstattungsansprüche gegen die
Träger der Erstattungsbehörden (gemäß § 65 SchwbG Bund und Länder) für solche Zeiträume erwürben, in welchen der
Schwerbehinderte noch keinen Beförderungsanspruch gegen sie hat. Denn die Höhe der Kostenerstattung richtet sich
nach der Zahl der ausgegebenen Wertmarken (vgl dazu im einzelnen § 62 SchwbG) und setzt somit wiederum die
vorherige Ausstellung von Ausweisen voraus. Selbst wenn man also den Erstattungsanspruch des einzelnen
Unternehmers anteilig dem Beförderungsanspruch eines einzelnen Schwerbehinderten zuordnen könnte, so würde er
jedenfalls nicht auf Zeiträume vor Ausstellung des Schwerbehindertenausweises und der entsprechenden Wertmarke
entfallen.

In dem Fehlen von Ausgleichsregelungen oder "Ersatzansprüchen" für den Übergangszeitraum zwischen (nachträglich
festgestelltem) Eintritt der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "unentgeltliche Beförderung im
Personenverkehr" und der Realisierbarkeit dieses Nachteilsausgleichs liegt entgegen der Ansicht der Revision keine
Regelungslücke, vielmehr hat der Gesetzgeber mit der Ausgestaltung des Nachteilsausgleichs in der dargestellten
Weise planmäßig eine zeitliche Diskrepanz zwischen dem Eintritt eines entsprechenden gesundheitlichen Zustandes und
der Einräumung des fraglichen Nachteilsausgleichs in Kauf genommen.

Es liegt der Zuwendung von unentgeltlicher Beförderung im Nahverkehr nach dem SchwbG ein völlig anderes System
zugrunde, als etwa der Erbringung von Sachleistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung. Deshalb lassen sich
auch die Grundsätze des § 13 Abs 3 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) nicht auf dieses System
übertragen. Nach der letztgenannten Vorschrift hat die Krankenkasse dem Versicherten, dem sie eine unaufschiebbare
Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte, oder demgegenüber sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, die diesem
entstandenen Kosten für die selbstbeschaffte Leistung in der entstandenen Höhe zu erstatten. Diese Vorschrift setzt aber
voraus, daß die Krankenkasse eine Leistungspflicht (vgl dazu § 11 SGB V) getroffen hatte, deren Erfüllung sie - auch
durch Dritte, etwa die Kassenärztliche Vereinigung oder sonstige im Vierten Kapitel des SGB V (§§ 69 ff SGB V)
genannte Leistungserbringer - sicherzustellen hatte. Demgegenüber trifft, wie oben dargelegt, den Beklagten gerade
keine Pflicht, dem in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr beeinträchtigten Schwerbehinderten eine Leistung -
auch nicht die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr - zuzuwenden, sondern nur die Pflicht zur Vornahme von
Feststellungen und zur Ausgabe von Ausweisen, welche dem Behinderten die Wahrnehmung entsprechender Rechte
Dritten gegenüber ermöglichen.

Dem Kläger steht auch kein Folgenbeseitigungsanspruch zu, da diese Rechtsfigur auf den Bereich der
Eingriffsverwaltung beschränkt ist und es sich hier um die Zuwendung von Rechtsvorteilen handelt.

Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch scheitert schon daran, daß ein Ausgleich des vom Kläger gesehenen
wirtschaftlichen Nachteils durch eine zulässige Amtshandlung nicht denkbar ist (vgl dazu auch OLG Nürnberg in NJW
1988, 1597 ff). Es verbleiben dem Kläger ggf Amtshaftungsansprüche, diese aber nur dann, wenn dem betreffenden
Beamten der Versorgungsverwaltung bei der Bearbeitung des Antrages eine zumindest fahrlässige Amtspflichtverletzung
iS des § 839 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zur Last fällt. Abgesehen davon, daß dafür keinerlei Anhaltspunkte
bestehen, würde der Prüfung eines derartigen Anspruchs durch den erkennenden Senat die zwingende
verfassungsrechtliche Rechtswegzuweisung in Art 34 Satz 3 des Grundgesetzes (GG) entgegenstehen.

Der Senat kann auch keinen Verstoß der Regelung der unentgeltlichen Personenbeförderung im Nahverkehr gegen das
GG erkennen, insbesondere nicht darin, daß Vorschriften fehlen, die eine irgendwie geartete Zuwendung von Ansprüchen
für die Übergangszeit zwischen Eintritt der gesundheitlichen Voraussetzung für das Merkzeichen "G" und der faktischen
Möglichkeit vorsehen, den Nachteilsausgleich "unentgeltliche Beförderung im Personenverkehr" in Anspruch zu nehmen.
Insbesondere liegt darin kein erkennbarer Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG. Dies gilt zunächst
denjenigen in ihrer Bewegungsfähigkeit beeinträchtigten Schwerbehinderten gegenüber, die anstelle der kostenlosen
Beförderung im Personennahverkehr die Ermäßigung der Kfz-Steuer nach § 3a Abs 2 KraftStG in Anspruch nehmen
(können). Zwar trifft das Vorbringen des Klägers zu, daß dieser Personenkreis den ihm zugedachten Nachteilsausgleich
rückwirkend in Anspruch nehmen kann. Es ist aber nicht erkennbar, daß dadurch eine strukturelle Ungleichbehandlung
zum Nachteil derjenigen Betroffenen eintritt, welche die unentgeltliche Personenbeförderung wählen, und sei dies auch
deswegen, weil sie kein Kraftfahrzeug besitzen. Das ergibt sich schon daraus, daß die Ermäßigung der
Kraftfahrzeugsteuer und die unentgeltliche Beförderung im Personenverkehr miteinander nicht vergleichbar sind, da jeder
der beiden Nachteilsausgleiche von anderen Voraussetzungen abhängt und andere Wirkungen hat. Die Ermäßigung der
Kfz-Steuer besteht in einer Minderung der den Kraftfahrzeughalter regelmäßig treffenden öffentlich-rechtlichen
Belastungen (Steuern). Eine derartige, von der Zurücklegung von Wegen unabhängige Belastung trifft den Nichtbesitzer
von Kraftfahrzeugen nicht. Andererseits beschränken sich die bei der Inanspruchnahme unentgeltlicher
Personenbeförderung für den Erwerb der Wertmarke aufzuwendenden Kosten - wenn solche überhaupt anfallen - auf
jährlich 120,- DM (oder halbjährlich 60,- DM). Insgesamt sind also die diesen Nachteilausgleich wählenden Behinderten
gegenüber den Inhabern von Kraftfahrzeugen, welche die Steuerermäßigung wählen, selbst im Falle eines länger
dauernden Feststellungsverfahrens nicht notwendig wirtschaftlich benachteiligt. Im übrigen führt die geschilderte
Regelung zu Sachzwängen für die Verschiedenbehandlung beider Personenkreise, so daß selbst eine unterstellte
Benachteiligung der Nichtkraftfahrzeughalter als durch die Eigenart des Nachteilsausgleichs nach dem SchwbG sachlich
gerechtfertigt hinzunehmen wäre.

Erst recht kann kein Verstoß gegen den Gleichheitssatz darin gesehen werden, daß es innerhalb derjenigen Betroffenen,
welche die unentgeltliche Personenbeförderung in Anspruch nehmen, hinsichtlich des Beginns des Nachteilsausgleichs
zu Zufallsergebnissen kommen könnte, je nachdem, wie lange das Verwaltungsverfahren bis zur Feststellung der
Schwerbehinderung und der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" andauert (vgl BSGE 60, 7 =
SozR 4100 § 141d Nr 2). Denn da infolge der dargestellten Eigenart des fraglichen Nachteilsausgleichs
Beförderungsansprüche des Betroffenen - wenn überhaupt - erst nach Abschluß des Statusverfahrens entstehen, liegen
gewisse Schwankungen des Beginnszeitpunktes für den Nachteilsausgleich bei den verschiedenen rückwirkend
anerkannten Merkzeicheninhabern in der Natur der Sache und sind als unvermeidlich hinzunehmen. Die Zweckmäßigkeit
der getroffenen Regelung, an welcher der Senat übrigens keinen Zweifel hat, unterliegt nicht der verfassungsrechtlichen
Nachprüfung durch die Gerichte. Ob der Gesetzgeber de lege ferenda dem betroffenen Personenkreis in der Lage des
Klägers gegen einen - ggf noch zu benennenden - Leistungsträger einen Anspruch auf Pauschalzahlung einräumen will,
steht in seinem Regelungsermessen, eine entsprechende Regelung ist aber nicht verfassungsrechtlich geboten.

Nach der derzeitigen Rechtslage hat der Schwerbehinderte, der die Zuerkennung des Merkzeichens "G" beantragt hat,
zur Vermeidung oder doch Begrenzung der wirtschaftlichen Nachteile, die ihm durch die Dauer des
Feststellungsverfahrens nach § 4 SchwbG (heute § 69 SGB IX) drohen, nur die Möglichkeit, die Beschleunigung des
Verwaltungsverfahrens - notfalls mit dem in § 88 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehenen Rechtsbehelf
(Untätigkeitsklage) - zu betreiben oder einen Antrag auf einstweilige Anordnung (dazu vgl BVerfGE 46, 166 = SozR 1500
§ 198 Nr 1 und Meyer-Ladewig SGG 6. Aufl RdNr 2 ff, 20 ff, 22 zu § 97) zu stellen.

Im Kostenpunkt beruht die Entscheidung auf § 193 SGG.
 

 

 

 

 


 

 S O Z I A L G E R I C H T     D Ü S S E L D O R F 
Verkündet am 30.10.2000

Az.: S 31 (38) SB 238/99
 
 

 

T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz - SchwbG um die Höhe des Grades der Behinderung

- GdB - und um den Nachteilsausgleich "erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" - G -.

Die 1971 geborene Klägerin beantragte im September 1998 beim Beklagten die Feststellung eines GdB und der Nachteilsausgleiche "G" und "Befreiung von der Rundfunk- und Fernsehgebührenpflicht" - RF -.

Der Beklagte holte daraufhin Befundberichte von dem Arzt für Allgemeinmedizin Dr. G. und dem Urologen Prof. Dr. H. ein und erteilte unter dem 16.11.1998 einen Bescheid, wonach die Behinderung

    Chronische Blasenwandentzündung mit Blasenentleerungsstörungen

einen GdB von 30 bedingte.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein, mit dem sie vortrug, sie leide an ein er interstitiellen Cystitis, die vom Beklagten nicht mit einem ausreichenden GdB bewertet worden sei. Außerdem sei der bei ihr bestehende Gebärmutterverlust bei noch bestehendem Kinderwunsch nicht berücksichtigt worden.
 

Der Beklagte holte daraufhin weitere Befundberichte von dem Orthopäden Dr. S., dem Urologen Dr. R. und dem St.F. ein und erteilte unter dem 16.04.1999 einen Abhilfebescheid, wonach die Behinderungen
 
 

1. Chronische Entzündung im Zwischengewebe der Harn-
blase mit chronisch wiederkehrenden Unterleibsschmerzen
und gehäufter Blasenentleerung; Gebärmutterverlust
(nach der internen Stellungnahme des ärztlichen
Beraters des Beklagten (GdB 40).

2. Wirbelsäulenbeschwerden, Fehlhaltung (GdB 10)
einen Gesamt-GdB von 40 bedingen.


Auf Nachfrage des Versorgungsamtes hielt die Klägerin ihren Widerspruch allerdings aufrecht, woraufhin der Beklagte die Klägerin amtsärztlich begutachten ließ und unter dem 18.06.1999 einen weiteren Abhilfebescheid erteilte, ausweislich dessen der GdB nun 50 beträgt. Nachteilsausgleiche wurden mit dem Abhilfebescheid versagt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 08.07.1999 wies der Beklagte den weitergehenden Widerspruch der Klägerin als sachlich unbegründet zurück.
 

Hiergegen richtet sich die am 19. Juli 1999 bei Gericht eingegangene Klage, mit der die Klägerin vorträgt, sie müsse bis zu 60 mal am Tag die Toilette aufsuchen und leide an Schmerzen im Unterleibsbereich, die sich besonders auch beim Gehen bemerkbar machen würden. Ihr müssten daher ein höherer GdB als 50 und die Nachteilsausgleiche "G" und "RF" zuerkannt werden.

Unter dem 10.05.2000 hat der Beklagte einen weiteren Bescheid ereilt, wonach der GdB 70 beträgt.

In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin die Klage hinsichtlich des Nachteilsausgleichs "RF" zurückgenommen.
 
 

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 11.05.2000 einen Gesamt-GdB von 80 und den Nachteilsausgleich "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung einen Bericht von dem Anästhesisten Dr. M. beigezogen sowie ein Gutachten von dem Urologen Prof. Dr. H. eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
 
 
 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist teilweise begründet. Die Klägerin ist durch die ursprünglich angefochtenen Bescheide hinsichtlich der Höhe des GdB beschwert gewesen. Diese Beschwer ist jedoch durch den Bescheid vom 10.05.2000 entfallen, denn dieser Bescheid stellt bei der Klägerin zutreffend einen GdB von 70 fest. Allerdings ist die Klägerin trotz dieses Bescheides auch weiterhin insoweit beschwert, als ihr zu Unrecht der Nachteilsausgleich "G" nicht zuerkannt wurde.

Das Gericht verweist hinsichtlich der Rechtsgrundlagen, nach denen der GdB zu bilden ist, auf die insoweit zutreffenden Ausführungen im Widerspruhsbescheid vom 08.07.1999.

Nach Maßgabe dieser Vorschriften kann bei der Klägerin kein höherer Gesamt-GdB als 70 festgestellt werden. Die Kammer folgert dies aus dem schlüssigen und nachvollziehbar begründeten Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. H.. Der Sachverständige hat bei der Klägerin eine interstitielle Cystitis festgestellt. Diese Behinderung ist in den "Anhaltspunkten" nicht enthalten. Der Sachverständige hat daher einen Vergleich mit einer chronischen Harnblasenentzündung mit Schrumpfblase angestellt, die nach den "Anhaltspunkten" mit einem GdB von 50 bis 70 bewertet wird. Eine solche Analogie hält die Kammer hier für zutreffend, denn der Sachverständige hat eingehend in seinem Gutachten beschrieben, dass die Auswirkungen der bei der Klägerin bestehenden Behinderungen mit einer chronischen Harnblasenentzündung mit Schrumpfblase vergleichbar sind. Das Gericht hält es auch für zutreffend, wenn der Sachverständige sein Ermessen dahingehend ausübt, dass er im Bereich des von den "Anhaltspunkten" vorgegebenen Rahmens eines GdB von 50 bis 70 den Mittelwert von 60 auswählt.

Darüber hinaus hat der Sachverständige bei der Klägerin einen Gebärmutterverlust festgestellt. Die "Anhaltspunkte" sehen für einen Gebärmutterverlust im jüngeren Lebensalter einen GdB von 20 vor.

Ein jüngeres Lebensalter besteht bis etwa zum 50. Lebensjahr. Da die Klägerin erst 29 Jahre alt ist, ist hier der Gebärmutterverlust vom Sachverständigen zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden. Darüber hinaus besteht bei der Klägerin noch ein Wirbelsäulenleiden, welches nach dem Bericht des Orthopäden Dr. S. mit leichten Bewegungseinschränkungen der Wirbelsäule verbunden ist. Eine derartige Behinderung wird nach den "Anhaltspunkten" (26.18) mit einem GdB von 10 bewertet.

Aus den so ermittelten Einzelgraden der Behinderung von 60, 20 , 10 ist ein Gesamt-GdB von 70 zu bilden. Die "Anhaltspunkte" schreiben diesbezüglich unter Punkt 19 vor, dass die einzelnen Behinderungsgrade nicht addiert werden dürfen und Zehnergrade der Behinderung bei der Bildung des Gesamt-GdB in aller Regel keine Berücksichtigung finden. Nach dieser Maßgabe kann aus den oben genannten Einzelgraden der Behinderung kein höherer Gesamt-GdB als 70 gebildet werden.
 

Nach § 59 Abs. 1 SchwbG sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises unentgeltlich zu befördern. Nach § 60 SchwbG ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Dabei ist nach der Rechtsprechung "ortsüblich" eine Wegstrecke von 2 km in einer Zeit von 30 - 40 Minuten (vergl BSG Urteil vom 10.12.1987 - Breithaupt 1988, 667; LSG NW Urteil vom 20.11.1986 - Breithaupt 1988, 758 ; so auch der ärztliche Sachverständigenbeirat des BMA im Rundschreiben vom 25.4.1990).
 

Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G", denn sie ist in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr so behindert, dass sie nicht mehr in der Lage ist, regelmäßig ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Die Kammer folgert dies aus den Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. H. und den Ausführungen von Dr. M.. Danach leidet die Klägerin häufig an erheblichen Schmerzen im Unterleibsbereich. Diese Schmerzen werden durch Gehen noch verstärkt, wie Dr. M. in seinem Bericht geschildert hat. Der ärztliche Sachverständigenbeirat beim BMA hat mit Beschluss von März 1987 festgestellt, dass häufige entzündliche Hautveränderungen im Genitalbereich, die zu erheblichen Schmerzen beim Gehen führen, den Nachteilsausgleich "G" rechtfertigen können. Auch bei Bauchdecken- und Narbenbrüchen bei Stoma-Trägern ist der Nachteilsausgleich "G" gerechtfertigt, wenn die Behinderung mit erheblichen Schmerzen beim Gehen verbunden ist (Beirat November 1994). Die bei der Klägerin vorliegende Behinderung ist mit den vorgenannten Behinderungen vergleichbar. Dies folgt auch aus den Aufzeichnungen der Klägerin, die diese dem Gericht überlassen hat und die das Gericht für glaubhaft hält. Danach besteht häufig ein Zustand der es der Klägerin verbietet, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. Nach Auffassung der Kammer dürfte diese Häufigkeit mindestens 40 % der Fälle betreffen, was nach der Rechtsprechung, der sich die Kammer hier anschließt - für den Nachteilsausgleich "G" ausreichend ist (LSG Hessen Az.: L 4 SB 1351/95 ; VdK -Kommentar zu den "Anhaltspunkten" zu Punkt 30 Anm. 10 p).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
 
 











 

Leitsatz:

Eine Herzerkrankung und ein Diabetes die jeweils mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sind reichen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" nicht aus.
 
 

S O Z I A L G E R I C H T
D Ü S S E L D O R F

Verkündet am 25.09.2000

Az.: S 31 SB 408/99
 

T a t b e s t a n d :

Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Schwerbehindertengesetz - SchwbG - um den Nachteilsausgleich "erheblich beeinträchtigt in der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" - G -.

Der 1942 geborene Kläger beantragte im März 1999 beim Beklagten den Nachteilsausgleich "G".

Der Beklagte holte daraufhin einen Befundbericht von dem Internisten Dr. E. nebst Berichten des Kardiologen Dr. H., ein und erteilte unter dem 19.04.1999 einen Bescheid, mit dem der Nachteilsausgleich "G" abgelehnt wurde. Nach der internen Stellungnahme des ärztlichen Beraters des Beklagten liegen beim Kläger - bei einem Gesamt-GdB von 80 - folgende Behinderungen vor:
 

1. Insulinpflichtiger Diabetes mellitus
(GdB 40).

2. Herzkranzgefäßdurchblutungsstörungen
mit aufgedehntem Herzkranzgefäß,
Herzleistungsminderung, Bluthochdruck
(GdB 40).

3. Verdauungsstörungen (GdB 20).

4. Schwerhörigkeit (GdB 20).

5. Funktionsstörung der Wirbelsäule (GdB 10).

6. Kniegelenksveränderungen, Krampfadern,
Nervenfunktionsstörungen der Beine
(GdB 10).
 

Gegen den Bescheid legte der Kläger Widerspruch ein, mit dem er einen Bericht des Radiologen Dr. M. zur Akte reichte.

Der Beklagte holte daraufhin einen weiteren Befundbericht von dem Chirurgen Dr. O. ein und wies den Widerspruch des Klägers mit Bescheid vom 19.10.1999 als sachlich unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die am 02. November 1999 bei Gericht eingegangene Klage, mit der der Kläger vorträgt, er sei nicht in der Lage, eine Wegstrecke von zwei Kilometern in 30 Minuten zu Fuß zurückzulegen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, unter Aufhebung des Bescheides vom 23. April 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Oktober 1999 den Nachteilsausgleich "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung Befundberichte von dem Chirurgen Dr. O. und dem Lungenfacharzt Dr. I . sowie ein Gutachten von dem Internisten Dr. O. eingeholt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Gerichtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
 
 
 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist nicht begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtmäßig.

Nach § 59 Abs. 1 SchwbG sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmen, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises unentgeltlich zu befördern. Nach § 60 SchwbG ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder Störungen der Orientierungsfähigkeit nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Dabei ist nach der Rechtsprechung "ortsüblich" eine Wegstrecke von 2 km in einer Zeit von 30 - 40 Minuten (vergl BSG Urteil vom 10.12.1987 - Breithaupt 1988, 667; LSG NW Urteil vom 20.11.1986 - Breithaupt 1988, 758 ; so auch der ärztliche Sachverständigenbeirat des BMA im Rundschreiben vom 25.4.1990). Es ist allerdings - nach der neueren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - in der Regel nicht ausreichend, dass ein Arzt die Feststellung trifft, der Kl. könne Wegstrecken von 2 Kilometern in 30-40 Minuten nicht mehr zurücklegen. Vielmehr ist - zur Objektivierung der Geheinschränkung - regelmäßig nur dann der Nachteilsausgleich "G" zu gewähren, wenn die Voraussetzungen der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG"- Anhaltspunkte - erfüllt sind (BSG 9 RVs 1/96). Nach diesen "Anhaltspunkten" sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen (Gesamt-) GdB von 50 bedingen, oder wenn vergleichbar behindernde innere Leiden bestehe n (z.B. Herzschäden mit einer Beschränkung der Belastungsfähigkeit auf höchstens 50 Watt).

Der Kläger erfüllt die vorgenannten Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" nicht. Die Kammer folgert dies aus dem schlüssigen und nachvollziehbar begründeten Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen Dr. O., dessen Feststellungen sich mit den Befundmitteilungen der den Kläger behandelnden Ärzte decken. Danach bestehen beim Kläger zwar erhebliche Behinderungen, diese hindern den Kläger aber nicht, ortsübliche Wegstrecken zu Fuß zurückzulegen. So leidet der Kläger an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus. Da diese Erkrankung jedoch nicht mit häufigen hypoglykemischen Schocks einher geht, ist sie nicht geeignet, eine wesentliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr herbeizuführen. Weiter leidet der Kläger an einer Herzerkrankung mit Beeinträchtigung der Herzleistungsfähigkeit. Nach Punkt 30 der "Anhaltspunkte" ist bei einer Herzerkrankung der Nachteilsausgleich "G" zu gewähren, wenn bereits bei einer Ergometerbelastung mit 50 Watt pathologische Messdaten auftreten. Der Kardiologe Dr. Hauer hat beim Kläger allerdings noch 1998 eine Belastungsfähigkeit bis 175 Watt dokumentiert. Weitere Untersuchungen im Mai 1998 und Januar 1999 haben eine Belastungsfähigkeit bis 125 bzw. 150 Watt erbracht. Zwar hat der Kläger beim Sachverständigen einen weiteren Belastungstest verweigert, es bestehen allerdings keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Belastungsfähigkeit des Klägers in letzter Zeit erheblich reduziert hat. Damit ist die Herzerkrankung ebenfalls nicht geeignet, den Nachteilsausgleich "G" nach sich zu ziehen.

Die beim Kläger vorliegende chronische Bronchitis führt nicht zu einer Zuerkennung des begehrten Nachteilsausgleichs. Der Sachverständige Dr. O . hat diesbezüglich weder eine Obstruktion noch eine Restriktion festgestellt. Eine dauerhafte Einschränkung der Lungenfunktion konnte der Sachverständige ausschließen.

Die übrigen beim Kläger vorliegenden Behinderungen orthopädischer und hals-nasen-ohrenärztlicher Art sind geringfügig und erklären nicht, warum der Kläger in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr eingeschränkt sein soll. So konnte der Sachverständige Dr. O. die vom Kläger demonstrierte Notwendigkeit einer Gehstock-Benutzung nicht nachvollziehen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
 
 





















S O Z I A L G E R I C H T D Ü S S E L D O R F



Verkündet am 26.03.2001

Az.: S 36 (38) SB 158/99
 

 
  

T a t b e s t a n d:

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Klägerin erheblich gehbehindert i.S. des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) ist.

Mit Bescheid vom 29.09.1993 hatte das Versorgungsamt   bei der 1939 geborenen Klägerin einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 und die Nachteilsausgleiche wegen erheblicher Gehbehinderung ("G") und der Notwendigkeit ständiger Begleitung (Merkzeichen "B") wegen einer psychischen Störung festgestellt. Die Nachteilsausgleiche "G" und B", die damals wegen einer Störung der Orientierungsfähigkeit gewährt worden waren, wurden wegen einer Besserung des Orientierungsvermögens mit Bescheid vom 05.03.1997 wieder entzogen. Zugleich wurde festgestellt, dass wegen folgender Funktionsbeeinträchtigungen weiterhin ein GdB von 70 bestehe:

1. Psychische Behinderung

Einzel-GdB 50

2. Herzleistungsminderung

Einzel-GdB 20

3. Funktionseinschränkung beider Kniegelenke bei Zustand nach

Tibiakopffraktur rechts und Knieoperation links

Einzel-GdB 20

4. Wirbelsäulensyndrom

Einzel-GdB 10.

Im Februar 1999 stellte die Klägerin einen Änderungsantrag gerichtet auf "Nachteilsausgleiche", weil sie "laut Info-Gespräch mit den Ärzten eine ständige Betreuung brauche". Das Versorgungsamt zog Befundberichte von dem Neurologen und Psychiater Dr. M., dem Orthopäden Dr. S. sowie dem Internisten Dr. S. bei und ließ diese versorgungsärztlich auswerten. Dies führte zu einer Aufwertung der psychischen Behinderung, die der versorgungsärztliche Berater nunmehr mit einem Einzel-GdB von 70 bewertete, da eine erneute schwere psychische Dekompensation eingetreten sei. Hinsichtlich der übrigen Funktionsstörungen ergab sich keine Änderung. Den Gesamt-GdB schätzte er auf 80 ab Antragstellung. Dementsprechend erging am 25.03.1999 ein Bescheid über den Gesamt-GdB von 80, der allerdings keine Entscheidung über Nachteilsausgleiche traf. Die Klägerin erhob fristgerecht Widerspruch, mit dem sie darauf hinwies, dass sich bereits der Änderungsantrag schwerpunktmäßig auf ihre Gehfähigkeit bezogen habe. Sie könne nur mit unerträglichen Schmerzen laufen und sei außerstande, weiter als 100 m zu gehen. Nunmehr beantragte sie ausdrücklich das Merkzeichen "aG". Der Beklagte nahm keine weiteren Ermittlungen vor, sondern wies mit Widerspruchsbescheid vom 14.04.1999 den Widerspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass das Merkzeichen "aG" nur solchen Schwerbehinderten zuerkannt werden könne, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen könnten. Dies sei bei der Klägerin jedoch nicht der Fall.

Die Klägerin hat mit einem per Telefax dem Versorgungsamt übermittelten Schreiben, das dieses an das Sozialgericht unmittelbar weitergeleitet hat, am 26.04.1999 Klage erhoben. Sie macht geltend, nicht Laufen zu können.

In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte einen Gesamt-GdB von 90 auf der Grundlage des Sachverständigengutachtens von Dr. D. anerkannt. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen. Des Weiteren hat sie im Hinblick auf das Ergebnis des Sachverständigengutachtens die Klage wegen des Nachteilsausgleichs "aG" zurückgenommen.

Die Klägerin beantragt nunmehr,

    den Beklagten zu verurteilen, das Vorliegen der gesundheitlichen
    Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "G" ab August 2000
    festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

Er ist der Ansicht, dass die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung nicht vorliegen. Der Sachverständige habe die erhebliche Gehbehinderung überwiegend im Hinblick auf die bei der Klägerin vorliegenden Adipositas per magna bejaht. Nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 (AHP) bedinge aber die alimentäre Fettsucht (Adipositas) keinen GdB. Nur Folge- und Begleitschäden, insbesondere am kardiopulmonalten System oder am Stütz- und Bewegungsapparat könnten die Annahme eines GdB begründen. Die ganz dominierende Funktionsbeeinträchtigung der Klägerin liege aber auf psychischem Gebiet. Ansonsten lägen nur leichte Gesundheitsstörungen vor, die eine erhebliche Gehbehinderung i.S. der AHP nicht begründen könnten.

Das Gericht hat zunächst Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten von Dr. S. und Dr. S. Sodann hat es die Klägerin zur Frage, welche Gesundheitsstörungen und Funktionsbeeinträchtigungen bei der Klägerin bestehen, welcher GdB dadurch verursacht wird und ob die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich "aG" vorliegen, begutachten lassen durch den orthopädischen Sachverständigen Dr. D. Der Sachverständige ist in seinem Gutachten vom 04.09.2000 zu dem Ergebnis gelangt, dass der Gesamt-Behinderungszustand der Klägerin mit einem GdB von 90 zu bewerten sei. Des Weiteren hat er die Voraussetzun- gen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung (Merkzeichen "aG") verneint, demgegenüber aber die Voraussetzungen einer erheblichen Gehbehinderung (Nachteilsausgleich "G") bejaht. Wegen des Inhalts des Gutachtens wird auf Bl. 60 ff der Gerichtsakte verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte, den der Vorprozessakte S 28 Vs 282/91 sowie den der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
 
 

E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e:

Die Klage ist in der geänderten Fassung als Verpflichtungsklage zulässig (§ 99 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Die Klageänderung von dem ursprünglichen Streitgegenstand der Höhe des GdB und des Nachteilsausgleichs "aG" zum Nachteilsausgleich "G" ist zulässig, weil der Beklagte eingewilligt hat, in dem er sich, ohne der Änderung zu widersprechen, mit den Schriftsätzen vom 14.12.2000 und vom 01.02.2001 auf die geänderte Klage eingelassen hat (§ 99 Abs. 1 und 2 SGG). Der Beklagte hat die "Sach- und Rechtslage unter ärztlicher Beteiligung erneut geprüft", die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich wegen erheblicher Gehbehinderung aber nicht für vertretbar gehalten.

Die Klage bezüglich des Nachteilsausgleichs "G" ist zulässig und begründet.

Zwar fehlt es hier nicht nur an einem Vorverfahren sondern darüber hinaus überhaupt an einem eigenständigen Verwaltungsverfahren, denn der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 25.03.1999 beinhaltetete ausdrücklich nur den Antrag auf Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "aG". Zur Frage der erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr hat der Beklagte jedoch im Widerspruchsverfahren weder Ermittlungen eingeholt, noch ist im Widerspruchsbescheid darüber entschieden worden. Zwar erfordert die Verpflichtungsklage - anders als die echte Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG - grundsätzlich die Durchführung eines vorherigen Verwaltungsverfahrens mit abschliessendem Bescheid und grundsätzlich auch die Durchführung des an- schließenden Widerspruchsverfahrens. Allerdings kann nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht nur das Vorverfahren sondern sogar das Verwaltungsverfahren insgesamt durch den Verlauf eines anhängigen Rechtsstreits entbehrlich geworden sein, wenn von einer eigenständigen Verwaltungsentscheidung nichts anderes zu erwarten ist als eine Bestätigung des prozessualen Vorbringens und die Verwaltung durch lückenlose Einlassung oder gar durch ausdrückliches Einverständnis auf ihren Vorrang zur Gesetzesausführung verzichtet hat (BSG Urt. v. 15.08.1996, 9 RVs 10/94, SozR 3-3870 § 4 Nr. 13). Das Bundessozialgericht hat hierzu ausgeführt, dass in diesem Fall eine Entlastung des Gerichts nicht zu er- reichen ist, die Nachholung des Verwaltungsverfahrens nur dazu führen würde, die Beilegung des Streites zu verzögern. So verhält es sich auch hier. Denn von der Durchführung des selbstständigen Verwaltungsverfahrens zur Feststellung einer erheblichen Gehbehinderung wäre nur eine Verzögerung der Streiterledigung zu erwarten, nachdem der Sachverhalt insoweit in medizinischer Hinsicht aufgeklärt, die Versorgungsverwaltung auf den neuen Sachverhalt eingegangen ist und sich abschließend dazu geäußert hat.

Die Klage ist begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Merkmale als Voraussetzung für den begehrten Nachteilsausgleich "G" gemäß § 4 Abs. 4 und 5 SchwbG i.V.m. der 4. Verordnung zur Durchführung des SchwbG (Ausweis-Verordnung Schwerbehindertengesetz - SchwbGAwV) in der Fassung vom 25.07.1991 (BGBl. I S. 1739). Denn die Anspruchsvoraussetzungen für die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr gemäß §§ 59, 60 SchwbG liegen vor.

Nach § 59 Abs. 1 SchwbG sind Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, von Unternehmern, die öffentlichen Personenverkehr betreiben, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises unentgeltlich zu befördern.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Klägerin allein wegen der Auswirkungen der Adipositas in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, da sie infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zurückgelegt werden, § 60 Abs. 1 Satz 1 SchwbG. Als eine solche ortsübliche Wegstrecke hat die Rechtsprechung, ihr folgend nunmehr auch die AHP in Ziffer 30 (2) 2. Abs. eine Strecke von etwa 2 km Länge, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt werden kann, angesehen.

Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt es nicht darauf an, ob und mit welchem Einzel-GdB die Adipositas bei der Klägerin zu bewerten ist. Hierzu hat der Sachverständige Dr. D. in Übereinstimmung mit dem Beklagten darauf hingewiesen, dass die AHP in Ziffer 26.15 (S. 120) für eine alimentäre Fettsucht (Adipositas) allein keinen GdB vorsehen. Nur Folge- und Begleitschäden (insbesondere am kardiopulmonalen System oder am Stütz- und Bewegungsapparat) können die Annahme eines GdB begründen. Gleiches gilt für die besonderen funktionellen Auswirkungen einer Adipositas per magna. Als derartige funktionelle Auswirkungen hat der Sachverständige die "statischen Belastungsprobleme der unteren Extremitäten" gesehen, die er mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet hat. Ebenfalls als Folgeerscheinung der Adipositas hat er die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, die sich überwiegend im Lendenwirbelsäulenbereich auswirkt, bewertet und auch diese mit einem Einzel-GdB von 20 eingeschätzt. Dabei ist die Bewertung beider Funktionsbeeinträchtigungen nicht in Streit. Denn auch der Beklagte hat diese Einzel-GdB bei der Einschätzung des Gesamt-GdB von 90 zugrundegelegt. Dass diese Auswirkungen der Adipositas nicht die in Ziffer 30 (3) 1. Absatz der AHP aufgeführten Teil-GdB erreichen, hindert nicht an der Annahme einer erheblichen Einschränkung des Gehvermögens. Denn die in Ziffer 30 (3) 1. Abs. enthaltenen Beweiserleichterungen beschränken den gesetzlichen Anspruch nicht dahingehend, dass eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr nur angenommen werden könne, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von mindestens 40 bedingen. So ist denn auch erkannt, dass eine arterielle Verschlusskrankheit, die nach Ziffer 26.9 (S. 90 AHP) mit einem GdB von 30 bewertet wird, durchaus eine erhebliche Gehbehinderung begründen kann. Der GdB von 30 setzt nämlich in diesem Fall voraus, dass die schmerzfreie Gehstrecke in der Ebene auf maximal 500 m ein- oder beidseitig beschränkt ist. Ebenso können die Auswirkungen einer Myasthenia gravis, die lediglich mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet wird, durchaus eine erhebliche Einschränkung der Fortbewegungsfähigkeit darstellen (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 25.08.1998, L 6 SB 122/97). Entscheidend ist, dass die Auswirkungen der Adipositas auf die unteren Gliedmaßen und die Lendenwirbelsäule die Fortbewegungsfähigkeit einschränken, indem sie die Gehstrecke in erheblichem Maße limitieren.

Dr. D. hat ausgeführt, dass er aufgrund des orthopädischen Untersuchungsbefundes die Klägerin, die nach ihrer eigenen Aussage die Restwegstrecke auf ca. 100 m einschätzt, für durchaus in der Lage hält, 500 m innerhalb von 20-30 Minuten zurückzulegen. Für die Bewältigung einer Wegstrecke von ca. 2 km in etwa einer halben Stunde sieht er die Klägerin jedoch nicht mehr in der Lage. Die Kammer hat keine Bedenken, sich dieser Schlussfolgerung anzuschließen nicht zuletzt im Hinblick auf den Eindruck der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, bei der sich das Bewegungsmuster der Klägerin als ausgesprochen schwerfällig und mühsam darstellte. Denn es ist durchaus nachvollziehbar, dass das alimentäre Über- gewicht gerade bei der Belastung des Gehens zu ähnlichen Beschwerden führt wie die arterielle Verschlusskrankheit, bei der der Betroffene ebenfalls nach einer gewissen Gehstrecke durch zunehmende Schmerzen zu Pausen gezwungen wird. Diese medizinischen Folgen der Adipositas werden schließlich vom Beklagten auch gar nicht angegriffen. So hat der Beklagte nicht vorgetragen, aus welchen Gründen die Klägerin denn durchaus in der Lage sein sollte, eine Strecke von 2 km in etwa einer halben Stunde zurückzulegen. Allein das formale Argument, dass die eigentliche "Behinderung", die Adipositas, nach den AHP nicht mit einem GdB bewertet werde, überzeugt nicht. Denn zum einen übersieht der Beklagte hierbei, dass es Folgeschäden gibt, die mit einem GdB bewertet werden (s.o.). Zum anderen findet diese Auffassung in § 60 Abs. 1 SchwbG, der die Einschränkung der Gehfähigkeit definiert, keine Stütze. Soweit der Beklagte hierzu darauf verweist, dass die Einschränkung des Gehvermögens auf der Behinderung beruhen müsse, die Adipositas aber keine Behinderung sei, da die AHP sie nicht mit einem GdB bewerte, vermag auch dieses Argument nicht zu überzeugen: Der per- sönliche Anwendungsbereich des § 59 SchwbG wird durch § 60 Abs. 1 SchwbG definiert. Es ist schon aus formalen Gründen nicht einleuchtend, dass der persönliche Anwendungsbereich allein aufgrund des Wortlauts des § 59 Abs. 1 Satz 1 SchwbG ("Schwerbehinderte, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt .... sind"), auf den sich der Beklagte wohl bezieht, wieder eingeschränkt werden soll. Hinzu kommt, dass das Schwerbehindertengesetz, wenn es von der "Behinderung" spricht, den Gesamt-Behinderungszustand meint (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 24). Dieser ist in § 3 Abs. 1 Satz 1 SchwbG definiert als die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen, oder seelischen Zustand beruht. Dass die AHP für eine Adipositas keinen GdB vorsehen, mag nicht zuletzt pädagogische Gründe haben. Die Kammer kann jedoch nicht erkennen, dass eine jedenfalls extreme Adipositas, wie sie bei der Klägerin zu beobachten ist, einen für das Lebensalter typischen Zustand darstellt. Und wenn die Adipositas auch noch nachweislich dazu führt, dass dem Betroffenen das Laufen nur noch unter großer Anstrengung und mit erheblichen Schmerzen möglich ist, ist auch eine nicht nur vorübergehende Funktionsbeeinträchtigung anzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Hierbei war zu be-
rücksichtigen, dass einerseits die Klage hinsichtlich des Streitgegenstandes der außergewöhnlichen Gehbehinderung ("aG") keinen Erfolg, andererseits aber zu einer Anhebung des Gesamt-GdB und zur Zuerkennung des Merkzeichens "G" geführt hat. Die Kammer hält nach Abwägung des Klageziels und des eingetretenen Klageerfolges die Kostentragungspflicht des Beklagten zur Hälfte für angemessen.