Bundessozialgericht - B 9 SB 2/14 R - Urteil vom 11.08.2015
"Dauernd außerstande" sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutet, prothetisch nicht versorgbar zu sein. Es darf keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene behinderte Mensch muss ständig bzw. immer außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen.
Gründe:
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist.
Bei dem 1959 geborenen Kläger sind seit 1997 eine Schwerbehinderung (Grad der Behinderung (GdB) von 80) sowie eine "erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr" (Merkzeichen "G") festgestellt. Beim Kläger liegt ein wechselndes Beschwerdebild am Oberschenkelstumpf vor, das dem Kläger die Benutzung seiner Prothese lediglich an knapp über 10 v.H. der Tage ermöglicht. Das Versorgungsamt des beklagten Freistaates anerkannte auf Antrag vom Januar 2011 beim Kläger einen GdB von 90 unter Berücksichtigung von Funktionsbeeinträchtigungen infolge eines Verlustes des Beines im rechten Oberschenkel mit einem Einzel-GdB von 80 sowie von Funktionsbehinderungen der Wirbelsäule und Nervenwurzelreizerscheinungen mit einem Einzel-GdB von 20, verneinte aber das Vorliegen der Voraussetzungen der Merkzeichen "B" und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 2.1.2012, Urteil des SG vom 8.11.2013; Urteil des LSG vom 20.5.2014). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, beim Kläger liege keine so weitgehende Einschränkung der Gehfähigkeit vor, wie sie für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" erforderlich sei. Eine Gleichstellung mit behinderten Menschen, die ein Regelbeispiel erfüllen, komme nicht in Betracht, weil hierdurch eine zeitliche Reduzierung der Dauerhaftigkeit der Einschränkung der Fortbewegungsfähigkeit unter Umgehung der Annahme eines Regelbeispiels nicht erreicht werden könne.
Mit seiner Revision rügt der Kläger, er sei "dauernd außerstande" eine Prothese zu tragen und mit der Gruppe der außergewöhnlich Gehbehinderten in Ziffer 129 f Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV StVO) zu § 46 StVO gleichzustellen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 20. Mai 2014 und das Urteil des Sozialgerichts München vom 8. November 2013 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2. Januar 2012 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das Urteil des LSG für zutreffend.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG) begründet. Der Kläger begehrt die Verpflichtung des beklagten Freistaates Bayern, unter Abänderung des Bescheids vom 25.7.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 2.1.2012 (§ 95 SGG), mit Wirkung ab 8.1.2011 (Antragstellung) bei ihm die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen. Seine Anfechtungs und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGG; siehe zur statthaften Klageart zuletzt BSG Urteil vom 17.4.2013 B 9 SB 3/12 R Juris RdNr. 24 m.w.N.) ist zulässig. Die bisherigen Tatsachenfeststellungen des LSG lassen jedoch keine abschließende Entscheidung darüber zu, ob die Klage auch begründet und der Kläger außergewöhnlich gehbehindert ist. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" führendes Regelbeispiel vor (dazu 1.). Ob der Kläger behinderten Menschen, bei denen dies der Fall ist, im Hinblick auf seinen Gesamtzustand gleichzustellen ist, kann mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen nicht abschließend beurteilt werden (dazu 2.). Über das Vorliegen der Voraussetzungen des Merkzeichens "B" ist nicht mehr zu entscheiden, da der Kläger diesen Anspruch bereits vor dem SG nicht weiterverfolgt hat.
1. Beim Kläger liegt kein zur Zuerkennung des Merkzeichens "aG" führendes Regelbeispiel vor.
a) Rechtsgrundlage für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ist § 69 Abs. 4 SGB IX i.d.F. des Gesetzes vom 23.4.2004 (BGBl I 606). Danach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind (siehe zur Zuständigkeit der Versorgungsverwaltung für die Feststellung der gesundheitlichen Merkmale: BSG Urteil vom 6.10.1981 9 RVs 4/81 Juris RdNr. 22 ff). Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG i.d.F. vom 3.2.2009 (BGBl I 150) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen i.S. von § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StVO nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" (die Kennzeichnung dieser Parkplätze erfolgt in der Regel durch die Zeichen 314 oder 315 mit den Zusatzzeichen "Rollstuhlfahrersymbol") und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen (z.B. vom eingeschränkten Haltverbot für die Dauer von drei Stunden; siehe zu weiteren Vergünstigungen BSG Urteil vom 5.7.2007 B 9/9a SB 5/06 R Juris RdNr. 12 und Urteil vom 29.3.2007 B 9a SB 1/06 R Juris RdNr. 15).
Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO in der ab dem 1.9.2009 gültigen Fassung vom 17.7.2009 (BAnz 2009, Beilage Nr. 110a vom 29.7.2009), die in der ab dem 18.11.2014 gültigen Fassung vom 17.11.2014 (www.bundesanzeiger.de.BAnz AT 17.11.2014 B 5) eine erneute Erweiterung insbesondere unter Nr. 3 erfahren hat (siehe zu den Erweiterungen in RdNr. 136 bis 139 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO auch Dau, jurisPR-SozR 21/2011 Anmerkung 5). Die VwV-StVO selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Artikel 84 Abs. 2 GG wirksam erlassen worden (vgl. BSGE 90, 180, 182 = SozR 3 3250 § 69 Nr. 1 S 3). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert i.S. des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen (1.) Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel oder armamputiert sind sog Regelbeispiele , sowie
(2.) andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind (vgl. dazu BSG Urteil vom 5.7.2007 B 9/9a SB 5/06 R Juris RdNr. 13 m.w.N.) sog Gleichstellungsfälle (zu deren Voraussetzung unter 2.).
Nach § 69 Abs. 4 i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14.1.2015 gültigen alten Fassung (a.F.) ist seit dem 21.12.2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bzw. Abs. 16) BVG erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, sodass seit dem 1.1.2009 die VersMedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11.10.2012 (BGBl I 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist. Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte (BSG Urteil vom 23.4.2009 B 9 SB 3/08 R Juris RdNr. 27). Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen (vgl. Dau, jurisPR SozR 4/2009 Anmerkung 4) hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz vom 7.1.2015 (BGBl II 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit 15.1.2015 durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT Drucks 18/2953 und 18/3190 S 5).
Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV (AnlVersMedV) näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F. (hierzu Dau, jurisPR SozR 4/2009 Anmerkung 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1.1.2009 in Kraft getretene AnlVersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (stRspr, zuletzt BSG Urteil vom 16.12.2014 B 9 SB 2/13 R RdNr. 10 m.w.N.; ebenso Loytved, jurisPR SozR 12/2015 Anmerkung 3). Im Übrigen übernimmt die AnlVersMedV in Teil D Nr. 3 Buchstabe b) vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr. 3 Buchstabe a) insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich ist in der AnlVersMedV unter Teil D Nr. 3 Buchstabe c) folgende Ergänzung erfolgt: "Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."
b) Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ihrem Zweck entsprechend schon immer eng ausgelegt. Grundlage für die Einrichtung dieses Merkzeichens war und ist der Umstand, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zurückzulegen (vgl. BT Drucks 8/3150 S 9 f in der Begründung zu § 6 StVG; siehe auch umfassende Darstellung in BSG Urteil vom 17.12.1997 9 RVs 16/96 SozR 3 3870 § 4 Nr. 22 S 87). Das Merkzeichen "aG" soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen (BSG SozR 3870 § 3 Nr. 18 S 58). Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.3.2007 B 9a SB 1/06 R Juris RdNr. 17; BSGE 82, 37, 39 = SozR 3 3870 § 4 Nr. 23 S 91). Dies gilt erst recht, weil nach Abschnitt I Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO noch weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie z.B. die Ausnahme vom eingeschränkten Haltverbot, gewährt werden und sich der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen "aG" hinaus zunehmend auf andere Personengruppen erweitert (siehe unter Abschnitt II Nr. 2 und 3 Buchstabe a) bis f); z.B. BR Drucks vom 29.8.2008, 636/08 zu A und B).
c) Nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) liegen bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines der genannten Regelbeispiele in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO nicht vor. Dem Kläger ist eine Benutzung seiner Beinprothese noch an "knapp über 10 v.H. der Tage" möglich. Er gehört damit nicht zu den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die "dauernd" außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen und sich deshalb wegen der Schwere ihres Leidens "dauernd" nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können.
Unter Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO sind bestimmte Regelbeispiele abschließend aufgeführt. Bei deren Vorliegen wird vermutet, dass sich die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Nach dem Wortlaut und Zweck der Regelung kommt es dabei im Interesse einer leichten Handhabung in der Praxis nicht auf die individuelle prothetische Versorgung an (vgl. z.B. BSG Urteil vom 17.12.1997 9 RVs 16/96 SozR 3 3870 § 4 Nr. 22 S 87; BSGE 82, 37 = SozR 3 3870 § 4 Nr. 23; BSG Urteil vom 5.7.2007 B 9/9a SB 5/06 R Juris RdNr. 14), selbst wenn aufgrund eines hervorragenden gesundheitlichen Allgemeinzustands und hoher körperlicher Leistungsfähigkeit bei optimaler prothetischer Versorgung eine gute Gehfähigkeit besteht (vgl. Bayerisches LSG Urteil vom 28.2.2013 L 15 SB 113/11 Juris RdNr. 46 f).
Der Grundsatz erfährt eine Ausnahme für die einseitig Oberschenkelamputierten, denen der Nachteilsausgleich "aG" nur zuerkannt werden kann, wenn sie nicht prothetisch versorgt werden können (vgl. BSG Urteil vom 17.12.1997 9 RVs 16/96 SozR 3 3870 § 4 Nr. 22 S 87). Anders als bei den übrigen Regelbeispielen gehören die einseitig Oberschenkelamputierten nur dann zu dem eng begrenzten Kreis der schwerbehinderten Menschen i.S. von Abschnitt II Nr. 1 Satz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO, wenn sie "dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen". Im Umkehrschluss gilt bei den einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die noch ein Kunstbein tragen können, nicht die Vermutung von Satz 1, dass sie zu den Personen gehören, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Diese Behindertengruppe unterliegt bereits bei der Prüfung des Vorliegens eines Regelbeispiels einer pauschalen Gleichstellungsprüfung mit den anderen Gruppen, die sich durch Doppelamputationen oder weitergehende erhebliche körperliche Einschränkungen abgrenzen. Dabei gilt für die Dauerhaftigkeit des außerstande seins ein Kunstbein zu tragen ein anderer Maßstab als für den geforderten Dauerzustand nach Satz 1. Dem liegt allerdings ebenfalls kein individueller zeitlicher Maßstab zugrunde.
"Dauernd außerstande" sein, ein Kunstbein zu tragen, bedeutet in diesem Zusammenhang prothetisch nicht versorgbar zu sein (vgl. BSG a.a.O.). Es darf keine prothetische Versorgung möglich sein, der betroffene behinderte Mensch muss ständig bzw. immer außerstande sein, ein Kunstbein zu tragen. Zu dieser Personengruppe gehört der Kläger nach den Feststellungen des LSG noch nicht; er ist prothetisch versorgt, kann grundsätzlich eine Prothese tragen und ist nicht auf die Nutzung eines Rollstuhls angewiesen.
2. Die Feststellungen des LSG lassen keine abschließende Beurteilung zu, ob die Schwere der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigung dem Vorliegen eines Regelbeispiels gleichgestellt werden kann.
Eine Gleichstellung setzt gemäß Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 2 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO voraus, dass der betroffene Schwerbehinderte sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Personen, in deren Person ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können (BSGE 82, 37, 38 f = SozR 3 3870 § 4 Nr. 23 = Behindertenrecht 1998, 141, 142).
Zwar bereitet der Vergleichsmaßstab naturgemäß Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Behindertengruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 22 S 87; BSGE 90, 180, 182 = SozR 3 3250 § 69 Nr. 1 S 3). Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten zu vergleichenden Behindertengruppen kommt es jedoch nicht an (BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 22; BSGE 82, 37 = SozR 3 3870 § 4 Nr. 23), zumal solche Besonderheiten angesichts des mit der Zuerkennung von "aG" bezweckten Nachteilsausgleichs nicht als Maßstab für die Bestimmung der Gleichstellung herangezogen werden können. Vielmehr muss sich dieser strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz orientieren, d.h. an Satz 1 Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO bzw. § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG (BSGE 90, 180, 183 = SozR 3 3250 § 69 Nr. 1 S 4).
Auf der anderen Seite ist für die Gleichstellung am individuellen Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Hierzu zählen auch die einseitig Oberschenkelamputierten, die wie der Kläger grundsätzlich prothetisch versorgt werden können. Diese Personengruppe ist nicht von Halbsatz 2 ausgenommen, nur weil die beim Vorliegen der Voraussetzungen von Halbsatz 1 eintretende Vermutungswirkung nicht gegeben ist. Denn diese ersetzt lediglich die individuelle Prüfung der Voraussetzungen von Satz 1, die jedoch im Rahmen der Gleichstellungsprüfung nach Halbsatz 2 durchzuführen ist. Dabei lässt sich ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG Urteil vom 10.12.2002 B 9 SB 7/01 R BSGE 90, 180 = SozR 3 3250 § 69 Nr. 1). Grundsätzlich sind hierzu weder ein gesteigerter Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke (BSG Urteil vom 29.3.2007 B 9a SB 1/06 R Juris RdNr. 18) oder prozentuale Zeitwerte wie vom LSG errechnet geeignet. Denn die maßgeblichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke sich ein schwerbehinderter Mensch außerhalb seines Kraftfahrzeuges wie oft und in welcher Zeit zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich "nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung". Wer diese Voraussetzungen praktisch vom ersten Schritt an außerhalb seines Kraftfahrzeuges erfüllt, qualifiziert sich für den Nachteilsausgleich "aG" auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt. Dabei kann u.a. Art und Umfang schmerz oder erschöpfungsbedingter Pausen von Bedeutung sein (vgl. insgesamt BSG, a.a.O., RdNr. 18 f). Denn schwerbehinderte Menschen, die in ihrer Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sind, müssen sich beim Gehen regelmäßig körperlich besonders anstrengen. Die für "aG" geforderte große körperliche Anstrengung kann z.B. erst dann angenommen werden, wenn selbst bei einer Wegstreckenlimitierung von 30 Metern, diese darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach dieser kurzen Strecke erschöpft ist und er neue Kräfte sammeln muss, bevor er weiter gehen kann (BSG, a.a.O., RdNr. 24; BSGE 90, 180, 184 f = SozR 3 3250 § 69 Nr. 1).
Ob die danach erforderlichen großen körperlichen Anstrengungen beim Gehen dauerhaft vorliegen, ist Gegenstand tatrichterlicher Würdigung, die sich auf alle verfügbaren Beweismittel, wie Befundberichte der behandelnden Ärzte, Sachverständigengutachten oder einen dem Gericht persönlich vermittelten Eindruck, stützen kann. Dabei stellt das alleinige Abstellen auf ein einzelnes, starres Kriterium vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes in Artikel 3 Abs. 1 GG in der Regel keine sachgerechte Beurteilung dar, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (vgl. BSG Urteil vom 5.7.2007 B 9/9a SB 5/06 R Juris RdNr. 17).
Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens "G" festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen "aG" gelten gegenüber "G" nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG Urteil vom 29.3.2007 B 9a SB 1/06 R Juris RdNr. 21 f; BSG SozR 3 3870 § 4 Nr. 11 S 45 = Breithaupt 1995, 623). An dieser oben dargestellten Rechtslage für die Zuerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" hat sich auch durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) vom 13.12.2006; in Kraft getreten am 26.3.2009, Gesetz vom 21.12.2008, BGBl II 1419; Bekanntmachung vom 5.6.2009, BGBl II 812) nichts geändert (vgl. dazu Wendtland, Finale Betrachtungsweise bei Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" in Diskussionsforum Rehabilitations und Teilhaberecht, Forum C Diskussionsbeitrag Nr. 9/2011 vom 29.11.2011). Allerdings kann die UN-BRK als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden (vgl. dazu allgemein BVerfG Beschluss vom 23.3.2011 2 BvR 882/09 BVerfGE 128, 282, 306; BSGE 111, 79 = SozR 4 3520 § 7 Nr. 1, RdNr. 36). Insoweit ist entsprechend Artikel 1 der UN-BRK, wie bereits in § 2 Abs. 1 SGB IX vorgesehen, die individuelle Beeinträchtigung des behinderten Menschen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (siehe hierzu insgesamt auch: Kroworsch, Einfluss internationaler Menschenrechtsübereinkommen auf die deutsche Sozialrechtspraxis, NDV 2015, 337 bis 343).
Aus den Feststellungen des LSG ergibt sich nur, dass eine Gleichstellung in den Zeiten nicht gegeben sei, in denen der Kläger die Prothese zumutbar benutzen könne. Trotz mehrerer Narben liege am Stumpf ein Geschwürsleiden nicht vor und sei dieses ausreichend weichteilgedeckt. Auch aus der Hepatitiserkrankung folgten keine wesentlichen Einschränkungen, sodass sich der Kläger ohne fremde Hilfe und ohne große Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Für die Zeiten der Unbenutzbarkeit der Prothese wegen Stumpfbeschwerden hat das LSG jedoch lediglich das Vorliegen eines Regelbeispiels nach Halbsatz 1 geprüft und nach dessen Verneinung keine Gleichstellungsprüfung nach Halbsatz 2 mehr durchgeführt. Damit fehlt es insgesamt an der Feststellung und Gesamtwürdigung durch das LSG, ob sich der Kläger i.S. von Satz 1 wegen der Schwere seines Leidens (insgesamt) dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu fehlen Feststellungen zu der Art und dem Ausmaß der Stumpfbeschwerden, den hieraus resultierenden Folgen (z.B. ausschließliche Benutzbarkeit von Gehhilfen, Gangunsicherheiten, Schmerzen oder Pausen) sowie eine Gesamtwürdigung aufgrund versorgungsärztlicher Feststellung i.S. von Halbsatz 2. Dies ist nunmehr nachzuholen. Das LSG hat nach Befragung des Klägers in der mündlichen Verhandlung sowie unter Berücksichtigung des orthopädischen Befundberichtes des Dr. Schneidehahn vom 11.2.2014 eine Verschlechterung im Bereich des Stumpfes angenommen mit der Folge, dass eine Benutzung der Prothese auf Dauer lediglich noch an "knapp über 10 vom Hundert der Tage möglich" sei. Diese selbst errechnete zeitliche Komponente unter Berücksichtigung des bis zum 20.5.2014 abgelaufenen Teils des Jahres 2014 entspricht jedoch keinem der oben genannten Bewertungsmaßstäbe für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG". Das LSG hätte im Falle einer angenommenen Verschlechterung des Gesundheitszustandes beim Kläger im Jahre 2014 eine ergänzende versorgungsärztliche Stellungnahme hierzu entsprechend den Vorgaben in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 2 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO einholen müssen. Insoweit ist nunmehr auch nach der AnlVersMedV in Teil D Nr. 3 Buchstabe c) bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen zu beachten, dass das Gehvermögen auf das schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.