BSG – Beschluss vom 18.09.2003 – Az.: B 9 VU 2/03 B |
Ein vom Gericht bestellter medizinischer Sachverständiger muss den Kläger mindestens auch (mit-) untersuchen. Zwar können
Einzelne Untersuchungen anlässlich des Gutachtens delegiert werden, der Sachverständige selbst muss sich aber ein eigenes Bild vom Kläger machen. Der häufig gebrauchte Zusatz: „einverstanden auf Grund eigener Urteilsbildung“ ist nicht ausreichend (BSG Beschluss vom 18.09.2003, Az.: B 9 VU 2/03 B).
Gründe:
Der Kläger wurde in der DDR zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die er dort von Februar 1958 bis Mai 1959 verbüßt hat. Im Sommer 1959 übersiedelte er in die Bundesrepublik Deutschland. Nachdem das Strafurteil für rechtsstaatswidrig und aufgehoben erklärt worden war (Beschluss des Landgerichts Neubrandenburg vom 14. September 1995), beantragte der Kläger Beschädigtenrente nach § 21 Strafrechtliches Rehabilitierungsgesetz (StrRehaG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 2. November 1998 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. April 1999). Die Klage blieb erfolglos (Urteil des Sozialgerichts Köln vom 4. April 2001); die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) nach Beweisaufnahme mit der Begründung zurückgewiesen, die vom Kläger als Schädigungsfolge geltend gemachte psychische Störung lasse sich nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die rechtsstaatswidrige Haft in der DDR zurückführen (Urteil vom 20. März 2003).
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision gerichteten Beschwerde macht der Kläger ua geltend: Das LSG habe seine Entscheidung unter Verletzung des § 118 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) iVm § 407a Zivilprozessordnung (ZPO) auf ein Gutachten gestützt, das nicht verwertbar gewesen sei, weil es nicht von dem vom Berufungsgericht beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. K., Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie ‑ Psychiatrie und Psychotherapie ‑ der Universität zu K., sondern von einer Oberärztin und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin dieser Klinik erstattet worden sei.
Der Beklagte meint dazu: Der Kläger habe mit diesem Vortrag einen Verfahrensmangel ‑ der zur Zulassung der Revision führen könnte ‑ nicht ordnungsgemäß bezeichnet. Gerügt werde lediglich eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz SGG (Hinweis auf BSG SozR 1500 § 160a Nr 61). Das sei kein Zulassungsgrund (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Das LSG habe sich im Übrigen auf übereinstimmende Gutachten dreier Sachverständiger gestützt, darunter das von Prof. Dr. K.. Auf die Verwertbarkeit gerade dessen Gutachtens sei es für die Entscheidung deshalb nicht angekommen. Schließlich habe der Kläger sein Rügerecht nach § 202 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO durch rügelose Einlassung im Berufungsverfahren verloren.
II.
Die Beschwerde des Klägers ist zulässig.
Der Beklagte macht zwar zu Recht geltend, dass der ‑ zur Zulassung der Revision führende ‑ Verfahrensmangel nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden kann (§160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Ebenfalls zu Recht weist der Beklagte auf Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hin, wonach in der Verwertung eines verfahrensfehlerhaft erhobenen Beweises ‑ wie hier vom Kläger gerügt ‑ eine § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verletzende mangelhafte Beweiswürdigung liegt. Sowohl der vom Beklagten zitierte Beschluss des BSG vom 30. Dezember 1987 (SozR 1500 § 160a Nr 61) als auch eine jüngere Entscheidung zu dieser Frage (BSG, Beschluss vom 30. Juni 1998 ‑ B 8 KN 17/97 B ‑ JURIS) lassen aber erkennen, dass dort "auch" ein Beweiswürdigungsmangel angenommen worden ist. Denn beide Erkenntnisse stützen sich letztlich darauf, dass der daneben vorliegende, weitere Verfahrensfehler nach § 202 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO geheilt sei. Unausgesprochen wird danach zwischen Fehlern im Verfahren der Beweisaufnahme sowie Fehlern bei Würdigung erhobener Beweise unterschieden und nur letztere dem § 128 Abs 1 Satz 1 SGG mit der Folge zugeordnet, dass auf sie eine Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision nicht mit Erfolg gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG). Dem schließt sich der erkennende Senat an.
Der Kläger hat den auf eine Verletzung von § 118 Abs 1 SGG iVm § 407a ZPO gestützten Revisionszulassungsgrund auch hinreichend dargetan (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Insbesondere ergibt sich aus seinem Vorbringen noch deutlich genug, dass sich das LSG entscheidend auch auf das von Prof. Dr. K. unterzeichnete Gutachten gestützt hat. Ferner reicht die Beschwerdebegründung auch insoweit aus, als es die Frage betrifft, ob der Kläger sein Rügerecht gemäß § 202 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO verloren hat. Nach der letztgenannten ‑ im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbaren Vorschrift (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 61) ‑ kann die Verletzung einer das Verfahren und insbesondere die Form einer Prozesshandlung betreffenden Vorschrift nicht mehr gerügt werden, wenn die Partei auf die Befolgung der Vorschrift verzichtet oder wenn sie bei der nächsten mündlichen Verhandlung, die auf Grund des betreffenden Verfahrens stattgefunden hat oder in der darauf Bezug genommen ist, den Mangel nicht gerügt hat, obwohl sie erschienen und ihr der Mangel bekannt war oder bekannt sein musste. Dieser Bestimmung hat der Kläger Rechnung getragen. Er hat dargelegt, er habe im Berufungsverfahren als Mangel geltend gemacht, dass er Prof. Dr. K. überhaupt nicht zu Gesicht bekommen habe, obwohl dieser zum Sachverständigen ernannt worden sei. Weitergehende Begründungserfordernisse ergeben sich aus dem auf den Anwaltsprozess zugeschnittenen § 295 ZPO für den vor dem LSG nicht rechtskundig vertretenen Kläger nicht. Insbesondere kommt es nicht darauf an, ob der Kläger den betreffenden Verfahrensmangel im Termin zur mündlichen Berufungsverhandlung noch einmal ausdrücklich gerügt hat. Denn es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er vom LSG gemäß § 112 Abs 2 SGG auf einen drohenden Verlust seines Rügerechts hingewiesen worden ist (vgl dazu BSG, Urteil vom 12. April 2000 ‑ B 9 SB 2/99 R ‑).
Die Beschwerde des Klägers ist auch begründet.
Der gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) liegt vor. Das Berufungsgericht hat bei der Beweisaufnahme gegen § 118 Abs 1 SGG iVm § 407a Abs 2 Satz 1 ZPO verstoßen und seine Entscheidung auf ein unverwertbares Sachverständigengutachten gestützt.
Nach § 407a Abs 2 Satz 1 ZPO ist ein Sachverständiger nicht befugt, den vom Gericht erteilten Auftrag auf einen anderen zu übertragen. Diese Vorschrift hat der Sachverständige Prof. Dr. K. nicht beachtet. Er war zwar berechtigt, sich zur Erledigung des Gutachtenauftrages anderer Personen zu bedienen (§ 407a Abs 2 Satz 2 ZPO), hat aber nicht nur ‑ erlaubt ‑ die Ärztinnen Dr. K. und Dr. P. zur Mitarbeit herangezogen, sondern diesen ‑ unerlaubt ‑ auch vollständig die ein psychiatrisches Gutachten prägende und regelmäßig in einem nicht verzichtbaren Kern vom Sachverständigen selbst zu erbringende Zentralaufgabe überlassen: die persönliche Begegnung mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs (vgl allgemein dazu zB BSG SozR 1500 § 128 Nr 24; Keller, MEDSACH 2002, 4, 5). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Sachverständige im vorliegenden Fall ausnahmsweise ganz auf einen persönlichen Kontakt mit dem Kläger verzichten konnte. Dies ergibt sich schon daraus, dass psychische Auswirkungen eines lange zurückliegenden Geschehens zu beurteilen waren.
Mit dem umstrittenen Gutachten zu der Frage,
ob bei dem Kläger Gesundheitsstörungen bestanden oder bestehen, die mit Wahrscheinlichkeit ursächlich iS der Entstehung oder der Verschlimmerung (einmalig oder richtungsgebend) auf schädigende Einwirkungen iS von § 21 StrRehaG zurückzuführen sind,
hatte das LSG als Sachverständigen Prof. Dr. K., den Direktor der Klinik und Poliklinik für Neurologie und Psychiatrie ‑ Psychiatrie und Psychotherapie ‑ der Universität zu K., beauftragt. Das Gutachten vom 29. April 2002, in dem die Frage diskutiert wird, ob der Kläger an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, und auf dessen Vorblatt als Sachbearbeiterin bereits Frau Dr. Dagmar K. aufgeführt ist, trägt die Unterschriften von Dr. K. mit dem Zusatz "wiss. Mitarbeiterin", von Dr. P., die unter der Zeile "Einverstanden auf Grund eigener Untersuchung und Urteilsbildung" mit dem Zusatz "Oberärztin der Klinik" gezeichnet hat, und von Prof. Dr. K., der die Formulierung "Einverstanden auf Grund eigener Urteilsbildung" vorgestellt hat. In umgekehrtem Verhältnis zur Position der genannten Gutachtenautoren in der Klinikhierarchie steht ihr Mitwirkungsgrad bei der Exploration des Klägers: mehr als ganztägige Untersuchung durch Dr. K., noch mehr als zehnminütiger Termin mit Dr. P. und kein persönlicher Kontakt mit Prof. Dr. K.. Die von Prof. Dr. K. abgegebene Erklärung, dass er auf Grund eigener Urteilsbildung mit dem Gutachten einverstanden sei, reicht unter den gegebenen Umständen nicht aus, um den Anforderungen des § 407a Abs 2 ZPO Genüge zu tun. Denn damit konnte er prozessordnungsgerecht nur die persönliche Verantwortung für Arbeitsergebnisse übernehmen, deren Erstellung er anderen Personen überlassen durfte.
Der Kläger hat sein Recht, den danach vorliegenden Verfahrensmangel zu rügen, auch nicht nach § 202 SGG iVm § 295 Abs 1 ZPO verloren. Denn er hat bereits im Berufungsverfahren bemängelt, Prof. Dr. K. überhaupt nicht zu Gesicht bekommen zu haben, obwohl dieser Arzt doch der vom LSG bestellte Sachverständige gewesen sei.
Auf dem gerügten Verfahrensmangel kann das angegriffene Berufungsurteil beruhen, weil das LSG sich für seine Feststellung, dass beim Kläger "insbesondere" die Kriterien für die Annahme einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht vorlägen, ‑ allein ‑ auf die "überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen Prof. Dr. K. gestützt hat.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn ‑ wie hier ‑ die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, denn die Frage, welche psychischen Störungen beim Kläger bestehen und ob sie auf die rechtsstaatswidrige Haft in der DDR zurückzuführen sind, lässt sich nach den vom LSG im angegriffenen Urteil getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.