Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - Az.: L 10 B 1274/05 AS ER - 15.02.2006
1. Eine eheähnliche Lebensgemeinschaft kann auch bei einem Zusammenleben von deutlich unter drei Jahren vorliegen.
2. Kriterium für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft ist, wenn ein Paar nicht nur zum Zweck, die Wohnkosten zu minimieren bzw. die Wohnverhältnisse bei begrenzten Mitteln zu optimieren zusammenlebt und Einrichtungsgegenstände gemeinsam genutzt werden. Auch eine gemeinsame Hausratversicherung und gemeinsame Urlaubspläne sprechen für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft.
3. Ein Hausbesuch von Außendienstmitarbeitern der Behörde ist grundsätzlich geeignet Feststellungen zum Vorliegen einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft zu treffen.
Gründe:
I.
Die Jahre alte Antragstellerin (Ast) war bis zum 02. Mai 2005 in einer ABM beschäftigt. Am 6. April 2005 beantragte sie, ihr Arbeitslosengeld II (Alg II) zu gewähren. Dabei gab sie in der entsprechenden Formblattrubrik durch Ankreuzen an, sie lebe mit dem -jährigen GD seit dem Jahre 2004 in eheähnlicher Gemeinschaft. Frei formuliert bezeichnete sie GD als Lebensabschnittsgefährten. Er bezieht eine Knappschaftsaltersrente in Höhe von 1037,89 EUR. Die Ast lebt mit ihm zusammen in einer 2-Zimmer-Wohnung, die 43,36 qm groß ist, Mieter der Wohnung ist allein GD. Die Unterkunftskosten betragen 262,75 EUR
Mit Bescheid vom 19. Mai 2005 lehnte die Antragsgegnerin (Ag) den Antrag ab. Die Ast sei nicht hilfebedürftig, da sie Einkommen (aus der ABM-Beschäftigung) habe. Den Widerspruch der Ast, mit dem sie ausgeführt hatte, der Bescheid sei nicht nachvollziehbar begründet, wies die Ag mit Bescheid vom 11. Juli 2005 zurück, mit dem sie Bedarf und Einkommen ausgehend von einer Bedarfsgemeinschaft bestehend aus der Ast und GD berechnete.
Mit dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung vom 26. Juli 2005 hat die Ast geltend gemacht, eine eheähnliche Gemeinschaft bestehe nicht. Sie liege nach der Rechtsprechung nur vor, wenn die Beteiligten drei Jahre zusammenlebten; hier betrage die Zeitspanne aber erst 10 Monate. Sie habe sich, solange sie ein Einkommen gehabt habe, hälftig an Miete sowie Energie- und Telefonkosten beteiligt. Dies sei ihr nun nicht mehr möglich. Der Mietvertrag laufe auf den Namen des Partners, ebenso die Hausratversicherung. Sie sei nur Untermieterin. Es bestehe eine getrennte Haushaltsführung. Über Einkommen und Vermögensgegenstände des GD könne sie nicht verfügen. Es gebe keinen stichhaltigen Hinweis, dass ein gegenseitiges füreinander Einstehen in Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden könne. GD befinde sich derzeit allein im Urlaub. Er habe geäußert, dass er sie finanziell dauerhaft nicht unterstützen werde. Die Bescheide der Ag seien bereits deshalb aufzuheben, weil in ihnen unzutreffend zugrunde gelegt werde, sie erziele weiterhin Einkommen. Auf Rückfrage des Sozialgerichts (SG) hat sie mitgeteilt, sie lebe derzeit von geringfügigen Ersparnissen und kleineren (Sach-) Zuwendungen von Verwandten und Freunden. Als "eheähnliche Gemeinschaft" habe sie die Verhältnisse bezeichnet, weil das Antragsformular keine Alternative (wie "Lebensgemeinschaft"/"Partnerschaft"/"Freundschaft") enthalten habe. GD und sie bildeten eine Haushalts- aber keine Wirtschaftsgemeinschaft. Ein Untermietvertrag bestehe nicht, Erläuterungen zur getrennten Haushaltsführung könnten nicht gegeben werden.
Die Ag hat geltend gemacht, die Ast habe selbst angegeben, mit GD in eheähnlicher Gemeinschaft zu leben. Es sei nicht ersichtlich, warum dies nicht mehr zutreffen solle. Die Dauer des Zusammenlebens sei nur ein Indiz, das im Einzelfall nicht gegeben sein müsse. Sie reicht einen Ermittlungsbericht betreffend einen Hausbesuch am 28. August 2005 (VOAR J) ein, auf den Bezug genommen wird.
Mit Beschluss vom 16. September 2005 hat das SG Berlin den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückgewiesen. Die Beweisanzeichen dafür, dass die Ast mit GD in eheähnlicher Gemeinschaft lebe, seien ausreichend. Dies habe die Ast so angegeben, der Hausbesuch habe ergeben, dass keine getrennte Haushaltsführung bestehe. Es gebe keinen Untermietvertrag und die Ast sei in der Hausratsversicherung des Lebensgefährten mitversichert. Dieser sichere nach den Angaben gegenüber dem Außendienst der Ag im Wesentlichen den Lebensunterhalt der Ast, so dass angesichts der Lebensumstände gerade von einer Vertiefung und Verfestigung der Einstehensgemeinschaft auszugehen sei.
Mit ihrer Beschwerde wiederholt und vertieft die Ast ihr Vorbringen. Soweit GD ihr Nothilfe leiste und ihr ermögliche "auf Pump" zu leben, dürfe dies nicht zur Begründung dafür herangezogen werden, es bestehe eine Gemeinschaft, die durch gegenseitiges füreinander Einstehen gekennzeichnet sei. Vielmehr sei GD nach wie vor an seinem Einkommen und Vermögen allein berechtigt und könne die Unterstützung jederzeit einstellen.
Die Antragsgegnerin hat mit Bescheid vom 26. Januar 2006 den erneuten Leistungsantrag der Ast vom 20. Januar 2006 abgelehnt.
Verwaltungs- und Gerichtsakte haben bei der Entscheidung vorgelegen.
II.
Das Passivrubrum war von Amts wegen zu berichtigen, da die Arbeitsgemeinschaft des Landes Berlin und der Bundesagentur für Arbeit für den örtlichen Bereich des Verwaltungsbezirks Treptow-Köpenick, bezeichnet als JobCenter Treptow-Köpenick, vertreten durch den Geschäftsführer, nach Auffassung des Senats im Sinne des § 70 Nr. 2 SGG beteiligtenfähig ist (für die Arbeitsgemeinschaft für den örtlichen Bereich des Verwaltungsbezirks Lichtenberg-Hohenschönhausen, Beschluss des Senats vom 14. Juni 2005, als vormals 10. Senat des Landessozialgerichts Berlin, L 10 B 44/05 AS ER).
Die Beschwerde ist nicht begründet. Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die danach zu treffende Entscheidung kann sowohl auf eine Folgenabwägung ((vorläufige und möglicherweise teilweise) Zuerkennung/aktuelle Versagung des Anspruch - 1. Alternative - als auch auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache - 2. Alternative - gestützt werden, wobei Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) besondere Anforderungen an die Ausgestaltung des Eilverfahrens stellt. Soll die Entscheidung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientiert werden, ist das erkennende Gericht verpflichtet, die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen, insbesondere dann, wenn das einstweilige Verfahren vollständig die Bedeutung des Hauptsacheverfahrens übernimmt und eine endgültige Verhinderung der Grundrechtsverwirklichung eines Beteiligten droht, wie dies im Streit um laufende Leistungen der Grundsicherung für Arbeitslose regelmäßig der Fall ist, da der elementare Lebensbedarf für die kaum je absehbare Dauer des Hauptsacheverfahrens bei ablehnender Entscheidung nicht gedeckt ist. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand der Folgenabwägung zu entscheiden, die daran ausgerichtet ist, eine Verletzung grundgesetzlicher Gewährleistungen zu verhindern, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert.
Nach dem dar getanen und aktenkundigen Sachstand ist der erhobene Anspruch nicht begründet; da der derzeitige Sachstand auch keinen Anlass zu weiteren Ermittlungen von Amts wegen gibt, kann nach abschließender Würdigung der Sach- und Rechtslage (siehe oben, 2. Alternative) entschieden werden, eines "Rückgriffs" auf die Folgenabwägung bedarf es nicht.
Der Anspruch der Ast nach § 19 Abs. 1 SGB II besteht, wenn sie hilfebedürftig im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 9 SGB II ist. Dies hängt vorliegend davon ab, ob sie mit Herrn GD eine Bedarfsgemeinschaft bildet. Ist dies der Fall, schließt nach Maßgabe des § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II das Partnereinkommen nach den hier vorgetragenen Verhältnissen die Hilfsbedürftigkeit der Ast aus. Dies gilt auch, wenn die von der Ast derzeit gezahlten Beiträge zur freiwilligen Krankenversicherung als "fiktiver Bedarf" eingestellt werden, wie die zutreffende Berechnung der Antragsgegnerin im Bescheid vom 26. Januar 2006 ergibt. Besteht keine Bedarfsgemeinschaft, ist die Ast hilfebedürftig, da sie ohne Einkommen und Vermögen ist.
Das SG ist zu Recht vom Bestehen einer Bedarfsgemeinschaft ausgegangen und hat GD als "Person, die mit der erwerbsfähigen Hilfebedürftigen in eheähnlicher Gemeinschaft lebt" (§ 7 Abs. 3 Nr. 3b SGB II) angesehen. Als eheähnliche Gemeinschaft ist eine Lebensgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau anzusehen, die auf Dauer angelegt ist, daneben keine weitere Lebensgemeinschaft gleicher Art zulässt und sich durch innere Bindungen auszeichnet, die ein gegenseitiges Einstehen der Partner füreinander begründen, also über die Beziehung einer reinen Haus- und Wirtschaftsgemeinschaft hinausgehen (BVerwGE 98, 195 ff. unter Bezugnahme auf BVerfGE 87, 234; BSG SozR 3-4100 § 119 Nr. 26). Dieser Sachverhalt ist im Streitfall durch die Gesamtwürdigung der den Einzelfall kennzeichnenden Hinweistatsachen festzustellen. Von der Rechtsprechung werden regelmäßig das Bestehen einer gemeinsamen Wohnung und die Dauer und die Kontinuität des Zusammenlebens herangezogen. Weiter ist die konkrete Lebenssituation der Partner, "die - nach außen erkennbare - Intensität der gelebten Gemeinschaft" (BVerwG a.a.0.), sowie die Befugnis über Einkommen und Vermögensgegenstände des anderen Partners tatsächlich verfügen zu können von Bedeutung, wobei es hier auf das tatsächliche Erscheinungsbild ankommt.
Die für eine eheähnliche Lebensgemeinschaft im Rechtssinne konstituierenden Merkmale sind erfüllt. Die Ast und G D leben in einer gemeinsamen Wohnung zusammen. Eine Diskontinuität steht nicht in Frage. Die aktuelle Form des Zusammenlebens hat seit Oktober 2004 Bestand, ist zukunftsoffen und wurde durch veränderte wirtschaftliche Verhältnisse (Wegfall des Erwerbseinkommens der Ast) nicht beeinträchtigt (zur möglichen Bedeutung einer nur geringen Dauer des Zusammenlebens – deutlich weniger als ein Jahr – vgl. LSG Berlin, Beschluss vom 18. Januar 2006 – L 5 B 1362/05 AS ER). Bereits die Rahmenbedingungen – die für einen Zweipersonenhaushalt keineswegs großzügigen Wohnverhältnisse – zeigen, dass nicht ausschließlich eine Wohngemeinschaft (verstanden als Zweckgemeinschaft mit dem Ziel, die Wohnkosten zu minimieren bzw. die Wohnverhältnisse bei begrenzten Mitteln zu optimieren) vorliegt. Vielmehr bilden die Ast und G Deine Haushalts- und Wirtschaftsgemeinschaft. Dies hat insbesondere der Bericht betreffend den Hausbesuch vom 28. August 2005 erbracht. Er verdeutlicht, dass die Gemeinsamkeit der Lebensführung die Verhältnisse prägt. Es fand sich insoweit "nichts Trennendes", vielmehr wurde ersichtlich, dass die Ast und G Dalle Zimmer der Wohnung mit der von G eingebrachten Einrichtung ohne Einschränkungen gemeinsam nutzen. Auch die Haushaltsführung ist gemeinschaftlich; weder bzgl. der Vorratshaltung/der Mahlzeiten noch bzgl. der Versorgung der Wäsche werden Verhältnisse dargestellt, die darauf hindeuten könnten, dass diese Dinge von der Ast und G D separat erledigt würden. Als weitere Indizien, denen der Senat zwar isoliert betrachtet kein entscheidendes Gewicht beimessen würde, die aber (unter den Gesichtspunkten "erkennbare Intensität der Gemeinschaft"/bzw. "Bestehen einer Wirtschaftsgemeinschaft") in die notwendige Gesamtschau eingehen und dabei nicht gegen, sondern für eine eheähnliche Gemeinschaft sprechen, sind die gemeinsamen Urlaubspläne zu nennen sowie der Umstand, dass die Ast in die Haftpflicht- und in die Hausratversicherung des G D einbezogen wurde (so die nicht weiter streitig gestellten Ergebnisse des Ermittlungsberichts).
Ob das so deutlich werdende Maß gemeinsamer Lebensgestaltung - das ungebrochene äußere Erscheinungsbild einer Lebensgemeinschaft – nur ein klarer Hinweis auf das Bestehen einer eheähnlichen Gemeinschaft im Rechtssinne ist oder den Schluss auf ihr Bestehen ohne weiteres trägt, braucht hier nicht entschieden zu werden, denn das gegenseitige Einstehen der Partner füreinander, das ein Kernelement der Begriffsbestimmung ist, zu dem aber im Hinblick auf seine subjektiven und prognostischen Elemente unmittelbare gesicherte Feststellungen nicht immer möglich sind, ist hier zudem durch die tatsächliche Verhaltensweise der Partner belegt. Insoweit ist deutlich geworden (und wird auch im Ergebnis nicht bestritten), dass G D den Unterhalt der Ast jedenfalls ergänzend sichert, seit sie ohne Erwerbseinkommen ist. Dies geschieht – soweit bekannt und vorgetragen – vor dem Hintergrund eher beengter wirtschaftlicher Verhältnisse. So zu verfahren ist G D nicht möglich, ohne der Unterstützung der Ast Vorrang vor eigenen Bedürfnissen zu geben; der Ast und G D steht nach Begleichung der Unterkunftskosten (die G D allein übernimmt) ein (Renten)Einkommen von weniger als 800.- EUR zur Verfügung. Die Frage, welche Bedeutung demgegenüber der Einwand haben könnte, die eine Einstehensgemeinschaft begründende Situation habe sich erst unter dem Druck der Verhältnisse ergeben, die auch durch die Versagung des erhobenen Anspruchs gekennzeichnet ist, stellt sich hier nicht, denn das Einstehen des G D ist vorbehaltlos und wird von den Partnern nicht in diesen Zusammenhang gestellt. Die Ast und G D haben die dargestellten objektiven Gegebenheiten nicht weiter erläutert; nichts Zusätzliches, die zwingenden Schlüsse Relativierendes verdeutlicht. Es liegen keine authentischen Erklärungen vor, mit denen Beschränkungen - etwa zeitlicher Art - oder Vorbehalte bzgl. der (Teil-)Übernahme des Unterhalts der Ast - etwa nur darlehensweise - geltend (und im Weiteren ggfs. glaubhaft) gemacht würden. Gleichwertiges ergibt sich nicht aus dem Vortrag der Bevollmächtigten der Ast. Soweit sie vorträgt, es gebe keinen stichhaltigen Hinweis, dass ein gegenseitiges füreinander Einstehen in Not- und Wechselfällen des Lebens erwartet werden könne bzw. dies könne nicht daraus geschlossen werden, dass die Ast "auf Pump" lebe, was zu ermöglichen G Dnicht verpflichtet sei, gibt sie eine andere Würdigung des auch vom Senat zugrunde gelegten Sachverhalts ab, bezeichnet aber ersichtlich keine zusätzlichen oder abweichenden (im Weiteren auf Bedeutung und Überzeugungskraft zu würdigenden) tatsächlichen Umstände, die geeignet wären, in Frage zu stellen, dass eine nicht konkret beschränkte oder nur an Bedingungen geknüpfte Unterstützung des derzeit wirtschaftlich schwächeren Partners im Hinblick auf die gemeinsame Lebensgestaltung stattfindet.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).