Tatbestand:

Der 1949 geborene Kläger beansprucht die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung).

Er beantragte erstmals im Dezember 2004 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB), den der Beklagte wegen eines Magencarcinoids und einer Neurose zunächst mit 60 feststellte (Bescheid vom 02.02.2005), später auf 80 erhöhte (Bescheid vom 13.02.06), nach Heilungsbewährung und Auftreten von Wirbelsäulenbeschwerden und einer Polyneuropathie wieder auf 70 herabstufte (Bescheid vom 29.01.2007) und schließlich wegen der Berücksichtigung eines Schlafapnoe-Syndroms mit 90 feststellte (Bescheid vom 15.06.2007).

Am 28.01.2008 stellte der Kläger einen Verschlimmerungsantrag und beantragte nunmehr auch die rückwirkende Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G". Er stützte sich dabei auf einen Entlassungsbericht des N-Krankenhauses in C über einen stationären Aufenthalt ab dem 12.10.2007, der nach einem Unfall im Garten mit komplizierter Fraktur im linken Fuß erforderlich geworden war.

Der Beklagte holte zunächst eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Chirurgin O (13.02.2008) ein, die, weil eine sichere Einschätzung nicht möglich sei, darum bat, zunächst einen aktuellen Befundbericht beizuziehen. Möglicherweise sei auch eine Untersuchung angeraten. Dem kam der Beklagte nicht nach, sondern holte eine weitere gutachterliche Stellungnahme von Dr. T vom ärztlichen Dienst ein. In ihrer Stellungnahme vom 18.03.2008 beurteilte die Ärztin den GdB nunmehr mit 100 (Neurose, Anpassungsstörungen mit Einzel-GdB 70, Folgen der Magenerkrankung mit Einzel-GdB 30, Fehlhaltung und Bewegungseinschränkung der Wirbelsäule, Wirbelsäulensyndrom, Bandscheibenschaden, Polyneuropathie mit Einzel-GdB 30, SchlafapnoeSyndrom mit EinzelGdB 20 und Funktionseinschränkung des Sprunggelenks links mit Einzel-GdB 20). Die Fußverletzung sei komplikationslos verheilt; es sei aus den Unterlagen nicht erkennbar, dass eine erhebliche Beeinträchtigung in sechs Monaten noch verbleiben werde.

Mit Bescheid vom 27.03.2008 stellte der Beklagte den GdB mit 100 fest. Das Merkzeichen "G" stehe dem Kläger nicht zu. Mit seinem Widerspruch trug der Kläger vor, er habe den Antrag gestellt, da er sich einen komplizierten Sprunggelenkbruch zugezogen habe; Bänder, Gefäße, Schienbein seien gerissen. Ein Gehen sei zurzeit nur kurzzeitig möglich. Es sei ihm wichtig, möglichst nah mit dem Kfz zur Krankengymnastik beziehungsweise vor Ort zu Erledigungen zu gelangen und mittels eines "G-Ausweises" vorübergehend entsprechend parken zu können. Den Widerspruch wies die Bezirksregierung Münster mit Bescheid vom 21.07.2008 zurück.

Der Kläger hat am 18.08.2008 beim Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben, mit der er weiterhin die Zuerkennung des Merkzeichens "G" beansprucht. Er hat darauf hingewiesen, nach Angaben seines Operateurs sei sein Fuß voller Knochensplitter, die dieser nicht habe herausholen können. Das sei für ihn die Erklärung, warum er sich mit schmerzhaften Stichattacken einlaufen müsse. Wenn er weiter laufe, werde das Gewebe so sehr beansprucht und gereizt, dass es nicht mehr gehe.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Orthopäden Dr. C (Gutachten vom 17.11.2008). Dieser hat einen relativ beschwerlichen, breitspurigen, linkshinkenden Gang beschrieben. Der Barfussgang zu ebener Erde ohne Zuhilfenahme der Unterarmgehstützen bleibe unter den Bedingungen des Untersuchungsraumes ausreichend sicher, wenngleich linksseitig deutlich hinkend. Unter Übernahme der übrigen im Bescheid aufgeführten Funktionsbeeinträchtigungen hat der Sachverständige die Bewegungseinschränkung im oberen und unteren Sprunggelenk links mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet. Eine Funktionsverbesserung und damit Reduzierung des Einzel-GdB werde von einer baldigen Entfernung der die hintere Kammer des unteren Sprunggelenkes sperrenden Schraube erwartet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" seien nicht gegeben.

Auf Antrag des Klägers ist weiterhin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein orthopädisches Gutachten von Prof. Dr. P eingeholt worden (Gutachten vom 22.04.2009). Dieser hat das Gangbild des Klägers als breitbeinig unter leichter Rumpfneigung nach rechts beschrieben. Ohne Schwierigkeiten sei er aber in Begleitung des Unterzeichners auch in der Lage, ohne Gehstock zu gehen. Dabei habe sich wiederum unter breitbeinigem gemächlichen Gangbild eine leicht verkürzte Belastungsphase des linken Beines mit einem nur angedeuteten Überneigungshinken links gezeigt. Eine Gehstrecke von etwa 100 m innerhalb des Fachkrankenhauses werde auf diese Weise mühelos zurückgelegt. Abschließend hat der Sachverständige die Beeinträchtigung des Sprunggelenkes mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Nachteilsausgleichs "G" lägen beim Kläger aufgrund der zum Untersuchungszeitpunkt nachweisbaren Befunde nicht vor.

Mit Gerichtsbescheid vom 21.07.2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Es hat sich hierzu im Wesentlichen auf die eingeholten Gutachten gestützt. Die Einschränkungen im Bereich der Wirbelsäule seien mit einem Einzel-GdB von 30 und im linken Sprunggelenk mit einem Einzel-GdB von 20 ausreichend bewertet. Für den Funktionsbereich der unteren Extremitäten und der Lendenwirbelsäule sei daher insgesamt maximal von einem Einzel-GdB von 40 auszugehen. Besonders ungünstige Auswirkungen auf die Gehfähigkeit, die auch bei einem GdB von unter 50 zu den Voraussetzungen des Merkzeichens "G" führten, könne das Gericht den schlüssigen und nachvollziehbaren Ausführungen beider Sachverständiger nicht entnehmen.

Mit seiner hiergegen am 19.08.2009 erhobenen Berufung trägt der Kläger vor, er könne selbst kleinere Wegstrecken nicht mehr zu Fuß ohne Einschränkungen zurücklegen. Aus diesem Grunde habe er sich auch eine Vespa zugelegt, um sich in dem Umkreis seiner Wohnung bewegen zu können. Des Weiteren sei die bereits festgestellte Neurose mit Anpassungsstörungen mit einem Einzel-GdB von 70 unzureichend bewertet. Hierzu verweist er auf einen Bericht der Kliniken T, Neurologisches Fach- und Rehabilitationskrankenhaus vom 05.08.2009 über eine stationäre Behandlung in der Zeit vom 23.06.2009 bis 21.07.2009.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Köln vom 21.07.2009 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 26.03.2008 und Aufhebung des Widerspruchsbescheids vom 21.07.2008 zu verurteilen, ihm das Merkzeichen "G" ab dem 12.10.2007 zuzuerkennen.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hält den angefochtenen Gerichtsbescheid für zutreffend. Aus dem klinischen Bericht der Kliniken T ergebe sich, dass zwar eine gewisse Gangunsicherheit bestehe; eine erhebliche Gehbehinderung sei nicht gegeben. Im Vordergrund des Beschwerdebildes hätten psychische Beschwerden gestanden.

Der Senat hat die Beteiligten darauf hingewiesen, dass er auch darüber zu entscheiden habe, ob die Bezirksregierung Münster für die Entscheidung über den Widerspruch des Klägers sachlich zuständig gewesen sei. Dies sehe er als zweifelhaft an. Entsprechend sind auch die Bezirksregierung Münster und das Land NRW, vertreten durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW (MAGS) als zuständige Aufsichtsbehörden informiert worden. Letzteres hat mit Schriftsatz vom 17.11.2008 zu allen am Terminstag zur Verhandlung vorgesehenen Verfahren zur Frage der zuständigen Widerspruchsbehörde Stellung genommen. Zunächst sei der Wille des Landesgesetzgebers im Eingliederungsgesetz zu respektieren, die Aufgaben des Schwerbehindertenrechts (noch) nicht als Selbstverwaltungsaufgaben, sondern als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung zu übertragen. Er sei dabei nicht davon ausgegangen, dass dieser Aufgabentypus den Selbstverwaltungsangelegenheiten zuzurechnen sei. Des Weiteren sei der Begriff der Selbstverwaltungsangelegenheit in § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG bundesrechtlich auszulegen und auf weisungsfreie Selbstverwaltungsaufgaben zu beschränken. Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung zählten nicht dazu. Schließlich seien die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung auch landesverfassungsrechtlich trotz des bestehenden Streits über ihre Rechtsnatur aufgrund des Fachweisungsrechts nicht als Selbstverwaltungsangelegenheit einzuordnen. Das Land NRW, vertreten durch das MAGS und durch das Innenministerium (IM) hat seine Beiladung beantragt, weil im Hinblick auf die Personalkapazitäten sowohl der Bezirksregierung Münster als auch der Kommunen berechtigte Interessen des Landes berührt würden. Dies hat der Senat mit Beschluss vom 25.11.2009 abgelehnt, weil das Land NRW von den materiellrechtlichen Auswirkungen des vorstehenden Verfahrens nicht unmittelbar betroffen werde. Soweit das Beiladungsinteresse mit Fragen der Verwaltungsorganisation und damit zusammenhängenden personalpolitischen Erwägungen begründet werde, handele es sich um eine reine Reflexwirkung der Entscheidung, die eine Beiladung des Landes nicht rechtfertige.

Auf Anregung des Gerichts sind in der mündlichen Verhandlung vom 16.12.2009 die anwesende Bezirksregierung Münster sowie der Kreis I als Beistände der Beklagten aufgetreten und haben zur Rechtslage bezüglich der sachlichen Zuständigkeit der Widerspruchsbehörde Stellung genommen. Auf ihren Antrag hat der Senat die Bezirksregierung Münster gem. § 75 Abs. 1 SGG beigeladen.

Zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster ist der Beklagte der Ansicht, diese habe als zuständige Widerspruchsbehörde nach § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG gehandelt. Der Gesetzgeber des Versorgungsämtereingliederungsgesetzes (VersÄmtEinglG) habe für Oktober 2010 eine Evaluierung vorgesehen, ob die Aufgabenübertragung zukünftig als Selbstverwaltungsangelegenheit erfolgen solle. Eine Änderung des Ausführungsgesetzes (AGSGG) sei nicht erforderlich gewesen. Die Beistände ergänzten dies mit Hinweis auf den gesetzgeberischen Willen zu einer ausdrücklichen Differenzierung zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten und Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung und einer daraus resultierenden Zuständigkeit der Bezirksregierung, der sich auch in § 8 Abs. 2 und § 23 des VersÄmtEinglG zeige. Eine Zuständigkeit der Kreise und kreisfreien Städte für die Widerspruchsentscheidung sei nicht vorgesehen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitverhältnisses wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten betreffend den Kläger Bezug genommen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 21.07.2008 begründet. Soweit der Kläger unter Aufhebung des angefochtenen Ausgangsbescheides vom 26.03.2008 die Zuerkennung des Merzeichen "G" beansprucht, ist die Berufung zurückzuweisen.

Richtiger Berufungsbeklagter ist seit dem 01.01.2008 der für den Kläger örtlich zuständige Rheinisch-Bergische Kreis (vgl. zur Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung Urteile des erkennenden Senats vom 05.03.2008, L 10 SB 40/06, Juris Rn 26ff - rechtskräftig -, sowie des 6. Senats dieses Hauses vom 12.02.2008, L 6 SB 101/06, Juris Rn 30ff - rechtskräftig - und vom 26.02.2008, L 6 SB 35/05, Juris Rn 19ff = BSG, Urteil vom 23.04.2009, B 9 SB 3/08 R, Juris Rn 14ff (zum Entschädigungsrecht vgl. BSG, Urteile vom 11.12.2008, B 9 Vs 1/08 R, Juris Rn 20ff und B 9 V 3/07 R, Juris Rn 21f).

Die Klage ist auch zulässig, obwohl die Bezirksregierung Münster, die seit dem 01.01.2008 weiterhin die Widerspruchsbescheide in Schwerbehindertenangelegenheiten erlässt, hierfür sachlich nicht zuständig war und das Vorverfahren gem. § 78 Abs. 1 SGG nicht ordnungsgemäß durchgeführt wurde. Nach Ansicht des Senats sind die Aufgaben des Schwerbehindertenrechts, die die kreisfreien Städte und Kreise als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung ausführen, als Selbstverwaltungsangelegenheiten i.S.v. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG einzuordnen. Zuständig für den Erlass des Widerspruchsbescheids ist damit der Rheinisch-Bergische Kreis, weil dieser den Ausgangsbescheid vom 26.03.2008 erlassen hat (A). Deshalb war der Widerspruchsbescheid aufzuheben. Gleichwohl kann der Senat die Streitsache abschließend entscheiden; ein weiteres Vorverfahren ist entbehrlich (B.). Der Beklagte, der den Widerspruchsbescheid hätte erlassen müssen, hat es mit Bescheid vom 26.03.2008 zu Recht abgelehnt, die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "G" festzustellen (C.).

A. 

Der Widerspruchsbescheid vom 21.07.2008 ist rechtswidrig, weil die Bezirksregierung Münster zur Entscheidung über den Widerspruch des Klägers vom 07.04.2008 sachlich nicht zuständig war. Vielmehr war hierfür zuständig der Rheinisch-Bergische Kreis. Wer zuständige Widerspruchsbehörde ist, regelt § 85 Abs. 2 SGG. Im vorliegenden Fall kommt in Betracht entweder die nächsthöhere Behörde (§ 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG) oder, wenn es sich um eine kommunale Selbstverwaltungsangelegenheit handelt, die Selbstverwaltungsbehörde, soweit nicht durch Gesetz anderes bestimmt wird (§ 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG). Die Aufgaben des Schwerbehindertenrechts, die die kreisfreien Städte und Kreise als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung ausführen, sind als Selbstverwaltungsangelegenheiten i.S.v. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG einzuordnen. Durch ein Gesetz ist nichts anderes bestimmt worden.

Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

Durch das Gesetz zur Eingliederung der Versorgungsämter in die allgemeine Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007 (VersÄmtEinglG NW 2007, verkündet als Art 1 des Zweiten Gesetzes zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen vom 30.10.2007, GV NW S. 482) hat der Landesgesetzgeber u.a. die Versorgungsämter aufgelöst und in § 2 die Aufgaben des Schwerbehindertenrechts nach den §§ 69 und 145 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) den Kreisen und kreisfreien Städten als "Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung" übertragen. Diese Aufgabenart ist als Selbstverwaltungsaufgabe i.S.d. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG anzusehen bzw.. diesen Aufgaben zumindest gleichzustellen.

Nachdem das Land NRW im Zuge einer umfassenden Verwaltungsreform zunächst mit dem Zweiten Gesetz zur Modernisierung von Regierung und Verwaltung in Nordrhein-Westfalen (2. Modernisierungsgesetz - 2. ModernG -) vom 09.05.2000 (GV NW S. 462 ff) das Landesversorgungsamt aufgelöst und dessen Aufgaben auf die Bezirksregierung Münster übertragen hatte, erfolgte durch das Zweite Gesetz zur Straffung der Behördenstruktur in Nordrhein-Westfalen die Auflösung der Versorgungsämter und die Kommunalisierung der Aufgaben des Schwerbehindertenrechts. Die Abteilung 10 - Landesversorgungsamt - der Bezirksregierung Münster wurde Ende 2007 aufgelöst; ein neues "Landesversorgungsamt" nicht errichtet. Damit wechselte die Aufgabenwahrnehmung von der unmittelbaren Landesverwaltung zur mittelbaren Landesverwaltung durch die Gemeinden und Gemeindeverbände als Träger der kommunalen Selbstverwaltung (vgl. Art 78 Abs. 1 u 2 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 18.06.1950 - LVerf NW -, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.06.2004, GV NW S. 360).

Gemeinden sind gegenüber dem Bürger Hoheitsträger mit dem (gegen den Staat) gerichteten Recht aus Art 28 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG), "alle Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln". Auch die Gemeindeverbände haben aus Art 28 Abs. 2 S. 2 GG das Recht der Selbstverwaltung "im Rahmen ihres gesetzlichen Aufgabenbereiches nach Maßgabe der Gesetze". Das Grundgesetz gewährleistet den Gemeinden das Recht, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz bereits anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitels anzunehmen (Leibholz/Rinck, GG-Kommentar, Stand: 51. EL Okt 2009, Art 28 Rn 209 mit Verweis auf BVerfGE 79, 127, 146). Darüber hinaus kann der Landesgesetzgeber den Gemeinden gestützt auf Art 78 Abs. 3 LVerf NW Aufgaben übertragen, die keinen oder keinen relevanten örtlichen Bezug haben.

Je nach Bundesland und Auffassung von der Stellung der Gemeinden differiert die Bezeichnung der verschiedenen Aufgabenarten. So unterscheiden einige zwischen Aufgaben des eigenen und des übertragenen Wirkungskreises (Bayern, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen), andere zwischen Selbstverwaltungsaufgaben und Auftragsangelegenheiten (Rheinland-Pfalz, Saarland). Diese Unterscheidungen spiegeln die historische Trennung zwischen Selbstverwaltungsangelegenheiten und den Staatsaufgaben (Auftragsangelegenheiten, Fremdverwaltung) wider. Demgegenüber macht schon der Wortlaut von Art 78 LVerf NW ein anderes Verständnis deutlich: Nach Abs. 2 ebenso wie nach § 2 Gemeindeordnung für das Land NRW (i.d.F. vom 14.07.1994 - GO NW -; GV NW S. 666) sind die Gemeinden und Gemeindeverbände in ihrem Gebiet, soweit nicht gesetzlich ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, die alleinigen, ausschließlichen und eigenverantwortlichen Träger der öffentlichen Verwaltung. Hierin drückt sich die lokale Allzuständigkeit der Gemeinden aus. Sie umfasst einen Aufgabenkreis, der aus (drei) unterschiedlichen Aufgabenkategorien zusammengesetzt ist:

Hierzu gehören zunächst die Selbstverwaltungsangelegenheiten, bei denen zwischen freiwilligen und pflichtigen zu unterscheiden ist. Soweit Gemeinden in ihrem eigenen Wirkungskreis der pflichtigen und freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben tätig werden, werden sie dabei ausschließlich von der allgemeinen Kommunalaufsicht als reiner Rechtsaufsicht nach den §§ 119ff GO NW überwacht.

Auf der anderen Seite steht der Vollzug bundesrechtlicher Auftragsangelegenheiten i.S.v. Art 85 GG (z.B. nach Art 87b Abs. 2 S. 1, 87c, 87d, 90 GG). Nach der Änderung des Art 85 Abs. 1 S. 2 GG im Zuge der Föderalismusreform ist eine direkte bundesgesetzliche Aufgabenübertragung auf die Gemeinden und Gemeindeverbände im Bereich der Auftragsverwaltung ebenso wie im Rahmen des Art 84 Abs. 1 S. 7 GG nicht mehr möglich (s hierzu ausführlich Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG-Kommentar,11. Aufl. 2008, Art 85 Rn 5). Diese muss durch Landesgesetz erfolgen (z.B. § 41 BAföG i.V.m. § 1 Abs. 1 AG BAföG NW; § 5 Abs. 2 VersÄmtEinglG für Aufgaben nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz). In bundesrechtlichen Auftragsangelegenheiten unterliegen die Gemeinden gegenüber dem Land der Fachaufsicht. Die Fachaufsicht beinhaltet eine Rechts- und umfassende Zweckmäßigkeitsaufsicht, entweder nach dem jeweiligen Spezialgesetz oder nach §§ 13,16 des Gesetzes über die Organisation der Landesverwaltung (Landesorganisationsgesetz - LOG NW - vom 10.07.1962 - GV NW, S. 421).

Schließlich gibt es die in ihrer rechtlichen Einordnung unterschiedlich beurteilten Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung. Mittels dieser Aufgabenart nehmen Gemeinden z.B. in NRW, Baden-Württemberg, Brandenburg, Schleswig-Holstein und Sachsen Aufgaben aus dem übertragenen Wirkungskreis wahr. Grundlage in NRW ist Art 78 Abs. 4 S. 2 LVerfNW, wonach sich das Land bei Pflichtaufgaben ein Weisungs- und Aufsichtsrecht vorbehalten kann. Die Übertragung von Auftragsangelegenheiten kraft Landesrecht ist damit nicht mehr möglich. Das Land muss solche Aufgaben entweder als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen oder, wenn ihm die Weisungsbefugnisse nicht ausreichen, die Aufgabe selbst mit eigenen Behörden durchführen (Held/ Becker/ Decker/ Kirchhof/ Krämer/ Wansleben, Kommunalverfassungsrecht NRW, § 129 Rn 2; Rehn/ Cronauge, GO-Kommentar, 30. EL März 2008 § 129 GO Ziff. 3).

Pflichtaufgaben dürfen den Gemeinden grundsätzlich nur durch Gesetz auferlegt werden. Dies bestimmt § 3 Abs. 1 GO NW. Nach § 3 Abs. 2 GO NW können Pflichtaufgaben den Gemeinden auch zur Erfüllung nach Weisung übertragen werden; das Gesetz bestimmt den Umfang des Weisungsrechts, das in der Regel zu begrenzen ist. Eine entsprechende Regelung enthält § 2 Abs. 2 S. 3 der Kreisordnung Nordrhein-Westfalen (KrO NW). Für diesen Aufgabenkreis ist wesentlich, dass das Gesetz auch den Umfang des Weisungsrechts bestimmt (Sonderaufsicht § 119 Abs. 2 GO). Dieses Weisungsrecht kann, anders als noch bei den früheren Auftragsangelegenheiten, in keinem Fall total sein. Vielmehr ist den Gemeinden ein weisungsfreier Spielraum zu belassen. Das Weisungsrecht ist begrenzt durch die jeweilige Sachgesetzlichkeit, das Willkürverbot und das Übermaßverbot (vgl. Rehn/Cronauge, GO-Kommentar, 30. EL März 2008, § 3 Anm. III1; § 116 Anm. IV 1). Es handelt sich inhaltlich um Aufgaben, bei denen das Interesse des Staates an ihrer richtigen und vollständigen Durchführung wegen ihres gleichzeitig überörtlichen Charakters und wegen der Notwendigkeit gleichmäßiger Handhabung so entscheidend ist, dass der Gesetzgeber es für erforderlich hält, durch Weisungen diese Durchführung nach Art und Umfang sicherzustellen (Rehn/Cronauge a.a.O.). Soweit teilweise die Meinung vertreten wird, bei den Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung handele es sich im Grunde genommen um die früheren Auftragsangelegenheiten kraft Landesrechts (so: Gönnewein, Gemeinderecht 1963, S. 106; Dregger, Der Städtetag 1955, 190, 192; modifizierend Brohm, DÖV 1986, 397, 398f; zur Rechtslage in NRW in einem obiter dictum BVerfGE 6, 104, 116), weil das konstitutive Element der Weisungsgebundenheit gegen die in Art 28 Abs. 2 GG garantierte Eigenverantwortlichkeit verstoße und auch die Legaldefinition in § 132 GO NW dies nahe lege, so vermag der Senat dieser Ansicht nicht beizutreten. Der Hinweis auf § 132 GO NW als Argument für die Einordnung "als Auftragsangelegenheiten in neuem Gewand" überzeugt nicht. Nach dieser Norm sind "bis zum Erlass neuer Vorschriften die den Gemeinden zur Erfüllung nach Weisung übertragenen staatlichen Angelegenheiten (Auftragsangelegenheiten) nach den bisherigen Vorschriften durchzuführen". Die Norm enthält gerade keine Legaldefinition der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung, sondern der Auftragsangelegenheiten (alter Art). § 132 GO NW spricht nach Ansicht des Senats eher für die Einordnung der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten: Denn wäre eine schlichte Umbenennung der Auftragsangelegenheiten beabsichtigt gewesen, hätte ein entsprechender Klammerzusatz im ersten Teil der GO in §§ 2, 3 genügt. Gerade die Aufnahme von Übergangsvorschriften in der GO NW verdeutlicht die beabsichtigte inhaltliche Änderung. Denn erst die Neugestaltung dieses Aufgabenbereichs machte es erforderlich, Regelungen für die Fremdverwaltung bis zum Inkrafttreten der einzelnen Neuordnungsgesetze zu treffen (vgl. Pagenkopf, Kommunalrecht, S. 157f, Riotte/Waldecker, NWVBl1995, 401, 403). Wesentlich erscheint dem Senat insoweit auch, dass das Weisungsrecht begrenzt und jeweils gesondert ausdrücklich durch Gesetz zu regeln ist. Es besteht, anders als bei den historischen Auftragsangelegenheiten, gerade nicht umfänglich und unbegrenzt. Auch die tatsächliche Verantwortungsverteilung ist zu berücksichtigen: Die Durchführungsverantwortung bei den Pflichtaufgaben obliegt zunächst den Gemeinden, lediglich unter bestimmten Voraussetzungen übernimmt sie die Aufsichtsbehörde selbst. In aller Regel aber bleibt die Kommune alleine für die Sachentscheidung verantwortlich, ohne dass die staatliche Aufsicht Kenntnis, geschweige denn Einfluss nimmt (s hierzu ausführlich Riotte/Waldecker, a.a.O. S. 404). Faktisch stellen sich die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung bezogen auf den weisungsfreien Raum als von der Gemeinde selbst zu bestimmende Angelegenheiten dar (vgl. Rehn/Cronauge, Kommentar zur GO NW, 30. EL 2008, § 3 IV Ziff. 1, 2). Die vielfach gesehene Einordnung der Pflichtaufgaben "als umetikettierte Auftragsverwaltung" verkennt den Willen des Landesgesetzgebers.

Auch die Entstehungsgeschichte legt es nahe, die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten einzuordnen oder diesen zumindest gleichzustellen (so z.B. Riotte/Waldecker, NWVBl 1995, 405; Ehlers, DVBl 2001, 1602 und NWVBl 1990, 44 (48); Vietmeier, DVBl 1992, 420 f; Erichsen, KommunalR, § 5 C S. 69 ff; Sommer, in: Kleerbaum/Palmen, GO NW, § 3 Anm. II 2; Hofmann/ Muth/ Theisen, Kommunalrecht in NRW, 12. Aufl. 2004, S. 248; Tettinger/Erbguth/Mann, Besonderes Verwaltungsrecht, 9. Aufl. 2007, Rn 207; Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art 28 Rn 66; Nierhaus, in: Sachs, GG-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art 28 Rn 52; VerfGH NW, DVBl 1985, 685, 687). Art 78 Abs. 2 LVerf NW beruht auf dem Weinheimer Entwurf einer Gemeindeordnung von 1948 und enthält dessen wohl konsequenteste Umsetzung (Riotte/Waldecker a.a.O. S. 403 m.w.N.; zum Weinheimer Entwurf von Mutius, in: Jeserich/Pohl (Hg), Deutsche Verwaltungsgeschichte V, 1987). Im Weinheimer Entwurf findet eine Abkehr vom dualistisch geprägten Aufgabenverständnis zwischen Selbstverwaltung und Auftragsangelegenheiten hin zu einer monistischen Sichtweise statt. Die Kommunen werden als regelmäßige Träger der öffentlichen Verwaltung in der Fläche angesehen. Unterschieden werden sollte nicht mehr zwischen gemeindlichen Selbstverwaltungsangelegenheiten und staatlichen Auftragsangelegenheiten, sondern nur noch zwischen freiwilligen und pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben. Im Gegenzug sollte der Staat bei bestimmten Aufgaben ein begrenztes, gesetzlich zu bestimmendes Weisungs- und Aufsichtsrecht erhalten (vgl. Vietmeier, DVBl 1992, 413, 414 und Riotte/Waldecker, a.a.O. S. 403f jeweils m.w.N. aus den Beratungen). Der Verwaltungsvollzug auf unterer Ebene durch staatliche Sonderbehörden erscheint danach als rechtfertigungsbedürftige Ausnahme (vgl. Palmen/Schönenbroicher, Die Verwaltungsstrukturreform in Nordrhein-Westfalen, NVwZ 2008, 1173).

Der Landesverfassungsgeber ist dem Weinheimer Entwurf weitgehend gefolgt und hatte sich bei der Beratung des Art 78 LVerfNW dafür entschieden, dass Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten anzusehen seien (Landtag NRW, Verfassungsausschuss, 35. Sitzung am 27.01.1950, StenB 154A; vgl. auch Riotte/Waldecker a.a.O.). Er ist bei der Schaffung dieses Aufgabentyps bewusst von den überkommenen fachaufsichtlich überwachten Landesauftragsangelegenheiten abgerückt. Ziel war eine Erweiterung des gemeindlichen Selbstverwaltungsspielraums, auch durch Zurücknahme der Aufsichtsbefugnisse. Unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte führte der Verfassungsgerichtshof NRW (VerfGH NW, Urteil vom 15.02.1985, VerfGH 17/83, DVBl 1985, 685, 687, Juris Rn 12) entsprechend auch aus, der Landesverfassungsgeber habe mit diesen Vorstellungen deutlich seinen Willen zum Ausdruck gebracht, die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung nicht mehr als Auftrags-, sondern als kommunale Angelegenheiten behandelt zu wissen. Auch das OVG NRW hat in verschiedenen Urteilen die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung in Korrektur der früheren Qualifizierung als Aufgabentypus eigener Art grundsätzlich als Selbstverwaltungsangelegenheiten eingestuft (OVG NW, Beschluss vom 16.03.1995, 15 B 2839/93, Juris Rn 35; Urteil vom 17.07.2003, 12 A 5381/00, Juris Rn 49-54; zum relativierenden Urteil des 20. Senats des OVG vom 30.6.2005, 20 A 3988/03 su).

Schließlich sprechen auch systematische Erwägungen für eine Einordnung der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten oder zumindest für eine Gleichbehandlung mit diesen: In Verwaltungsangelegenheiten sah das Ausführungsgesetz zur Verwaltungsgerichtsordnung (AG-VwGO NW vom 26.03.1960, GV NW S. 47, zuletzt geändert durch Artikel I des Gesetzes vom 30.10.2007, GV NW S. 445) in § 7 in der bis zum 31.10.2007 geltenden Fassung vor, dass in Angelegenheiten, die den Gemeinden und Kreisen zur Pflichterfüllung nach Weisung übertragen sind, die Aufsichtsbehörde den Widerspruchsbescheid erlässt. Dies spricht dafür, dass der Landesgesetzgeber seinerzeit davon ausgegangen ist, es handele sich um Selbstverwaltungsangelegenheiten. Denn ansonsten wäre diese Regelung überflüssig gewesen. Es hätte dann der Grundsatz des § 73 I S. 2 Nr. 1 VwGO gegolten, wonach die nächsthöhere Behörde den Widerspruchsbescheid erlässt. Da der Landesgesetzgeber offenkundig davon ausging, es handele sich um Selbstverwaltungsangelegenheiten, bestand aus seiner Sicht die Notwendigkeit, die Zuständigkeit der nächsthöheren Behörde als Widerspruchsbehörde bei den Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung ausdrücklich festzulegen und hiermit von der Regelung in § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 VwGO abzuweichen. Diese schrieb für Selbstverwaltungsangelegenheiten die Zuständigkeit der Erlassbehörde fest. Nachdem nunmehr nach der Neuregelung der §§ 6 und 7 AG-VwGO NW durch das BürokratieabbauG II vom 09.10.2007 (GV NW S. 393f) in der Regel gar kein Widerspruchsverfahren mehr stattfindet und ansonsten entsprechend der Neufassung des § 7 AG-VwGO NW die Erlassbehörde für den Widerspruchsbescheid zuständig ist, kann hieraus nicht mehr analog auf die Zuständigkeit der Bezirksregierung geschlossen werden. Auch die Neufassung des § 7 AG-VwGO NW spricht nicht gegen die Einordnung der Pflichtaufgaben als Selbstverwaltungsangelegenheiten. Soweit in § 7 S. 1 n.F. AG-VwGO NW ("Soweit ein Vorverfahren nach § 6 durchzuführen ist, ist die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder dessen Vornahme abgelehnt hat, auch für die Entscheidung über den Widerspruch zuständig") in Umkehr der obigen Argumentation zur a.F. eine eigentlich überflüssige Klarstellung gesehen wird, ist eine solche Klarstellung angesichts der vorher konträren gesetzlichen Regelung angebracht. Vor allem aber erschließt sich die Notwendigkeit dieser Regelung aus dem Zusammenhang mit § 7 S. 2 n.F. AG-VwGO NW. Diese Vorschrift regelt mit Verweisen auf § 6 Abs. 2 S. 1 Nr. 3a und § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 VwGO für das Schulrecht ausdrücklich die Zuständigkeit der nächsthöheren Behörde als Widerspruchsbehörde und enthält damit eine sinnvolle und notwendige Abgrenzung zu § 7 S. 1 AG-VwGO NW.

Es erscheint überdies widersprüchlich, den Willen des Gesetzgebers im Verwaltungsrecht durch die Einordnung der Pflichtaufgaben als Auftragsangelegenheiten bezogen auf das Schwerbehindertenrecht und das SGG zu übergehen. Denn das Widerspruchsverfahren ist als Regelfall abgeschafft. Bezogen auf die Änderung von § 7 AG-VwGO NW führt der Gesetzgeber als Begründung aus: "Es ist sinnvoll, auch im Bereich der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung davon Abstand zu nehmen, dass der Widerspruchsbescheid von der Aufsichtsbehörde gefertigt wird, diese Zuständigkeit den Gemeinden und Gemeindeverbänden in eigener Verantwortung zu übertragen und damit deren Eigenverantwortlichkeit zu stärken." Eine Ausnahme wird lediglich für das Schulrecht aufgrund der fehlenden verwaltungsrechtlichen Ausbildung der Ausgangsbehörde Schule und dem Willen, diese neben ihrem originären pädagogischen Auftrag nicht mit zusätzlichem Verwaltungsaufwand zu belasten, gemacht. Eine solche Besonderheit fehlt aber für das Schwerbehindertenrecht. Eine Zuständigkeit der Bezirksregierung läuft dem historischen Willen, aber auch der übrigen verwaltungsrechtlichen Strukturreform zuwider. Einen solchen Willen, die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster für alle Widerspruchsbescheide zu wahren bzw. zu schaffen, hätte Eingang in eine ausdrückliche gesetzliche Regelung finden müssen, wie dies in § 85 Abs. 2 Nr. 4 SGG auch vorgegeben wird.

Einen deutlichen Hinweis auf diese Problematik enthält u.a. die Entscheidung des erkennenden Senats vom 05.03.2008, L 10 SB 40/06, Juris Rn 44. Der Gesetzgeber war auch durch verschiedene interne Gutachten vorgewarnt. Wiederholt hatten auch die Vorsitzenden der mit dem Schwerbehindertenrecht betrauten Senate dieses Hauses bei der Vorbereitung der früheren Verfahren L 10 SB 40/06 und L 6 SB 101/06 die Problematik angesprochen und eindringlich auf das Fehlen einer gesetzlichen Regelung hingewiesen. Die in diesem Zusammenhang angeführte Argumentation des MAGS, es handele sich um eine Überregulierung, wenn die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster im Gesetz zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes im Lande NRW - AG-SGG - , GV NW 1953, 412, zuletzt geändert durch Art II des Gesetzes vom 28.10.2008, GV NW S. 646) bestimmt werde, greift - wie erörtert - nicht.

Nicht nachvollziehbar ist, dass der Gesetzgeber in Kenntnis der Problematik im VersÄmtEinglG offenbar davon ausgegangen ist, Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung seien keine Selbstverwaltungsangelegenheiten und die Bezirksregierung Münster sei als nächsthöhere Behörde zuständig für den Erlass der Widerspruchsbescheide. Für diese Annahme sprechen allerdings noch nicht die vorgesehene zeitliche Begrenzung der Übertragung als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung bis Oktober 2010 und die Option, danach eine Übertragung als Selbstverwaltungsangelegenheiten zu prüfen (Begründung zu § 2 VersÄmtEinglG NW 2007; LT NRW Drs 14/4342 vom 15.05.2007, S. 24). Diese Weichenstellung besagt nichts über die rechtliche Einordnung der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung. Man kann die Formulierung so interpretieren, dass Pflichtaufgaben bis dahin gerade noch nicht als Selbstverwaltungsangelegenheiten gesehen werden. Aber auch die umgekehrte Interpretation ist möglich. Sie beinhaltete dann einen Übergang von den Pflichtaufgaben im bisherigen Verständnis der landesverfassungsgerichtlichen und neueren oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung als "unechten" zu "echten" Selbstverwaltungsangelegenheiten. Gleiches gilt für die deutliche Differenzierung der Aufgabenübertragungen nach Selbstverwaltungsangelegenheiten (z.B. in §§ 3 Abs. 2 - Kriegsopferfürsorge - , 8 Abs. 2 - Bergmannversorgungsschein -) und Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung (z.B. §§ 2 Abs. 2 - Schwerbehindertenrecht -, 4 Abs. 2 - Soziales Entschädigungsrecht, Kriegsopferversorgung -). Dies schließt noch nicht aus, die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten im weiteren Sinne aufzufassen und den vom Gesetzgeber verwandten Terminus der Selbstverwaltungsangelegenheiten auf die weisungsfreien Selbstverwaltungsangelegenheiten im engeren Sinne zu beschränken. Deutlicher wird die Auffassung des Landesgesetzgebers allerdings in der Gesetzesbegründung. Gem. § 4 VersÄmtEinglG werden die Aufgaben des Sozialen Entschädigungsrechts einschließlich der Kriegsopferversorgung den Landschaftsverbänden ebenfalls als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung übertragen. Nach § 22 gehen die mit den Aufgaben der Widerspruchs- und Klagebearbeitung betrauten Beamten und tariflich Beschäftigten, soweit es für die Aufgabenerfüllung notwendig ist, auf die Landschaftsverbände über. Hierzu führt die Begründung aus, da die nächst höhere Behörde eine oberste Landesbehörde sei, liege die Widerspruchszuständigkeit bei der Ausgangsbehörde (LT NRW Drs 14/4342 S. 29). Nur diese, nach 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG selbstverständliche Rechtsfolge wird hervorgehoben. Nicht in Erwägung gezogene wurde augenscheinlich, dass Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als Selbstverwaltungsangelegenheiten i.S.d. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG qualifiziert werden könnten. Weiter zeigen § 23 VersÄmtEinglG und der hierzu in Anlage 2 enthaltene Verteilschlüssel für den Aufgabenbereich Schwerbehindertenrecht, dass für die Kreise und kreisfreien Städte kein finanzieller Ausgleich für die Durchführung des Widerspruchsverfahren vorgesehen ist. Diese nicht begründete und im Nachhinein gegen die Rechtsprechung einiger Senate des OVG Münster, des VerfGH NW und die überwiegende Auffassung in der Lehre gerichtete implizite Einordnung der Schwerbehindertenangelegenheiten unter 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG vermag aus den vorgenannten Gründen nicht zu überzeugen. Wenn der Gesetzgeber aufgrund seiner abweichenden Auffassung von der Einordnung der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung die Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster für die Widerspruchsentscheidung hätte sichern wollen, hätte er das AG-SGG entsprechend ändern können und müssen.

Darüber hinaus bleibt in der Gesetzesbegründung und der anschließenden Argumentation des Landes offen, ob die Pflichtaufgaben statt als Selbstverwaltungsangelegenheiten als eigener Aufgabentypus oder sogar als Auftragsverwaltung angesehen werden. Denn selbst bei einer Qualifizierung der Pflichtaufgaben als Aufgabentypus eigener Art (so z.B. die frühere Rechtsprechung des OVG NW, OVGE 15, 356, 359; von Mutius, Kommunalrecht, 1996, S. 167f; Pagenkopf, Kommunalrecht, S. 157ff) bliebe es zur Überzeugung des Senats bei dem Beklagten als zuständiger Widerspruchsbehörde. Nach dieser vermittelnden Auffassung zum Charakter der Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung scheidet jedenfalls ihre eindeutige Zuordnung zu Selbstverwaltungs- oder Auftragsangelegenheiten aus. Denn anders als bei Selbstverwaltungsaufgaben bestehe ein (Sonder)aufsichtsrecht; dieses sei aber anders als bei Auftragsangelegenheiten wiederum eingeschränkt. Für einen Aufgabentypus eigener Art gibt es indes keine gesetzlich ausdrücklich geregelte Widerspruchsbehörde. Diese kann entsprechend der Regelung in § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 SGG in der nächsthöheren Behörde oder entsprechend derjenigen für Selbstverwaltungsangelegenheiten gem. § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG in der Erlassbehörde gesehen werden. Soweit der erkennende Senat in der Entscheidung vom 05.03.2008, L 10 SB 40/06, Juris Rn 42 in einem obiter dictum ausgeführt hat, die letztgenannte Auffassung spreche eher gegen eine (analoge) Anwendung des § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG und für die Anwendung der Nr. 1, weil es sich bei der Pflichterfüllung nach Weisung gerade nicht um eine (reine) Selbstverwaltungsangelegenheit handele und die Überprüfung des Ausgangsbescheides durch die nächsthöhere Behörde als Widerspruchsbehörde sinnvoll, rechtlich zulässig und der Regelfall sei, hält der Senat hieran nicht mehr fest. Schlüssig erscheint eher die gegenteilige Argumentation: Die Einordnung als selbständiger Aufgabentyp besagt lediglich, dass sowohl Elemente der Selbstverwaltung als auch der früheren Auftragsverwaltung vorhanden sind. Dass sich Nr. 4 nur auf "reine" Selbstverwaltungsangelegenheiten bezieht, ist gerade nicht zwingend, denn die Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung sind nach der vermittelnden Ansicht jedenfalls auch Selbstverwaltungsangelegenheiten. Hierfür spricht sogar die die Einordnung als Selbstverwaltungsangelegenheiten relativierende Rechtsprechung des 20. Senat des OVG Münster (Urteil vom 30.06.2005, 20 A 3988/03, Juris Rn 42), mit der dargelegt wird, dass Weisungen bei Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung grundsätzlich auch den geschützten Selbstverwaltungsbereich berühren können und dann als im Wege der Anfechtungsklage angreifbarer Verwaltungsakt zu werten sind. Der Begriff der Selbstverwaltungsangelegenheiten in § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG ist daher nicht auf "reine" Selbstverwaltungsangelegenheiten zu begrenzen.

Genauso wenig ist er auf Selbstverwaltungsangelegenheiten "im bundesrechtlichen Sinne" zu beschränken (so Stellungnahme des MAGS vom 17.11.2009 m.w.N., Burgi, Kommunalrecht, München 2006, § 8 Rn 21ff für den insoweit gleichlautenden § 73 VwGO). Eine solche Begriffsbestimmung kann nur auf den Schutzbereich des Art 28 Abs. 2 GG zurückgreifen und muss damit die Selbstverwaltungsangelegenheiten auf die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft begrenzen. Es erscheint jedoch schon vom Ansatz her problematisch, von der minimalen Einrichtungsgarantie des Art 28 Abs. 2 GG für die Gemeinden und Gemeindeverbände auf die Reichweite einer Kompetenznorm zu schließen. Denn Art 28 Abs. 2 GG stellt in erster Linie eine Schutznorm zugunsten der Gemeinde dar und will lediglich einen Minimalstandard für die Existenz der Kommune sichern, nicht aber definitiv bestimmen, was positiv über den Kernbereich der institutionellen Garantie hinaus Selbstverwaltung sein kann (vgl. Riotte/Waldecker; NWVBl 1995, 401, 402, 404; zum Abwehrrecht auch Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/ Hofmann/ Hopfauf, Art 28 Rn 45). Die gegenteilige Ansicht lässt zudem die landesgesetzgeberische Kompetenz zur Ausfüllung der gemeindlichen Selbstverwaltungsgarantie im Rahmen der Verwaltungskompetenz unberücksichtigt. Die Ausgestaltung des Kommunalrechts und damit auch die Statuierung von Aufgabenmodellen fällt in die ausschließliche Zuständigkeit des Landesgesetzgebers (Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art 28 Rn 62). Art 78 Abs. 2 LVerf NW und § 2 GO enthalten dementsprechend keine Begrenzung auf Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, sondern sprechen von der ausschließlichen und eigenverantwortlichen Trägerschaft der öffentlichen Verwaltung "in ihrem Gebiet".

Art 28 Abs. 2 S. 1 GG sichert den Gemeinden einen Aufgabenbereich, der grundsätzlich alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft umfasst (Leibholz/Rinck, Art 28 Rn 236). Der Gesetzgeber ist dagegen in seiner Zuordnung frei, wenn die Aufgabe keinen oder keinen relevanten örtlichen Charakter besitzt. Sie fällt dann aus dem Gewährleistungsbereich des Art 28 Abs. 2 S. 1 GG heraus (BVerfGE 79, 127, 152; Leibholz/ Rinck ebenda). Für den Landesgesetzgeber ist es damit grundsätzlich auch möglich, Aufgaben ohne spezifischen Bezug zur örtlichen Gemeinschaft statt als Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung als pflichtige Selbstverwaltungsangelegenheiten zu übertragen. Dies hat er z.B. in § 8 Abs. 2 VersÄmtEinglG getan. Nach dieser Norm nimmt der Landschaftsverband Westfalen-Lippe die Aufgaben nach dem Bergmannversorgungsschein in landesweiter Zuständigkeit als Selbstverwaltungsangelegenheit wahr (ähnliche Aufgabeübertragung z.B. auch diskutiert im Urteil des OVG NRW vom 17.07.2003, 12 A 5381/00, für das Asylbewerberleistungsgesetz, dessen Durchführung als pflichtige Selbstverwaltungsangelegenheit übertragen worden sei bei streitiger, letztlich befürworteter Einordnung als Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft, Juris Rn. 62ff). Eine Bestimmung über die Deckung der Kosten muss er nach Art 78 Abs. 3 LVerf NW und § 2 Konnexitätsausführungsgesetz NW (vom 22.06.2004, GV NW S. 360, KonnexAG) in beiden Fällen treffen und darf überdies die Gemeinden nicht in ihrer Selbstverwaltungsgarantie durch "erdrosselnde" Aufgabenzuweisungen einschränken (s hierzu Henneke, in: SchmidtBleibtreu/Hofmann/Hopfauf, Art 28 Rn 77).

Solche überörtlichen Angelegenheiten fielen in der Konsequenz der Vertreter eines bundesrechtlichen Begriffs aus dem Anwendungsbereich des § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG heraus, obwohl es sich um Selbstverwaltungsangelegenheiten handelte. Eine bundesrechtliche Festlegung dahingehend, dass alle reinen i.S.v. weisungsfreien Selbstverwaltungsangelegenheiten unabhängig von ihrem örtlichen Bezug von § 85 SGG bzw. § 73 VwGO erfasst wären, fände andererseits in Art 28 Abs. 2 GG als der einzigen bundesweit geltenden Norm keine Stütze und würde bedeuten, dass sich der Bundesgesetzgeber einseitig den Bundesländern mit dualistischem System angeschlossen hätte. Hierfür findet sich allerdings kein Anhalt. Der Senat hält es für die Bestimmung der zuständigen Widerspruchbehörde i.S.d. § 85 Abs. 2 S. 1 SGG für sachgerecht und für geboten, die jeweilige landesrechtliche Bestimmung von "Selbstverwaltungsangelegenheiten" zugrunde zu legen.

Schließlich sieht der Senat keinen Möglichkeit, von der Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster als (Sonder) Aufsichtsbehörde im Wege einer "Annexkompetenz" auf ihre Zuständigkeit als Widerspruchsbehörde zu schließen (SG Dortmund, Urteil vom 10.06.2009, S. 7 SB 54/08). Hierfür mangelt es an einer gesetzlichen Regelung. Die Zuständigkeiten sind voneinander unabhängig, wie gerade die Regelungen in § 85 SGG und § 73 VwGO über die Zuständigkeit der Erlassbehörde in Selbstverwaltungsangelegenheiten zeigen. Lediglich im umgekehrten Fall, wenn bereits eine Bestimmung dahingehend vorliegt, dass die "nächsthöhere" Behörde den Widerspruchsbescheid erlässt, spricht einiges dafür, dass die Aufsichtsbehörde die nächsthöhere und damit die Widerspruchsbehörde ist (Urteil des erkennenden Senates vom 05.03.2008, L 10 SB 40/06, Juris Rn 44).

B. 

Durch die Entscheidung der Bezirksregierung Münster über den Widerspruch ist das Widerspruchsverfahren nicht ordnungsgemäß abgeschlossen worden, da dieser die Zuständigkeit für den Erlass des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2008 nicht zukam. Deshalb war der Bescheid aufzuheben. Dennoch konnte der Senat in der Sache entscheiden. Er war nicht gehalten, analog § 79 Abs. 2 VwGO den Widerspruchsbescheid isoliert durch Teilurteil aufzuheben und dem Beklagten Gelegenheit zur erneuten Durchführung des Vorverfahrens zu geben (zur entsprechenden Anwendung des § 79 Abs. 2 VwGO MeyerLadewig, SGG, 9. Auflage, § 95 Rn 3c ff).

Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster gehört nicht zu den Fehlern, die nach § 41 SGB X unbeachtlich sind und auch nicht zu den Fehlern, die nach § 42 S. 1 SGB X geheilt werden können. Diese Norm verneint einen Anspruch auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der unter Verletzung der Vorschriften über die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Daraus folgt, dass ein Fehler der örtlichen Zuständigkeit bei Erlass eines Verwaltungsaktes dann geheilt werden kann, wenn es sich um eine gebundene Entscheidung handelt. Durch die Beschränkung auf die örtliche Zuständigkeit ist eine solche Heilungsmöglichkeit für Fehler der sachlichen Zuständigkeit jedoch nicht eröffnet (vgl. Schütze, in: von Wulffen, SGB X-Kommentar, 6. Aufl. 2008, § 42 Rn 5; Steinwedel, in: Kassler Kommentar in beckonline, EL 2009, SGB X § 42 Rn 7; vgl. auch BFHE, Urteil vom 23.04.1986, I R 178/82 zu § 126 Abs. 1 Nrn. 1 bis 5, 127 AO 1977, BVerwGE 66, 183). Die sachliche Zuständigkeit ist dem Organisationsrecht der einzelnen Bereiche vorbehalten; Fehler können insoweit nicht geheilt werden. Der Bürger hat nämlich grundsätzlich einen Anspruch darauf, dass, bevor er sich dazu entschließt, sein Klagebegehren im Klagewege zu verfolgen, dieses von der zuständigen, das heißt der örtlich kundigen und sachlich qualifizierten Behörde erschöpfend überprüft wird (VG Berlin, Urteil vom 21.05.2003, 19 A 442.02, Juris Rn.19). Der Senat hält es deshalb für erforderlich, den formal fehlerhaften Widerspruchsbescheid aufzuheben; der Mangel der sachlichen Unzuständigkeit und die damit einhergehende Rechtswidrigkeit können nicht folgenlos bleiben (BSG, Urteil vom 03.09.1998, B 12 KR 23/97 R, Juris Rn 14).

Ein erneutes Vorverfahren ist im vorliegenden Fall dennoch nicht durchzuführen, da die zuständige Widerspruchsstelle und der Klagegegner identisch sind und von einer Nachholung des Vorverfahrens nicht zu erwarten wäre, dass damit das Klageverfahren entbehrlich wird (BSG, Urteil vom 06.08.1998, B 3 KR 3/98 R, Juris Rn 14 m.w.N.; in der prozessualen Konsequenz anders BSG, Urteil vom 15.08.1996, 9 RV 10/95, Juris Rn 14 für die unterbliebene Anhörung als allerdings gesetzlich gem. § 42 S. 2 SGB X geregeltem Aufhebungsanspruch auch bei gebundenen Entscheidungen). Bei gebundenen Entscheidungen ohne Beurteilungsspielraum zu Gunsten der Behörde kann die im Widerspruchsbescheid getroffenen Entscheidung auf dem Fehler der sachlichen Unzuständigkeit nicht beruhen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 17.07.2003, 12 A 5381/000, Juris Rn 31). Im vorliegenden Fall kommt dem Widerspruchsbescheid deshalb keine selbständige Rechtserheblichkeit gegenüber dem Ursprungsbescheid zu. Dies wird vom Kläger auch nicht angeführt. Es ist nicht ersichtlich, dass die Widerspruchsentscheidung für den Kläger günstiger ausgefallen wäre bzw. ausfallen würde, wenn der Beklagte den Widerspruch statt der Bezirksregierung Münster erlassen hätte. Die bloße Hoffnung und Spekulation auf eine für ihn günstigere Entscheidung ist nicht maßgeblich. Ein schützenswertes Interesse des Betroffenen, im Rahmen eines Verpflichtungsbegehrens lediglich den ablehnenden Widerspruchsbescheid isoliert aufheben zu lassen, ist nur dann anzuerkennen, wenn die Widerspruchsbehörde über einen Ermessens- oder Beurteilungsspielraum verfügt (Bundesverwaltungsgericht, Beschluss vom 13.1.1999, 8 B 266/98, Juris Rn 2; VG Berlin, Urteil vom 21.05.2003, 19 A 442.02, Juris Rn19f). Dies ist hier nicht der Fall, denn im Bereich des Schwerbehindertenrechts handelt es sich bei der Widerspruchsentscheidung um eine gebundene Entscheidung.

Der Senat verkennt nicht, dass der gravierende Verfahrensfehler im Ergebnis sanktionslos bleibt. Eine erneute Durchführung eines Vorverfahrens durch den Beklagten wäre jedoch widersinnig. Denn der mit der zuständigen Widerspruchsstelle identische Beklagte hat sich bereits im Ursprungsbescheid, später im Klageverfahren mit dem Antrag auf Klageabweisung und im Berufungsverfahren auf Zurückweisung der Berufung festgelegt. Ein erneutes Vorverfahren käme daher, auch wenn der Kläger einen Anspruch auf ein objektiv einwandfreies Verfahren der Widerspruchsbehörde und insbesondere auf Gewährleistung effektiven Rechtschutzes bei der Verfolgung seines materiell rechtlichen Begehrens hat, hier einem unzweckmäßigen Formalismus gleich. Der Kläger kann in diesem Verfahren trotz der sachlichen Unzuständigkeit der Widerspruchsstelle die umfassende Prüfung des geltend gemachten Anspruchs erreichen.

C. 

Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, dass der Beklagte die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleiches "G" gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX feststellt. Das SG hat zutreffend festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 146 Abs. 1 SGB IX, § 9 Einkommenssteuergesetz (EStG) und Teil D 1 (b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ( VersMedG, Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes Versorgungsmedizin-Verordnung / VersMedV vom 10.12.2008, BGBl I, 2412ff), hier insbesondere die Anlage zu § 2 der VersMedV, die VersMedG) nicht vorliegen und dies mit ausführlicher Begründung, insbesondere unter differenzierter Auseinandersetzung mit den Gutachten der Dr. C und Prof. Dr. P dargelegt. Die VersMedG haben ab 01.01.2009 die bis zu diesem Zeitpunkt anwendbaren weitgehend wortgleichen "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) abgelöst. Eine hier relevante abweichende Bewertung von Behinderungen oder der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs G hat sich dadurch nicht ergeben, so dass es unschädlich ist, wenn das vom Sozialgericht eingeholte Gutachten von Dr. C noch auf die vorgenannten Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP, hier Nr. 30 Abs. 1 und Abs. 3 AHP) abstellt. Soweit das LSG Baden-Württemberg in seiner Entscheidung vom 14.08.09, L 8 SB 1691/08, Juris Rn 29 ausführt, die in den VersMedG übernommenen Voraussetzungen des Nachteilsausgleichs "G" seien nicht von der Ermächtigungsgrundlage zum Erlass der VersMedV gedeckt, schließt sich der Senat an. Hierauf kommt es allerdings nicht an, weil eine inhaltliche Änderung der bisher angewandten Grundsätze und Kriterien nicht erfolgt ist. Die VersMedG haben die Grundsätze zum Merkzeichen "G" aus den bisher zum 31.12.2008 geltenden AHP übernommen und damit gewährleistet, dass gegenüber dem bisherigen Feststellungsverfahren keine Schlechterstellung möglich ist. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" sind inzwischen als gewohnheitsrechtlich anerkannt einzuordnen. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat im Übrigen auf die Gründe des angefochtenen Urteils Bezug und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 153 Abs. 2 SGG).

Das Vorbringen in der Berufungsschrift führt zu keiner anderen Beurteilung. Auch der Senat ist unter Berücksichtigung der vorgenannten Gutachten der Überzeugung, dass Behinderungen der unteren Gliedmaßen, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, allenfalls mit einem GdB von 40 bewertet werden können. Der Kläger leidet zwar an Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, für die ein Einzel-GdB 30 angemessen ist. In diesem GdB 30 sind jedoch die Wirbelsäulenbeeinträchtigungen der Halswirbelsäule mitbewertet; diese wirken sich nicht besonders auf die Gehfähigkeit aus. Auch der GdB für die Beeinträchtigung des Sprunggelenkes ist mit 20 eher großzügig bewertet. Er liegt gemessen an den Vorgaben der VersMedG (Teil B Ziff. 18.14) eher im unteren Bereich. Die Bewegungseinschränkungen müssten insoweit einer Versteifung des Sprunggelenkes gleichkommen. Das ist hier nach den Feststellungen der Sachverständigen nicht der Fall.

Soweit der Kläger einwendet, seine Beschwerden seien wahrscheinlich auf die verbliebenen Knochensplitter im Gelenk zurückzuführen, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Die daraus nach Ausführung des Klägers resultierenden Beschwerden, wie starke Schmerzhaftigkeit, lange Anlaufphase, Pausen etc. sind ausweislich der Feststellungen von Dr. C in die Bewertung und Beurteilung der Gehfähigkeit mit eingeflossen. So hat er ausdrücklich die entsprechenden Beschwerden des Klägers in seinem Gutachten erfasst. Prof. Dr. P Gutachten enthält ebenfalls die ausführliche Beschwerdeschilderung des Klägers.

Anlass für weitere Ermittlungen sah der Senat daher weder in den erstinstanzlich vorgetragenen Einwänden gegen die Gutachten nach §§ 106 und 109 SGG noch in dem mit der Berufungsbegründung zu den Akten gereichten Bericht der Kliniken T vom 05.08.2009. Der dortige stationäre Aufenthalt vom 23.06.2009 bis zum 21.07.2009 erfolgte vor allem aufgrund der psychischen Beeinträchtigungen. Der Bericht führt hinsichtlich der Physiotherapie sogar aus, dass zum Zeitpunkt der Entlassung die Beweglichkeit leicht gebessert werden konnte, die Schwellung des Knöchels zurückging und der Patient über eine bessere Gangsicherheit berichtete.

Wenig nachvollziehbar ist der Hinweis des Klägers, ihm sei an einer Parkerleichterung gelegen. Diese Vergünstigung ist mit dem Merkzeichen "G" nicht verbunden, sondern es handelt sich um eine Vergünstigung im Zusammenhang mit der Zuerkennung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung), die nicht Streitgegenstand ist. Die Voraussetzungen hierfür liegen ganz offensichtlich aber auch nicht vor.

Die unter Bezugnahme auf den Bericht der T-Kliniken angesprochene, letztlich aber nicht beantragte Erhöhung des Einzel-GdB 70 für die bestehende Neurose und Anpassungsstörungen ist ebenfalls nicht Streitgegenstand. Für die Feststellung eines höheren Einzel-GdB würde zudem kein Rechtschutzinteresse bestehen. Lediglich der Gesamt-GdB erwächst in Rechtskraft (BSG, Urteil v. 24.06.1998, B 9 SB 17/97 R, Juris Rn 11). Bei einem bereits festgestellten Gesamt-GdB 100 würde sich die Position des Klägers durch eine höhere Bewertung der bestehenden Neurose und Anpassungsstörungen nicht bessern.

Dem Beklagten werden gemäß § 192 Abs. 4 SGG anteilige Kosten der Begutachtung durch Dr. C i.H.v. 300,- Euro auferlegt, weil der Beklagte als Ausgangsbehörde und nach ihm die BezReg Münster als zudem sachlich unzuständige Behörde die erkennbaren und notwendigen Ermittlungen unterlassen und sich auf die Einholung einer knappen gutachterlichen Stellungnahme beschränkt haben. In den Schwerbehindertenverfahren reicht es zwar vielfach aus, lediglich aufgrund von ausführlichen Befundberichten und einer darauf basierenden schriftlichen Stellungnahme eines erfahrenen ärztlichen Verwaltungsgutachters den GdB/das Merkzeichen festzustellen (Beschluss des erkennenden Senates vom 21.09.1998, L 10 B 6/98 SB). Der Beklagte ist hier allerdings seiner Ermittlungspflicht trotz des Hinweises der Fachärztin für Chirurgie Frau O in der gutachterlichen Stellungnahme vom 13.02.2008, dass die vorliegenden Unterlagen für eine sichere Einschätzung nicht ausreichend seien, nicht nachgekommen. So hatte die beratende Ärztin angeregt, einen aktuellen Befundbericht beizuziehen und den Kläger gegebenenfalls auch untersuchen zu lassen. Der Beklagte hat den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht bezüglich des beantragten Merkzeichens "G" hingegen nicht weiter aufgeklärt, sondern lediglich den Entlassungsbrief des N-krankenhauses C aus Oktober 2007 ausgewertet, der zu dem nach dem Unfall verbliebenen Gehvermögen des Klägers überhaupt keine Aussage enthielt. Hier hätte zumindest vor Erlass des angefochtenen Bescheid vom 26.03.2008, jedenfalls nach Eingang des Widerspruchs des Klägers vom 07.04.2009 die Beiziehung eines aktuellen Befundberichtes nahe gelegen. Auch die sachlich allerdings unzuständige Widerspruchsbehörde hat weitere Sachaufklärung nicht für erforderlich gehalten. Bei sachgerechter Aufklärung durch den Beklagten hätte die Begutachtung von Amts wegen im gerichtlichen Verfahren nicht nachgeholt werden müssen und die Kosten wären dem Landesjustizhaushalt nicht angefallen. Der Senat konnte dem Beklagten die Kosten durch Urteil auferlegen, weil auch die Entscheidung durch gesonderten Beschluss nach § 194 Abs. 4 S. 2 SGG nicht mit der Beschwerde gemäß § 177 SGG anfechtbar wäre.

Im Übrigen hat der Beklagte dem Kläger ein Drittel der außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten, weil auch er Anlass zur Klage gegeben hat (§ 193 SGG). Wie ausgeführt haben weder der Beklagte noch die Widerspruchsbehörde den Sachverhalt aktuell aufgeklärt. Darüber hinaus enthält der Widerspruchsbescheid nur eine floskelhafte Begründung, in der sich der Kläger nicht wiederfinden konnte. Es ist nachvollziehbar, dass er damit nicht einverstanden war und den Klageweg beschritten hat. Der Beklagte hat damit jedenfalls teilweise auch Anlass für die Klageerhebung gegeben. Er muss sich weiterhin die mangelnde sachliche Zuständigkeit der Bezirksregierung Münster zurechnen lassen. Es ist deshalb sachgerecht, den Beklagten mit einem Drittel an den außergerichtlichen Kosten des Klägers zu beteiligen. Im Übrigen hat der Kläger trotz des erheblichen Verfahrensfehlers sein Klageziel im Ergebnis nicht erreicht.

Der Senat hat die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs.. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) als gegeben angesehen. Über die Auslegung von Landesrecht hinaus ist die Auslegung des Begriff der Selbstverwaltungsangelegenheit in § 85 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 SGG von grundsätzlicher Bedeutung. Ebenso sieht es der Senat als grundsätzlich an, ob er die Sache abschließend entscheiden durfte oder ob der Widerspruchsbescheid isoliert durch Teilurteil hätte aufgehoben werden müssen, um der zuständigen Widerspruchsstelle die Möglichkeit zu geben, das Vorverfahren nachzuholen.