LSG NRW - Urteil vom 25.01.2006 - Az.: L 10 V 32/05 -
Ist ein Beschädigter i.S.d. Bundesversorgungsgesetztes aufgrund seiner Schädigungsfolgen jahrelang auf den Gebrauch von Gehstützen angewiesen, können arthrotische Veränderungen im Bereich des Handgelenks u.U. darauf zurückgeführt werden. Voraussetzung ist u.a. aber das im Schultergelenksbereich korrelierenden Befunde - arthrotische Veränderungen des Schultergelenks - bestehen. Bei schädigender Belastung eines Armes durch Benutzung von Stockstützen sind nämlich aufgrund der Biomechanik zunächst vorauseilende degenerative Prozesse an der Schulter zu erwarten.
Tatbestand
Der 1922 geborene Kläger begehrt die Anerkennung von Verschleißerscheinungen im Bereich des rechten Armes, insbesondere im Handgelenksbereich, als Schädigungsfolgen nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Vorrangig wegen des Verlustes seines linken Beines im Oberschenkel und einer Schädigung seines linken Armes erhält er seit 1953 Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v.H. Als Schädigungsfolgen sind anerkannt:
1992 beantragte der Kläger, arthrotische Veränderungen am Zeigefinger seiner rechten Hand als Schädigungsfolgen anzuerkennen. Zur Begründung gab er an, die Veränderungen seien Folge des ständigen Gebrauchs eines Gehstocks. Dieser Antrag blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts <SG> Münster vom 15.08.1995 - S 16 (15) V 27/93 - und Beschluss des LSG NRW vom 29.07.1996 - L 7 V 200/95 -): Bei dem Kläger wurden zwar Veränderungen aller Endgelenke der Langfinger der rechten Hand festgestellt; diese wurden aber nicht auf die Benutzung einer Gehhilfe zurückgeführt, sondern als anlagebedingte Veränderungen im Sinne einer Heberden-Polyarthrose bewertet (Gutachten des Chefarztes der Chirurgischen Abteilung des E. Krankenhauses H., Prof. Dr. Bu., vom 14.11.1994 und 23.04.1996).
Am 27.04.2000 beantragte der Kläger die Anerkennung von Verschleißerscheinungen im Bereich des rechten Armes, insbesondere im Handgelenksbereich, als Schädigungsfolgen mit der Begründung, dass aufgrund des ständigen Tragens von zwei Unterarmgehstützen ein zusätzlicher Verschleiß eingetreten sei. In ihrem versorgungsärztlichen Gutachten vom 13.11.2000 bestätigte die Regierungsmedizinalrätin S. einen anlagebedingten Verschleiß der Fingergelenke im Sinne einer Heberden-Bouchard-Polyarthrose. Schädigungsbedingte Gesundheitsschäden im Bereich der rechten oberen Extremität aufgrund einer Fehlbelastung vermochte sie mit der Begründung nicht festzustellen, dass sich der Kläger seit 1992 fast ausschließlich im Rollstuhl bewegt und damit eine Fehlbelastung durch Benutzung von Unterarmstützen nicht stattgefunden habe.
Der Beklagte lehnte daraufhin die Anerkennung von Schädigungsfolgen im Bereich des rechten Handgelenkes und des rechten Daumensattelgelenkes mit Bescheid vom 09.03.2001 und Widerspruchsbescheid vom 27.07.2001 ab.
Mit seiner Klage vom 23.08.2001 hat der Kläger vorgetragen, dass seine Beschwerden im rechten Hand- und Daumensattelgelenk auf einer Überlastung beruhten und nicht anlagebedingt seien. Anfang der 90er Jahre seien bereits seine Beschwerden am linken Handgelenk als Schädigungsfolge anerkannt worden; im Übrigen sei ihm auch ein Elektrorollstuhl zur Entlastung der Handgelenke bewilligt worden.
Der Kläger hat schriftlich sinngemäß beantragt,
den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 09.03.2001 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27.07.2001 zu verurteilen, Verschleißerscheinungen im Bereich des rechten Armes, insbesondere im Handgelenksbereich, als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das SG Münster hat zunächst ein Gutachten (16.09.2002) sowie ergänzende Stellungnahmen (22.01., 04.02., 18.06. und 10.10.2003) von dem Arzt für Chirurgie/Chirotherapie Dr. B. eingeholt. Der Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine lange Überlastung bzw. Fehlbelastung der rechten Hand durch den Gebrauch von Gehstützen für die leichte Arthrose des rechten Handgelenks und die fortgeschrittene Handwurzelarthrose ursächlich sei. Der Kläger habe seit der Kriegsverletzung bis 1992 zwei unterschiedliche Gehstützen benutzt mit rechts regelrecht angebrachtem Handabstützgriff und links wegen der linksseitigen Ellenbogengelenksbeugekontraktur höher gesetztem, angepassten Handgriff. Wegen der erheblichen Belastungsschmerzen im linken Ellenbogengelenk und Handbereich habe er den linken Arm bei der Benutzung der Gehstützen entlastet, sein Gewicht mehr nach rechts verlagert und somit die rechte Hand noch mehr als bei üblichem Gebrauch von Gehstützen belastet. Die Heberden- und Bouchard-Polyarthrose der Finger sei dagegen anlagebedingt.
Das SG hat sodann ein Gutachten (05.04.2005) von Prof. Dr. E., Chefarzt der Abteilung Unfall, Wiederherstellungs- und Handchirurgie des E. Krankenhauses H., eingeholt. Der Sachverständige hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen arthrotischen Veränderungen insbesondere des Daumensattelgelenks und dem Gebrauch von Gehstützen verneint; die Veränderungen seien vielmehr am ehesten schicksalsbedingt. Dafür sprächen insbesondere fehlende Veränderungen im rechten Schultergelenk und die nur diskreten Veränderungen im Bereich des Handgelenkes. Bei der Benutzung von Gehhilfen sei aber gerade in diesen Bereichen biomechanisch eine Belastung zu erwarten.
Das SG ist diesem Gutachten gefolgt und hat die Klage mit Urteil vom 18.08.2005 abgewiesen.
Gegen das am 14.09.2005 zugestellte Urteil hat der Kläger am 10.10.2005 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Er hat vorgetragen, unverständlich sei, dass die Beschwerden im linken Handgelenk als Schädigungsfolgen anerkannt seien, während den Beschwerden am Daumensattel und im Handgelenk der rechten Hand trotz stärkster Belastung und Fehlhaltung die Anerkennung versagt werde.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 18.08.2005 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 09.03.2001 in der Gestalt des
Widerspruchsbescheides vom 27.07.2001 zu verurteilen, bei ihm Verschleißerscheinungen des rechten Armes, insbesondere im Handgelenksbereich, als weitere Schädigungsfolgen anzuerkennen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückweisen.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die Vorprozessakten des SG Münster (S 12 V 44/69; S 12 V 62/70; S 12 V 15/72; S 13 V 227/73 - L 6 V 35/79 -; S 13 V 62/76 - L 11 V 69/78 -; S 10 SB 89/01 - L 10 SB 54/02 -; S 13 V 225/81 - L 10 V 259/85 -; S 14 Kr 158/83 - L 16 Kr 56/85 -; S 16(15) V 27/93 - L 10 V 144/95 -; S 16 (15) V 58/93 - L 7 V 200/95 -) sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet.
Die von dem Kläger angefochtene Entscheidung des Beklagten ist rechtmäßig; denn der Kläger hat unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt keinen Anspruch auf Anerkennung von weiteren Schädigungsfolgen im Bereich des rechten Armes bzw. des rechten Handgelenks.
Es ist nämlich weder festzustellen, dass die vorausgegangenen bestandskräftigen Entscheidungen des Beklagten insoweit unrichtig waren, als dass der Beklagte es abgelehnt hat, Schädigungsfolgen am rechten Arm des Klägers festzustellen (§ 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch <SGB X>), noch ist in den Verhältnissen, die dem letzten bindenden Bescheid des Beklagten zugrunde gelegen haben, eine wesentliche Änderung (§ 48 SGB X) in der Form eingetreten, dass nunmehr Gesundheitsstörungen im Bereich des rechten Armes als Schädigungsfolgen anzuerkennen wären.
Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs (§ 1 Abs. 3 BVG). Diese Wahrscheinlichkeit liegt vor, wenn unter Berücksichtigung der herrschenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen den ursächlichen Zusammenhang spricht (§ 1 Nr. 9 der Verwaltungsvorschrift zu § 1 BVG; vgl. auch BSGE 32, 203; 45, 1; 45, 285). Ursächlich im Sinne der im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung ist ein Ereignis dann, wenn es allein den Erfolg herbeigeführt hat, oder aber, wenn ihm im Vergleich zu anderen Bedingungen, die ebenfalls zum Erfolg beigetragen haben, eine überwiegende oder zumindest annähernd gleichwertige Bedeutung zukommt (BSGE 1, 72; 1, 150; 1, 268; 3, 268; 6, 193; 7, 55; 8, 277).
Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt; denn es spricht mehr dagegen als dafür, dass die an der rechten Hand des Klägers vorhandenen arthrotischen Veränderungen auf die Benutzung von Gehhilfen bzw. Unterarmstützen zurückzuführen sind. Andere schädigungsbedingte Ursachen scheiden aus. Am rechten Arm des Klägers bestehen auch ansonsten keine schädigungsbedingten Gesundheitsstörungen.
Der Sachverständige Dr. B. hat zwar einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den arthrotischen Veränderungen im Bereich der rechten Hand bejaht und zur Begründung eine jahrelange Fehl- bzw. Überbelastung der Hand durch Benutzung von Stockstützen angeführt.
Wissenschaftlich nachgewiesen ist ein solcher Zusammenhang indes - worauf auch der Sachverständige Prof. Dr. E. hinweist - nicht. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)" (AHP) führen zwar aus, dass die beidseitige Benutzung von Unterarmgehstützen (z.B. bei der Unmöglichkeit, ein Kunstbein zu tragen oder bei vergleichbaren Zuständen) in Extensionsstellung des Handgelenks (Mit-)Ursache für ein Karpaltunnelsyndrom (Nr. 134 AHP) und dass eine langfristige, mindestens fünf Jahre andauernde, beidseitige Benutzung von Unterarmgehstützen (z.B. bei ständiger Unmöglichkeit, ein Kunstbein zu tragen, oder bei vergleichbaren Zuständen) von (mit-)ursächlicher Bedeutung für Schäden an den Rotatorenmanschetten und für dadurch bedingte sekundär-arthrotische Veränderungen der Schultergelenke, insbesondere der Schultereckgelenke, (Nr. 133 AHP) sein kann; weitere Vorgaben enthalten die AHP aber nicht.
Darauf kommt es jedoch auch nicht an; denn auch der Senat geht davon aus, dass - wie Dr. B. ausführt - eine langjährige Benutzung von Gehstützen grundsätzlich zu arthrotischen Veränderungen der Gelenke der Hand führen kann.
Dies gilt indes nicht für die bei dem Kläger vorrangig bestehende Daumensattelgelenksarthrose und die allenfalls beginnende Handgelenksarthrose.
Entscheidend spricht zunächst gegen die von Dr. B. befürwortete Anerkennung dieser Arthrosen, dass an der rechten Schulter des Klägers keine korrelierenden Befunde, also arthrotische Veränderungen des Schultergelenks, bestehen. Bei schädigender Belastung des rechten Armes durch Benutzung von Stockstützen wären jedoch aufgrund der Biomechanik zunächst vorauseilende degenerative Prozesse an der Schulter, nicht aber am Daumensattelgelenk zu erwarten. Diese Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. E. sind nicht nur nachvollziehbar, sondern auch überzeugend. Sie stehen auch mit den AHP in Einklang, die der Benutzung von Unterarmgehstützen lediglich eine mitursächliche Bedeutung für ein Karpaltunnelsyndrom oder / und für sekundär-arthrotische Veränderungen der Schultergelenke zumessen.
Gleiches gilt aufgrund des Befundes des Handgelenks. Neben pathologischen Befunden des Schultergelenks wären nämlich auch im Bereich des Handgelenks nicht unerhebliche vorauseilende arthrotische Veränderungen zu erwarten, wenn von der Nutzung der Unterarmgehstützen schädigende Auswirkungen ausgegangen wären. Denn bei Benutzung von Gehhilfen werden sowohl Schulter- als auch Handgelenke vorrangig belastet. Bei dem Kläger bestehen aber (nunmehr) nur diskrete degenerative Veränderungen im Bereich des Handgelenks. Im Übrigen ist insoweit auch zu berücksichtigen, dass der Kläger seit ca. 1992 keiner besonderen Belastung durch Unterarmgehstützen mehr ausgesetzt war, da er seit dieser Zeit einen Rollstuhl benutzen musste. 1992 bestanden aber noch keine arthrotischen Veränderungen des rechten Handgelenks, so dass auch deshalb für die jetzt bestehenden Veränderungen eine Benutzung von Gehhilfen nicht als ursächlich angesehen werden kann. Der Handgelenksbefund wurde 1991 von Dr. M. (Gutachten vom 19.02.1991) als weitgehend intakt beschrieben. Ebenso gibt Dr. B. nach Auswertung der Röntgenaufnahmen vom 19.02.1991 den Handgelenksbefund als regelrecht an (S. 10 des Gutachtens vom 16.09.2002). Auch der Sachverständige Dr. E. vermochte bei Auswertung der Röntgenaufnahmen (vom 16.03.1992) im Bereich des rechten Handgelenks - Gelenkverbindung zwischen Speiche und körpernaher Handwurzelreihe und der Speiche und der Elle - keine degenerativen Zeichen zu erkennen.
Eine Belastung, die ggf. als Ursache für degenerative Veränderungen im Daumensattelgelenk in Betracht gezogen werden könnte, nämlich eine repititive axiale Belastung, kommt bei dem Gebrauch von Gehhilfen in der Regel nicht vor und wurde auch von dem Kläger nicht angegeben.
Soweit der Kläger wiederholt eine Erklärung für seine Beschwerden gefordert hat, ist er darauf zu verweisen, dass Daumengelenksarthrosen - wie der Sachverständige Dr. E. ausgeführt hat - im Alter häufig anzutreffen sind, ohne dass dafür außer dem fortschreitenden Alter Ursachen bestehen.
Aus der von dem Kläger angeführten Anerkennung von Schädigungsfolgen im Bereich der linken Hand ist schon grundsätzlich kein Rückschluss in dem Sinne möglich, dass deshalb auch an der rechten Hand Schädigungsfolgen bestehen. Im Übrigen erfolgte die Anerkennung von Schädigungsfolgen an der linken Hand nicht wegen einer Fehl- bzw. Überlastung aufgrund einer Benutzung von Gehhilfen. Die Schädigung der linken Hand wurde anerkannt, weil sie unmittelbare Folge des erlittenen Kriegstraumas ist.
Letztlich kann der Kläger auch aus der Bewilligung eines Rollstuhls keinen Anspruch auf die begehrte Anerkennung herleiten.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.