Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung).

Der 1995 geborene Kläger leidet seit frühester Kindheit u. a. an einem therapieschweren Epilepsiesyndrom bei geistiger Behinderung sowie einer schweren autistischen Verhaltensstörung. Aufgrund entsprechender Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) bezieht er seit Jahren von der Pflegekasse Leistungen für Pflegebedürftige der Pflegestufe III. Ein Rollstuhl ist bisher weder beantragt noch verordnet worden und wird im Haushalt auch nicht genutzt. Sein Vater, der bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Klägers zusammen mit seiner Mutter das elterliche Sorgerecht innegehabt hatte, ist für den Kläger seit dem 26. März 2014 für die Aufgabenkreise "alle Angelegenheiten, Entgegennahme, Öffnen und Bearbeiten der Post" zum Betreuer bestellt.

Mit Bescheid vom 15. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. Juni 2010 hatte der Beklagte zuletzt zugunsten des Klägers den Grad der Behinderung (GdB) mit 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr), "B" (Notwendigkeit ständiger Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel), "H" (Hilflosigkeit) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) festgestellt. Hierbei war er davon ausgegangen, dass bei dem Kläger eine Entwicklungsstörung mit Teilleistungsschwächen, ein Anfallsleiden sowie eine Harninkontinenz zu berücksichtigen seien, die er in der Reihenfolge der Benennung intern mit Einzel GdB von 90, 60 und 30 bewertet hatte. Die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG", das dem Kläger früher einmal zuerkannt, aber mit dem Bescheid vom 12. Juli 2006 bestandskräftig wieder entzogen worden war, hatte der Beklagte mit dem zuletzt erteilten Bescheid abgelehnt, weil sich der Kläger nicht wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Fahrzeuges bewegen könne.

Nachdem dieser Bescheid bestandskräftig geworden war, beantragte der Kläger am 1. Oktober 2010 erneut, ihm das Merkzeichen "aG" zuzuerkennen. Zur Begründung verwies er auf eine Epikrise der E Krankenhaus K gGmbH (Epilepsie-Zentrum B) vom 14. Juni 2010. In dieser Epikrise war die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" als dringend indiziert angesehen und zusammenfassend u. a. ausgeführt worden: Der Kläger sei in seinem Alltag voll auf die Hilfe seiner Umwelt angewiesen. Eine selbständige Orientierung und gezielte Bewegungsfreiheit bestehe in einem extrem eingeschränkten Maße. Ein Begreifen der Umwelt sei für ihn nicht möglich. Er sei in seinem Alltag auf konstante Abläufe und bekannte Umfelder angewiesen und werde hier in ganz besonderer Weise durch seine Eltern versorgt. In Situationen, wie z.B. bei Ortswechseln oder unvorhergesehenen Begebenheiten, die ihn irritierten, reagiere er mit vehementen Bewegungsstereotypien, zeitweise auch mit stark autoaggressivem und aggressivem Verhalten und sei auch für den Vater oft nur zu begrenzen. Eine Möglichkeit, auf ihn einzuwirken, bestehe dann nicht. Vor allem die Wege bereiteten ihm Schwierigkeiten. So könne er z.B. bei Autofahrten sehr heftig reagieren, wobei es dem Vater dann zeitweise kaum möglich sei, den Kläger zu lenken.

Nach Einholung einer gutachtlichen Stellungnahme lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit seinem Bescheid vom 20. Januar 2011 ab, weil Gesundheitsstörungen, die die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" rechtfertigen könnten, bei dem Kläger nicht vorlägen. Den hiergegen gerichteten Widerspruch, mit dem der Kläger geltend machte, dass nicht nur körperlich, sondern auch geistig behinderte Menschen wie er in den Genuss des beantragten Merkzeichens kommen müssten, wies der Beklagte mit seinem Widerspruchsbescheid vom 1. März 2011 als unbegründet zurück und führte aus: Der Kläger gehöre nicht zu den Personen, für die das Gesetz im Rahmen einer Aufzählung ausdrücklich die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" vorsehe. Er könne diesen Personen (z.B. Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten u. a.) auch nicht gleichgestellt werden, weil eine solche Gleichstellung verlange, dass die Gehfähigkeit in vergleichbarer Weise in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei. Hierbei komme es nicht darauf an, ob der Betroffene durch vergleichbar schwere Leiden behindert sei. Maßgeblich sei vielmehr, dass die Auswirkungen der Leiden vergleichbar seien, was nur dann der Fall sei, wenn der Leidenszustand wegen der außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränke. Eine solche Einschränkung liege hier jedoch nicht vor.

Mit seiner daraufhin am 1. April 2011 zum Sozialgericht Potsdam erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht: Er habe Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "aG", weil er gerade mit Blick auf die funktionellen Auswirkungen der bei ihm vorliegenden Behinderungen den Personengruppen gleichzustellen sei, denen das Gesetz im Rahmen einer Aufzählung ausdrücklich das begehrte Merkzeichen zugestehe. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass er im organischen Sinne zwar seine Beine und Füße gebrauchen könne, jedoch aus psychischen Gründen in seiner Fortbewegung auf das Schwerste eingeschränkt sei. Wie sich bereits aus der Epikrise des Epilepsie-Zentrums B vom 14. Juni 2010 ergebe, bereite ihm das Zurücklegen von Wegen erhebliche Schwierigkeiten, weshalb die Wege zwingend verkürzt werden müssten. Aufgrund seiner autistischen Verhaltensstörung und seiner geistigen Behinderung reagiere er in sozialirritierenden Situationen, insbesondere in solchen, die mit einem Ortswechsel verbunden seien, z. T. sehr heftig. So komme es teilweise zu einer auf Trotz beruhenden völligen Bewegungsunfähigkeit, die teilweise mit einem starken autoaggressiven und aggressiven Verhalten einhergehe. Sein Vater, der ihn überwiegend betreue, komme beim Zurücklegen von Wegen mit ihm nicht mehr zurecht. Wegen der mit seinem Verhalten verbundenen Selbstgefährdung und Gefährdung anderer könne er im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden. Damit sei sein Fall den Fällen vergleichbar, in denen sich auch das Bundessozialgericht (BSG) in seinen Urteilen vom 29. Januar 1992 und 13. Dezember 1994 (9 a RVs 4/90 und 9 RVs 3/94) für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" ausgesprochen habe. Dass es die für ihn verantwortlichen Personen bislang vermieden hätten, ihn in einem Rollstuhl zu befördern, um seine Mobilität soweit wie möglich zu erhalten, könne zu keiner anderen Beurteilung führen.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der Oberärztin Neuropädiatrie des Epilepsie-Zentrums B und Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, Neuropädiatrie, Schwerpunkt Epileptologie, Dr. M vom 14. Juli 2011 und der Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin Dr. E vom 22. Juli 2011 eingeholt.

Durch Urteil vom 16. Oktober 2013 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger sei zwar durch ein Anfallsleiden und eine autistische Verhaltensstörung auf das Schwerste beeinträchtigt, was seinen Niederschlag in dem zu seinen Gunsten festgestellten GdB von 100 gefunden habe. Diese Störungen bedingten nach den vorliegenden Arztberichten u. a. massive Orientierungsstörungen, die ein unbegleitetes Bewegen im öffentlichen Raum unmöglich machten. Nach dem Urteil des BSG vom 13. Dezember 1994 (9 RVs 3/94) könnten jedoch weder Orientierungsstörungen noch zeitweise Anfälle den Anspruch auf das Merkzeichen "aG" begründen. Denn die gewünschte Parkerleichterung wäre für den Kläger keine Hilfe, sein Ziel ungefährdet zu erreichen. Auch auf kürzestem Weg müsste er überwacht und geleitet werden. Dass der Begleitperson ihre Aufgabe erleichtert würde, weil sie bei Zuerkennung des begehrten Merkzeichens den Kläger nur auf einem verkürzten Weg zu überwachen und zu leiten hätte, sei nicht Sinn des begehrten Nachteilsausgleichs. Durch körperliche Beeinträchtigungen sei das Gehvermögen des Klägers nicht eingeschränkt. Der Kläger könne seine unteren Extremitäten gebrauchen. Dass bei ihm "Blockierungssituationen" aufträten, in denen er sich weigere sich fortzubewegen, genüge für das Merkzeichen "aG" nicht, weil es insoweit an dem erforderlichen Dauerzustand der Gehunfähigkeit mit ständiger Angewiesenheit auf einen Rollstuhl fehle.

Gegen das ihm am 25. Oktober 2013 zugestellte Urteil hat der Kläger am 22. November 2013 Berufung eingelegt, mit der er sein bisheriges Vorbringen weiter vertieft: Das begehrte Merkzeichen sei zur Gewährleistung seiner Mobilität erforderlich. Denn er sei so schwer geistig behindert, dass längere bzw. übliche innerstädtische Wege im öffentlichen Straßenland zum Erreichen eines Parkplatzes aufgrund der vorliegenden massiven Verhaltensauffälligkeiten mit aggressiven Durchbrüchen bei bestehender Orientierungslosigkeit und geistigem Unverständnis der Situation nicht mehr bewältigt werden könnten und das Zurücklegen derartiger Strecken sowohl für ihn als auch für andere Verkehrsteilnehmer und Passanten eine Gefahrensituation darstellten. Ein Rollstuhl werde zu seiner Sicherheit insbesondere auf privaten Reisen genutzt, weil er darin sitzen bleibe.

Der Senat hat Befundberichte der Kinder- und Jugendärztinnen Dr. E und Dr. M vom 19. September 2014 und 11. Dezember 2014 eingeholt. Dr. E hat u. a. auf bei dem Kläger bestehende Angstzustände sowie ein erhebliches Abwehrverhalten hingewiesen und hinsichtlich der Gehfähigkeit unter Bezugnahme auf ihren früheren Befundbericht vom 22. Juli 2011 ausgeführt: Der Kläger benötige eine ständige Begleitperson, damit sofortige Hilfe und Unterstützung in auftretenden Gefährdungssituationen geleistet werden könne. Der Kläger könne laufen, aber nicht zielgerichtet; er bleibe plötzlich stehen, setze sich auf den Boden und bewege sich nicht vorwärts. Manipulationen ohne sein Einverständnis seien nicht möglich. Dr. M hat u. a. ausgeführt: Wege müssten kurz gehalten werden, weil es bei dem Kläger aufgrund des bei ihm bestehenden Autismus bei unvorhergesehenen und überraschenden Situationen zu massiven Überreaktionen mit Selbst- und Fremdverletzung in Gestalt von Wegrenntendenzen sowie einem ausgeprägten Bock- und Verweigerungsverhalten komme. So lasse sich der Kläger auf den Boden stürzen und sei nicht mehr zu beruhigen. Begleitung und Hilfe seien stets notwendig.

Darüber hinaus hat der Senat das den Kläger betreffende Gutachten des MDK vom 1. November 2010 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit beigezogen, worin die Voraussetzungen für die Pflegestufe III weiterhin bejaht worden sind.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Senat den Vater des Klägers persönlich angehört.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 16. Oktober 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 20. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2011 zu verurteilen, zugunsten des Klägers für die Zeit ab dem 1. Oktober 2010 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des den Kläger betreffenden Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe:

Die Berufung ist zulässig, aber unbegründet. Das angefochtene Urteil ist zutreffend.

Die der Berufung zugrunde liegende Klage ist in Gestalt der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig, aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 20. Januar 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. März 2011 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ab dem 1. Oktober 2010 (Eingang des Antrags beim Beklagten).

Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 69 Abs. 4 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) (vgl. zum Merkzeichen "aG" die Urteile des Senats vom 24. April 2011 - L 11 SB 107/11 - und vom 14. August 2013 - L 11 SB 267/12 - beide bei juris). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen "Behindertenparkplätzen" und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen.

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Danach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen

- Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, so genannte Regelbeispiele, sowie - andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind, so genannte Gleichstellungsfälle.

Nach § 69 Abs. 4 i. V. m. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in der bis zum 14. Januar 2015 gültigen alten Fassung ist seit dem 21. Dezember 2007 zusätzlich auf die aufgrund des § 30 Abs. 17 (bis zum 30. Juni 2011 Abs. 16) des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassene Rechtsverordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV)) Bezug genommen, so dass seit dem 1. Januar 2009 die VersMedV vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412), zuletzt geändert durch die Fünfte Verordnung zur Änderung der VersMedV vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122), auch für das Verfahren der Feststellung der Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen heranzuziehen ist (so nun ausdrücklich BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R - juris). Sie bindet als Rechtsverordnung Verwaltung und Gerichte. Zwischenzeitlichen Bedenken an dieser Ermächtigung des Verordnungsgebers insbesondere zum Erlass von Vorgaben für die Beurteilung von Nachteilsausgleichen hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 7. Januar 2015 (BGBl. II Seite 15) Rechnung getragen und in § 70 Abs. 2 SGB IX eine eigenständige Ermächtigungsgrundlage geschaffen. Diese erlaubt es dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales seit dem 15. Januar 2015, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Für eine Übergangszeit bis zum Erlass einer neuen Rechtsverordnung verbleibt es insoweit bei der bisherigen Rechtslage (vgl. § 159 Abs. 7 SGB IX; hierzu BT-Drucks. 18/2953 und 18/3190, Seite 5).

Die Grundsätze für die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche werden in den "Versorgungsmedizinischen Grundsätzen" der Anlage zu § 2 VersMedV näher konkretisiert. Trotz der Bedenken an der Ermächtigung des Verordnungsgebers auf der Grundlage des § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX in seiner bis zum 20. Dezember 2007 geltenden Fassung (hierzu Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4) sind diese Konkretisierungen verbindlich, zumal die zum 1. Januar 2009 in Kraft getretene Anlage zu § 2 VersMedV ebenso wie die insoweit inhaltlich übereinstimmenden Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz antizipierte Sachverständigengutachten darstellen, die wegen ihrer normähnlichen Wirkungen wie untergesetzliche Normen anzuwenden sind (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R - juris). Im Übrigen übernimmt die Anlage zu § 2 VersMedV in Teil D Nr. 3 Buchstabe b) vollständig die Vorgaben der VwV-StVO zum Merkzeichen "aG" und verweist in Nr. 3 Buchstabe a) insoweit ausdrücklich auf das StVG, welches als Ermächtigungsgrundlage für die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" weiterhin bestehen bleibt. Zusätzlich ist in der Anlage zu § 2 VersMedV unter Teil D Nr. 3 Buchstabe c) folgende Ergänzung erfolgt:

"Die Annahme einer außergewöhnlichen Gehbehinderung darf nur auf eine Einschränkung der Gehfähigkeit und nicht auf Bewegungsbehinderungen anderer Art bezogen werden. Bei der Frage der Gleichstellung von behinderten Menschen mit Schäden an den unteren Gliedmaßen ist zu beachten, dass das Gehvermögen auf das Schwerste eingeschränkt sein muss und deshalb als Vergleichsmaßstab am ehesten das Gehvermögen eines Doppeloberschenkelamputierten heranzuziehen ist. Dies gilt auch, wenn Gehbehinderte einen Rollstuhl benutzen: Es genügt nicht, dass ein solcher verordnet wurde; die Betroffenen müssen vielmehr ständig auf den Rollstuhl angewiesen sein, weil sie sich sonst nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen können. Als Erkrankungen der inneren Organe, die eine solche Gleichstellung rechtfertigen, sind beispielsweise Herzschäden mit schweren Dekompensationserscheinungen oder Ruheinsuffizienz sowie Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades anzusehen."

Das BSG hat die Regelung über die Anerkennung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" ihrem Zweck entsprechend schon immer eng ausgelegt. Grundlage für die Einrichtung dieses Merkzeichens war und ist der Umstand, dass Parkraum für diejenigen Schwerbehinderten geschaffen werden sollte, denen es unzumutbar ist, längere Wege zurückzulegen (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 - 9 RVs 16/96 - juris). Das Merkzeichen "aG" soll die stark eingeschränkte Gehfähigkeit durch Verkürzung der Wege infolge der gewährten Parkerleichterungen ausgleichen. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (vgl. BSG, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 1/06 R - juris). Dies gilt erst recht, weil nach Abschnitt I Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO noch weitere umfangreiche Parkerleichterungen, wie etwa die Ausnahme vom eingeschränkten Haltverbot, gewährt werden und sich der Kreis der berechtigten Personengruppen über das Merkzeichen "aG" hinaus zunehmend auf andere Personengruppen erweitert.

Nach Maßgabe der genannten Rechtsgrundlagen und der zitierten Rechtsprechung liegen bei dem Kläger die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nicht vor. Er zählt nicht zum Kreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind. Er ist aber auch kein schwerbehinderter Mensch, der dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen ist.

Eine Gleichstellung setzt gemäß Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 2 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO voraus, dass der betroffene Schwerbehinderte sich nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen fortbewegen kann, wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO genannten Personen, in deren Person ein Regelbeispiel erfüllt ist. Das ist der Fall, wenn ihre Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen können.

Auch diese Voraussetzungen sind zu verneinen. Dass es hier um die Auswirkungen von geistigen Behinderungen und nicht um solche von körperlichen Behinderungen geht, steht der Gleichstellung entgegen der Auffassung des Klägers allerdings nicht entgegen. Denn wie das BSG bereits mehrfach entschieden hat, kommt es für die Gleichstellung auf die Art der Behinderung nicht an. Insoweit ist auch nicht die Vergleichbarkeit der Schwere der Leiden oder die allgemeine Vergleichbarkeit ihrer Auswirkungen maßgeblich. Allein entscheidend ist für die Gleichstellung vielmehr, dass die Auswirkungen der Leiden funktionell gleichzusetzen sind, was jedoch nur dann der Fall ist, wenn der Leidenszustand wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das Schwerste einschränkt. Dies folgt aus einem Vergleich mit den Regelbeispielen, die vornehmlich auf Schädigungen der unteren Extremitäten abstellen, die bewirken, dass Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen können (vgl. BSG, Urteile vom 8. Mai 1981 - 9 RVs 5/80 -, 6. November 1985 - 9a RVs 7/83 -, 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 - sowie 22. April 1998 - B 9 SB 7/97 R - alle juris). Diesen Entscheidungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an. Ergänzend weist er darauf hin, dass sich an dieser Rechtslage auch durch das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN Behindertenkonvention [UN BRK] vom 13. Dezember 2006; in Kraft getreten am 26. März 2009, Gesetz vom 21. Dezember 2008, BGBl. II Seite 1419; Bekanntmachung vom 5. Juni 2009, BGBl. II Seite 812) nichts geändert hat. Die UN BRK kann allerdings als Auslegungshilfe orientierend herangezogen werden. Ebenso wie bereits das Verfassungsrecht sowie der umfassende - auf alle körperlichen, geistigen und seelischen Beeinträchtigungen - bezogene Behindertenbegriff im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX zwingt sie indes (nur) dazu, die individuelle Beeinträchtigung des behinderten Menschen an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu berücksichtigen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/14 R - juris).

Dies zugrunde gelegt, kann ein so genannter Gleichstellungsfall hier nicht bejaht werden. Der Kläger leidet zwar unter erheblichen Behinderungen, die der Beklagte in behindertenrechtlicher Hinsicht zutreffend als schwergradige Entwicklungsstörung mit Teilleistungsschwächen sowie Anfallsleiden mit mittlerer Anfallshäufigkeit bezeichnet und zusammen mit einer überdies bestehenden Harninkontinenz zutreffend mit einem Gesamt-GdB von 100 bewertet hat, weil sie den Kläger an der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auf das Schwerste beschränken. Sie schränken jedoch in funktioneller Hinsicht die Fortbewegung des Klägers beim Gehen nicht auf das Schwerste ein. Denn wie sich bereits den in erster und zweiter Instanz eingeholten Befundberichten der behandelnden Ärztinnen des Klägers Dr. Mund Dr. E, der Epikrise des Epilepsie-Zentrums B vom 14. Juni 2010 sowie dem Gutachten des MDK vom 1. November 2010 zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit entnehmen lässt, wird der Leidenszustand des Klägers letztlich durch die schwere autistische Verhaltensstörung geprägt. Das Anfallsleiden hat sich gebessert und bedingt neben mehrfach in der Woche auftretenden Absencen und automotorischen Anfällen "nur noch" ein- bis zweimal im Monat zu beobachtende fokal-motorische Anfälle. Der Kläger, der weiterhin eine Behindertenschule besucht, kann laufen, was auch sein Vater im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat ausdrücklich bestätigt hat. Nach seinen anschaulichen und in keiner Weise in Zweifel zu ziehenden Schilderungen, die sich mit den vorliegenden ärztlichen Berichten decken, bestehen die im Zusammenhang mit der Fortbewegung des Klägers geklagten Beeinträchtigungen im Wesentlichen darin, dass der Kläger nicht zielgerichtet laufen kann. Er bleibt plötzlich stehen, setzt sich auf den Boden oder lässt sich spontan auf den Boden fallen und bewegt sich weder von selbst vorwärts noch kann er dazu angehalten werden. Wie bereits das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, sind diese Verhaltensweisen jedoch nicht geeignet, das Merkzeichen "aG" zu begründen. Zweck dieses Merkzeichens ist es nämlich, die neben der Kraftfahrzeugbenutzung unausweichliche Wegstrecke für die schwerbehinderten Personen abzukürzen, die sich nur mit außergewöhnlicher und großer Anstrengung zu Fuß fortbewegen können. Dieser Zweck lässt sich jedoch im Fall des Klägers nicht erreichen. Denn die bei ihm vorliegenden Beeinträchtigungen führen im vorstehenden Zusammenhang lediglich dazu, dass er ständig, d.h. auch auf einem gegebenenfalls verkürzten Weg, überwacht und geleitet werden müsste. Das begehrte Merkzeichen würde mithin in seinem Fall letztlich nur dazu dienen, der ohne jeden Zweifel erforderlichen Begleitperson, deren Einsatz der Beklagte mit der Zuerkennung der hierfür vorgesehenen Merkzeichen "B" und "H" sichergestellt hat, ihre Aufgabe zu erleichtern. Denn sie müsste den Kläger dann "nur noch" auf einem verkürzten Weg überwachen und leiten (vgl. hierzu BSG, Urteile vom 6. November 1985 - 9 a RVs 7/83 - (zu einem mongoloiden und taubstummen Kläger, der nicht lesen und schreiben kann und an Bewegungseinschränkungen beider Hände leidet), vom 29. Januar 1992 - 9 a RVs 4/90 - (zu einer Klägerin mit einem hirnorganischen Anfallsleiden), vom 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 - (zu einem Kläger mit einem cerebralen Anfallsleiden und einer psychomotorischen Retardierung mit Verhaltensstörung) sowie vom 22. April 1998 - B 9 SB 7/97 R - (zu einem an Mongolismus leidenden Kläger), in denen die Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" nach Maßgabe der auch hier vorangestellten Kriterien jeweils verneint worden sind).

Soweit das BSG in den beiden zuletzt angeführten Urteilen vom 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 - und vom 22. April 1998 - B 9 SB 7/97 R - eine andere Sichtweise ausnahmsweise dann für möglich erachtet hat, wenn sich feststellen lässt, dass eine ständig aufsichtsbedürftige schwerbehinderte Person im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden kann, liegen die Voraussetzungen für eine abweichende Beurteilung im vorliegenden Fall ebenfalls nicht vor. Denn ein solcher Zustand ist nach den genannten Urteilen des BSG noch nicht erreicht, wenn ein Behinderter wegen der bestehenden Beeinträchtigungen ständig der Führung durch eine Begleitperson bedarf. Hinzukommen muss vielmehr eine so starke Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde. Dies lässt sich hier indes nach den Umständen des Einzelfalls nicht feststellen. Denn wie insbesondere die Ausführungen des Vaters des Klägers im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat zeigen, ist für den Kläger ein Rollstuhl bislang weder verordnet noch überhaupt beantragt worden. Ein solcher wird im Haushalt auch nicht genutzt. Lediglich auf Reisen, insbesondere Flugreisen, wird ein Rollstuhl verwendet, wie er z.B. auf Flughäfen von den Fluggesellschaften zur Verfügung gestellt wird.

Dass der Verzicht auf den regelmäßigen Einsatz eines Rollstuhls im innerstädtischen Fußgängerverkehr gegenüber dem Kläger oder Dritten verantwortungslos sein könnte, ist nicht ersichtlich. Denn abgesehen davon, dass in den vorliegenden ärztlichen Unterlagen zwar gravierende Verhaltensauffälligkeiten des Klägers mit aggressiven Durchbrüchen beschrieben werden, in diesen Unterlagen von einer "Rollstuhlpflicht" zur Vermeidung von Gefahren für den Kläger oder Dritte jedoch keine Rede ist, belegen vor allem die Ausführungen des Vaters des Klägers vor dem Senat, dass die regelmäßige Nutzung eines Rollstuhls im Sinne der oben wiedergegebenen Kriterien nicht erforderlich ist. So hat der Vater des Klägers zwar dargelegt, dass es in R zweimal zu besonderen Gefahrensituationen gekommen sei. Einmal habe der Kläger bei einem Autounfall, bei dem sich das Auto mit ihm als Insasse überschlagen habe, nicht aussteigen wollen; das andere Mal habe sich der Kläger mitten auf die Fahrbahn gesetzt, so dass sich sein Vater winkend habe vor ihn stellen müssen. Im Übrigen hat der Vater des Klägers aber ausgeführt, dass auf die Nutzung eines Rollstuhls verzichtet werde, um die Mobilität des Klägers weitestgehend zu erhalten, was mit den behandelnden Ärzten und Psychologen abgestimmt worden sei. Das Laufen werde deshalb z.B. in der vom Kläger besuchten Behindertenschule trainiert, die der Kläger mit einem speziellen Fahrdienst erreiche. An etwa drei Tagen in der Woche werde der Kläger von einem Einzelfallhelfer nachmittags mit öffentlichen Verkehrsmitteln aus der Schule nach Hause gebracht. Dieses Prozedere erscheint dem Senat nur vor dem Hintergrund denkbar, dass sich die damit verbundenen Gefahren nicht so auswirken, wie das BSG dies für die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" verlangt. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass das "Lauftraining" nach den Angaben des Vaters des Klägers sogar Bestandteil der Schulausbildung ist, deren nähere Ausgestaltung vor allem außerhalb seiner Familie stehenden Personen obliegt. Damit ist für die Zuerkennung des begehrten Merkzeichens in seinem Fall kein Raum.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und folgt der Entscheidung des Rechtsstreits in der Sache selbst.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.