Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 131/12 - Urteil vom 16.01.2014
Nach B 3.7 der Versorgungsmedizinverordnung sind schwere psychische Störungen, z. B. eine schwere Zwangskrankheit, mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Wert von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Wert von 80 bis 100 zu bewerten. Zur Abgrenzung greift das LSG zurück auf den Auszug aus der Niederschrift über die Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. bis 19. März 1998, dort Punkt 1.2. Hiernach sind mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten dann gegeben, wenn in den meisten Berufen sich auswirkende psychische Veränderungen vorliegen, die zwar weitere Tätigkeiten grundsätzlich noch erlauben, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingen, die auch eine berufliche Gefährdung einschließen. Kennzeichen sind erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Hingegen liegen schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten dann vor, wenn beispielsweise eine weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist oder wenn schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- bzw. Bekanntenkreis, bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis, krankheitsbedingt gegeben sind.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) auf den Wert von 80; zuvor waren ein höherer GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche G und B im Streit.
Die Klägerin leidet an einer paranoiden Psychose. Zuletzt vor dem jetzigen Rechtsstreit hatte der Beklagte mit Bescheid vom 10. Januar 2007 einen Grad der Behinderung von 70 festgestellt, die Zuerkennung von Nachteilsausgleichen jedoch abgelehnt.
Am 10. Dezember 2007 beantragte die Klägerin die Neufeststellung ihres GdB und die Zuerkennung der Nachteilsausgleiche G und B. Mit Bescheid vom 17. Juli 2008 und Widerspruchsbescheid vom 17. Juni 2009 lehnte der Beklagte dies ab.
Im anschließenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin hat das Sozialgericht zunächst einen Befundbericht des behandelnden Arztes eingeholt. Aufgrund richterlicher Beweisanordnung hat der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H am 17. Oktober 2011 ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin hat er festgestellt, bei der Klägerin bestehe eine paranoid-halluzinatorische Schizophrenie. Dieses Leiden wirke sich nicht auf das eigentliche Gehvermögen aus, eine organisch bedingte Gehbehinderung existiere nicht. Aufgrund der geschilderten Behinderung benötige die Klägerin bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel Begleitung. Dies solle eigen- oder fremdgefährdende Fehlhaltungen infolge psychotischer Ängste oder anderweitiger psychotischer Phänomene vermeiden. Der Grad der Behinderung sei zutreffend bemessen.
Mit Urteil vom 11. Juni 2012 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der GdB für das psychische Leiden sei mit 70 zutreffend bemessen. Die chronische Schizophrenie sei als schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten zu bewerten. Die Voraussetzungen des Merkzeichens G seien nicht erfüllt, denn die in der Versorgungsmedizin-Verordnung genannten einzelnen Voraussetzungen seien nicht gegeben. Die Zuerkennung des Merkzeichens B scheitere bereits daran, dass nicht das Merkzeichen G vorliege.
Gegen dieses Urteil hat die Klägerin fristgemäß Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2014 hat sie ihr Begehren auf die Feststellung eines GdB von 80 beschränkt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Juni 2012 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Juli 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juni 2009 zu verpflichten, mit Wirkung vom 21. Juni 2010 einen GdB von 80 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts hat der Senat ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt, dass der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. C 18. Februar 2013 erstattet hat. Darin ist zu der Einschätzung gelangt, der GdB aufgrund des psychischen Leidens sei mit 80 zu bemessen, es dürfe im Verfahren zu einer Verschlimmerung gekommen sein. Insbesondere gelte dies für die Zeit ab Einrichtung der gesetzlichen Betreuung ab dem Jahre 2010. Störungen der Orientierungsfähigkeit im engeren Sinne lägen nicht vor, es sei aber möglich, dass durch Konzentrationsmängel eine Situation entstehe, in der die Klägerin nicht mehr genau wisse, wo sie sich befinde. Gelegentlich verlasse die Klägerin wohl das Haus auch alleine, regelmäßiger wohl in Begleitung. Es lasse sich nicht ohne weiteres schließen, dass die Klägerin nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurücklegen könne. Dies gelte für selbstbestimmte Wegstrecken. Problematischer werde es, wenn die Klägerin zu Behörden gehen müsse oder mit relativ vollen öffentlichen Verkehrsmitteln fahren müsse. Dies stelle eine erhöhte Stresssituation dar, so dass in diesen Fällen eine höhere Wahrscheinlichkeit bestehe, dass die Klägerin - alleingelassen - unter dem Einfluss von Stimmen oder paranoiden Gedankengängen gerate und es dann zu Fehlhandlungen komme. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei die Klägerin infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen, da sie unter Menschenmengen schnell in paranoides Erleben gerate und es dann zu Fehlhaltungen kommen könne. Dies sei allerdings wohl erst in den letzten zwei bis drei Jahren, also etwa seit Einrichtung der gesetzlichen Betreuung, gegeben.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die Klägerin betreffend, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist im jetzt noch aufrecht erhaltenen Umfang auch in der Sache erfolgreich.
Die angefochtenen Entscheidungen des Sozialgerichts und des Beklagten waren zu ändern, denn der Klägerin steht jedenfalls ab dem 21. Juni 2010 ein Grad der Behinderung von 80 zu. Nach B3.7 der Versorgungsmedizinverordnung (VersmedV) sind schwere psychische Störungen, z. B. eine schwere Zwangskrankheit, mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Wert von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Wert von 80 bis 100 zu bewerten. Die Klägerin leidet, was zwischen den Beteiligten auch nicht im Streit ist, an solchen schweren Störungen; zwischen den Beteiligten ist allein streitig, ob diese zu mittelgradigen oder bereits zu schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten führen. Hierbei greift der Senat zurück auf den Auszug aus der Niederschrift über die Tagung der Sektion Versorgungsmedizin des Ärztlichen Sachverständigenbeirats beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung vom 18. bis 19. März 1998, dort Punkt 1.2. Hiernach sind mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten dann gegeben, wenn in den meisten Berufen sich auswirkende psychische Veränderungen vorliegen, die zwar weitere Tätigkeiten grundsätzlich noch erlauben, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingen, die auch eine berufliche Gefährdung einschließen. Kennzeichen sind erhebliche familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte.
Hingegen liegen schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten dann vor, wenn beispielsweise eine weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist oder wenn schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- bzw. Bekanntenkreis, bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis, krankheitsbedingt gegeben sind.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass im Falle der Klägerin bereits hiernach schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten (unterer Bewertungsbereich) gegeben sind, die nach B3.7 VersmedV mit einem GdB von 80 zu belegen sind. Wie insbesondere auch der Sachverständige Dr. C überzeugend herausgearbeitet hat, ist eine berufliche Tätigkeit der Klägerin schon deswegen ausgeschlossen, weil sie sich selbständig in einem sozialen Umfeld mit anderen Menschen nicht mehr bewegen kann. Vielmehr besteht gerade im Umfeld von Menschengruppen die große Gefahr, dass die Klägerin sich in unkontrollierte Reaktionen hineinsteigert. Schon aus diesem Grunde ist es erforderlich, dass sie etwa bei Behördengängen oder bei Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht allein gelassen werden sollte. Dies zeigt aber auch, dass die vom Sachverständigen herausgearbeitete, in der Vergangenheit verstärkte Erkrankung der Klägerin nunmehr jedenfalls auch den Bereich der sozialen Anpassungsschwierigkeiten erreicht hat. Dies ist jedenfalls nachgewiesen ab dem 21. Juni 2010, weil ab diesem Zeitpunkt die vorher festgestellten vorübergehenden Phasen von relativer Anfallfreiheit weggefallen sind und sich die Klägerin ab dieser Zeit durchgängig in einer Phase der schweren Störung mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten befindet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Maß des wechselseitigen Unterliegens.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht ersichtlich sind.