Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 140/13 - Urteil vom 16.04.2015
Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise aufgehoben wird, ist nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden könnte. Bei einem Entziehungsbescheid, der eine günstige Feststellung in einem Dauerverwaltungsakt ändert, handelt es sich seinerseits nämlich nicht um einen Dauerverwaltungsakt. Seine Wirkung beschränkt sich darauf, den aufzuhebenden Dauerverwaltungsakt zum Zeitpunkt der von der Behörde intendierten Wirksamkeit ganz oder teilweise aufzuheben. Für nachfolgende Zeiträume enthält er hingegen keinerlei Feststellung. Maßgeblich ist insoweit einzig der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in der Fassung, die er durch den Entziehungsbescheid erhalten hat. Diese zeitlich punktuelle Wirkung eines Aufhebungsbescheides führt dazu, dass eine erst später eintretende Wirkung der intendierten Entziehung - anders eine geringer ausfallende Entziehung der Begünstigung - nicht ein Minus gegenüber der ursprünglichen Regelung ist, sondern ein Aliud.
Tatbestand:
Der Kläger wehrt sich gegen die Herabsetzung des bei ihm festgestellten Grades der Behinderung (GdB).
Bei dem 1948 geborenen Kläger wurde nach der Feststellung von Prostata-Krebs mit anschließender OP durch den Beklagten mit Bescheid vom 20. November 2003 ein GdB von 50 festgestellt, dem der Beklagte folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:
• Erkrankung der Prostata in Heilungsbewährung, • Verlust der Prostata, • Harninsuffizienz sowie • Funktionsstörung durch Fußfehlform.
Mit Neufeststellungsantrag vom 14. Januar 2008 machte der Kläger geltend, an Schmerzen im Unterleib, dem Gesäß und Enddarm zu leiden, ferner habe er starke Depressionen, massive Schlafstörungen und Unterbauchschmerzen. Außerdem habe er Diabetes mellitus Typ II. Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen bewertete der Beklagte beim Kläger vorliegende psychische Störungen (Neurosen) mit einem Einzel-GdB von 20, die Harninkontinenz mit einem Einzel-GdB von 10, die Funktionsstörung durch Fußfehlform mit einem Einzel-GdB von 10 sowie den Diabetes mellitus mit einem Einzel-GdB von 10 und schließlich Verwachsungsbeschwerden nach Bauchoperation ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 10. Hierdurch gelangte er zu einem Gesamt-GdB von 20 und hörte den Kläger zu einer beabsichtigten Absenkung des GdB an. Mit Bescheid vom 19. November 2008 setzte der Beklagte den GdB mit Wirkung vom 19. November 2008 auf 20 herab.
Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, der GdB sei mit 60 zu bemessen, da bei ihm die Prostata entfernt worden sei und er noch Nachwirkungen und Nebenwirkungen verspüre. Schmerzen beeinträchtigten ihn in seiner Berufsausübung, außerdem habe er Eheprobleme und leide an Schlafstörungen. Daraufhin half der Beklagte dem Widerspruch zum Teil ab und stellte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2009 nunmehr mit Wirkung vom 19. November 2008 einen Gesamt-GdB von 30 fest.
Mit der am 3. Juni 2009 erhobenen Klage hat der Kläger von seinem Begehren auf Zuerkennung eines GdB von 60 Abstand genommen und begehrt die Aufrechterhaltung des GdB von 50. In der mündlichen Verhandlung hat das Sozialgericht den Beklagten auf die von ihm verfügte Wirksamkeit der Teilaufhebung vor Bekanntgabe des Aufhebungsbescheides hingewiesen, worauf der Beklagte ein von ihm sogenanntes "Teilanerkenntnis" abgegeben hat, wonach die Absenkung des GdB auf 30 erst ab dem 23. November 2008 wirksam werde. Dieses sogenannte "Teilanerkenntnis" hat der Kläger angenommen und weiterhin begehrt, den Bescheid des Beklagten vom 19. November 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2009 in Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 26. April 2013 aufzuheben. Das Sozialgericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte beigezogen und Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin und Psychologie B, der nach Untersuchung des Klägers am 3. November 2012 zu der Einschätzung gelangt ist, beim Kläger sei ein GdB von 40 festzustellen.
Mit Urteil vom 26. April 2013 hat das Sozialgericht Potsdam den Bescheid des Beklagten vom 19. November 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2009 in Gestalt des Teilanerkenntnisses vom 26. April 2013 insoweit aufgehoben, als dadurch ein geringerer Grad der Behinderung als 40 festgestellt werde. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und dem Beklagten die Erstattung der Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers auferlegt.
Mit der hiergegen gerichteten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter und beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 26. April 2013 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 19. November 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2009 in der Fassung des Bescheides vom 10. Juni 2013 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist auch begründet. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage für einen Absenkungsbescheid ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch / Zehntes Buch (SGB X). Danach ist der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Im hier zu entscheidenden Fall handelt es sich bei dem Verwaltungsakt mit Dauerwirkung um den Verwaltungsakt vom 20. November 2003. Ob im Sinne der genannten Vorschrift in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass dieses Verwaltungsakts vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, kann indes dahinstehen, denn der angefochtene Verwaltungsakt vom 19. November 2008 überschreitet hinsichtlich der darin angeordneten Rechtsfolge den Rahmen der Ermächtigungsgrundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Entgegen der Ermächtigungsnorm hat der angefochtene Verwaltungsakt vom 19. November 2008 den Dauerverwaltungsakt vom 20. November 2003 nicht mit Wirkung für die Zukunft aufgehoben, sondern mit Wirkung für die Vergangenheit. Nach dem Verfügungsteil des Bescheides vom 19. November 2008 sollte die Aufhebungswirkung ab demselben Tag eintreten. Gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB X wird ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird, in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. Mithin konnte die Wirkung des angefochtenen Verwaltungsakts vom 19. November 2008 gegenüber dem Kläger erst ab der Bekanntgabe im Sinne des § 37 SGB X eintreten und nicht bereits am Tag der Erstellung des Absenkungsbescheides. Tatsächlich handelte es sich damit um eine Aufhebung mit Wirkung bereits für die Vergangenheit und nicht um eine Aufhebung mit Wirkung für die Zukunft.
Die Rechtswidrigkeit führt auch zur vollständigen Aufhebung des angefochtenen Bescheides. Insbesondere kommt eine Aufhebung nur für die Zeit vor Bekanntgabe des Bescheides nicht in Betracht, da eine Teilbarkeit des Bescheides in zeitlicher Hinsicht nicht gegeben ist. Ein Bescheid, mit dem eine begünstigende Feststellung im Schwerbehindertenverfahren ganz oder teilweise aufgehoben wird, ist nicht derart in zeitlicher Hinsicht teilbar, dass einer rechtswidrig früh einsetzenden Wirkung durch Aufhebung des Bescheides nur für einen Teilzeitraum Rechnung getragen und der Bescheid im Übrigen aufrechterhalten werden könnte (a.A. wohl 11. Senats des LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10). Bei einem Entziehungsbescheid, der eine günstige Feststellung in einem Dauerverwaltungsakt ändert, handelt es sich seinerseits nämlich nicht um einen Dauerverwaltungsakt (so auch LSG Hamburg, Urteil vom 24. Juni 2014, L 3 SB 23/12, juris). Seine Wirkung beschränkt sich darauf, den aufzuhebenden Dauerverwaltungsakt zum Zeitpunkt der von der Behörde intendierten Wirksamkeit ganz oder teilweise aufzuheben. Für nachfolgende Zeiträume enthält er hingegen keinerlei Feststellung. Maßgeblich ist insoweit einzig der ursprüngliche Dauerverwaltungsakt in der Fassung, die er durch den Entziehungsbescheid erhalten hat. Diese zeitlich punktuelle Wirkung eines Aufhebungsbescheides führt dazu, dass eine erst später eintretende Wirkung der intendierten Entziehung - anders eine geringer ausfallende Entziehung der Begünstigung - nicht ein Minus gegenüber der ursprünglichen Regelung ist, sondern ein Aliud.
Die Rechtswidrigkeit ist auch nicht etwa durch das sog. "Teilanerkenntnis" und den darauf beruhenden Bescheid vom 10. Juni 2013, mit dem der Beklagte die Absenkung des GdB nunmehr auf die Zeit ab dem 23. November 2008 beschränken wollte, im Sinne einer Heilung beseitigt worden. Die durch den Beklagten verfolgte Absicht konnte nicht gelingen, da der Bescheid vom 19. November 2008 wie o.a. kein Dauerverwaltungsakt und somit auch nicht in zeitlicher Hinsicht teilbar war. Mithin stellt sich der Bescheid vom 10. Juni 2013 nicht als Teilaufhebung des Bescheides vom 19. November 2008 dar, sondern als dessen vollständige Aufhebung, mit der zugleich die erneute Aufhebung des Bescheides vom 20. November 2003 verbunden war, deren Wirkung nunmehr ab dem 23. November 2008 eintreten sollte. Auch dies überschreitet die nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässige Rechtsfolge, da erneut eine unzulässige Wirkung für die Vergangenheit ausgesprochen wurde.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt das Ausmaß des Obsiegens in der jeweiligen Instanz.
Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht gegeben.