Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 13 SB 32/11 - Urteil vom 19.05.2011
Nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Für eine wirksame Betreibensaufforderung i.S. dieser Vorschrift genügt es nicht, dass das Sozialgericht den Kläger schlicht auffordert, die Klage zu begründen. Voraussetzung ist vielmehr, dass das Sozialgericht dargelegt, welche konkreten Mitwirkungshandlungen des Klägers erforderlich sind, um den Rechtsstreit entscheiden zu können, und zur entsprechenden Mitwirkungshandlung auffordert.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 70 sowie die Feststellung des Bestehens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung). Mit der Berufung wendet er sich gegen die Feststellung der Erledigung des Verfahrens durch eine fiktive Klagerücknahme.
Mit bestandskräftigem Bescheid vom 27. Dezember 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2001 stellte der Beklagte einen GdB von 20 auf Grund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:
- coronare Herzkrankheit, abgelaufener Herzinfarkt, PTCA und
Stentimplantation (Einzel-GdB 20)
- chronische Magenschleimhautentzündung, Neigung zu Zwölffingerdarmgeschwüren
(Einzel-GdB 20).
Auf den Antrag des Klägers vom 3. Februar 2009 bzgl. der Neubewertung des GdB und der Erteilung von Merkzeichen nebst Ergänzung vom 10. Juni 2009, mit dem der Kläger die Erteilung insbesondere des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) begehrte, stellte der Beklagte nach Beiziehung eines Befundberichtes des Arztes für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. T vom 24. Juli 2009 der gutachtlichen Stellungnahme des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. K vom 27. August 2009 folgend mit Bescheid vom 3. September 2009 einen Gesamt-GdB von 50 fest, dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zu Grunde liegen:
- abgelaufener Herzinfarkt, Herzmuskelerkrankung, coronare Herzkrankheit
(Durchblutungsstörungen des Herzens), Herzrhythmusstörungen, Coronardilatation/Stent,
Kardioverter Defibrillator, Feststoffwechselstörung (Einzel-GdB 50)
- chronische Magenschleimhautentzündung, Zwölffingerdarmgeschwürsleiden (Einzel-GdB
20)
- Funktionsbehinderungen des Schultergelenkes links (Einzel-GdB 10).
Gleichzeitig stellte der Beklagte fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Eintragung des Merkzeichens "G" nicht vorlägen und auch weitere gesundheitliche Merkmale nicht festgestellt werden könnten. Den hiergegen am 22. September 2009 erhobenen, in der Sache trotz zweifacher Aufforderung des Beklagten nicht begründeten Widerspruch wies dieser mit Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 2009 zurück.
Der Kläger hat am 29. Januar 2010 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der er die Feststellung eines Gesamt-GdB von mindestens 70 sowie die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "aG" begehrt hat.
Mit richterlicher Verfügung vom 23. Februar 2010 hat das Sozialgericht dem Prozessbevollmächtigten des Klägers Akteneinsicht gewährt und diesen aufgefordert, die angekündigte Klagebegründung binnen eines Monats nach Akteneinsichtnahme zu begründen. Mit richterlicher Verfügung vom 26. April 2010 hat das Sozialgericht an die Übersendung der Klagebegründung binnen Monatsfrist erinnert. Mit weiterer richterlicher Verfügung vom 9. Juni 2010, die dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 21. Juni 2010 zugestellt worden ist, hat das Sozialgericht diesen aufgefordert, das Verfahren zu betreiben und die in Aussicht gestellte Klagebegründung einzureichen. Gleichzeitig hat es in der Verfügung darauf hingewiesen, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als zurückgenommen gelte, wenn der Kläger das Verfahren trotz der Aufforderung des Gerichtes länger als drei Monate nicht betreibe. Daraufhin hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom 22. Juni 2010 mitgeteilt, dass mit der Aufforderung nach § 102 Abs. 2 SGG eine Klagebegründung nicht erzwungen werden könne, andernfalls die Klage als zurückgenommen gelte, ohne dass dem Kläger konkret aufgegeben werde, was er zu betreiben habe. Auf die richterliche Verfügung vom 24. September 2010 ist das Verfahren als erledigt ausgetragen worden und dem Prozessbevollmächtigten des Klägers mit gerichtlicher Verfügung vom 5. Oktober 2010 mitgeteilt worden, dass die Klage gemäß § 102 SGG als zurückgenommen gelte.
Auf den am 16. November 2010 gestellten Antrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers auf Fortsetzung des Verfahrens hat das Sozialgericht Berlin nach Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 31. Januar 2011 festgestellt, dass die am 29. Januar 2010 erhobene Klage zurückgenommen sei. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Klage nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, weil der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nach der Betreibensaufforderung vom 9. Juni 2010 nicht betrieben habe. Die Betreibensaufforderung sei zu Recht ergangen, da im Zeitpunkt ihrer Aufforderung begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestanden hätten. Denn der Kläger habe trotz Ankündigungen und Erinnerungen des Gerichts die Klage nicht begründet. Trotz gerichtlicher Aufforderung vom 9. Juni 2010 habe sich der Kläger nicht innerhalb der 3-Monatsfrist inhaltlich eingelassen, sondern lediglich mitgeteilt, dass er zur Klagebegründung nicht gezwungen werden könne. Er habe damit zum Ausdruck gebracht, dass ein Rechtsschutzinteresse nicht mehr bestehe.
Gegen den am 4. Februar 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 15. Februar 2011 Berufung eingelegt, mit der der sein Begehren in der Sache weiter verfolgt.
Zur Begründung führte er aus, dass das Verfahren nicht auf Grund fiktiver Klagerücknahme seine Beendigung gefunden hätte. Die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 SGG lägen nicht vor. Das gerichtliche Schreiben vom 9. Juni 2010 genüge nicht den Anforderungen, die an eine Betreibensaufforderung zu stellen sei, weil dem Kläger keine notwendige konkrete verfahrensfördernde Handlung benannt worden sei. Es genüge insoweit nicht, dass das Sozialgericht den Kläger auffordere, die Klage zu begründen.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2011 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht zurückzuverweisen,
hilfsweise,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 31. Januar 2011 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 3. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Dezember 2009 zu verurteilen, einen Grad der Behinderung von mindestens 70 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens "aG" ab dem 3. Februar 2009 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe:
Die zulässige Berufung ist im Sinne der Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Sozialgericht begründet.
Gemäß §§ 159 Abs. 1 Nr. 1, 105 Abs. 1 Satz 3 SGG kann das Landessozialgericht als Berufungsinstanz durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn dieses (zu Unrecht) die Klage abgewiesen hat, ohne in der Sache zu entscheiden. Eine solche Konstellation ist vorliegend gegeben. Zu Unrecht hat das Sozialgericht festgestellt, dass das Klageverfahren durch Fiktion der Rücknahme der Klage beendet sei und daher weitere Feststellungen in der Sache nicht getroffen. Denn entgegen der Auffassung des Sozialgerichts liegen die Voraussetzungen für eine fiktive Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht vor und hat es zu Unrecht festgestellt, dass die Klage als zurückgenommen gelte, mithin das Verfahren seine Erledigung gefunden habe.
Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Nach Satz 3 der Vorschrift ist der Kläger in der Aufforderung unter anderem auf die sich nach Satz 1 ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 2 SGG erledigt die (fiktive) Klagerücknahme den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Die Voraussetzungen, die danach an eine wirksame Betreibensaufforderung zu stellen sind, um das Verfahren nach Fristablauf wegen Nichtbetreibens als erledigt betrachten zu können, liegen entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht vor. Zwar dürfte mit dem Sozialgericht das im Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung mit richterlicher Verfügung vom 9. Juni 2010 vom Bundesverfassungsgericht für eine Klagerücknahmefiktion geforderte umgeschriebene Tatbestandsmerkmal als erfüllt angesehen gewesen sein, dass nach dem prozessualen Verhalten des Klägers hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl. Bundesverfassungsgericht - BVerfG -, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl. 1999, 166, 168; sowie hierzu Urteile des Bundessozialgerichts - BSG - vom 1. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R und 74/09 R -). Denn bei Erlass vorgenannter Betreibensaufforderung waren die Gründe, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung des angefochtenen Bescheides vom 3. September 2009 begehrte mangels dessen Mitwirkung für das Sozialgericht nicht ersichtlich. Trotz mehrfacher Aufforderung war nämlich die Klage nach ihrer Einlegung im Januar 2010 nicht begründet worden ebenso wenig wie der Widerspruch gegen den Bescheid selbst.
Indes sind die Voraussetzungen für eine wirksame Betreibensaufforderung im Sinne des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG vorliegend gleichwohl nicht gegeben. Insoweit genügt es nämlich nicht, dass das Sozialgericht den Kläger schlicht auffordert, wie vorliegend, die Klage zu begründen. Denn eine Begründungspflicht ergibt sich aus § 92 Abs. 1 Satz 4 SGG ("sollen") nicht. Vielmehr ist nur das Unterlassen solcher prozessualen Mitwirkungshandlungen erheblich, die für die Feststellung von entscheidungserheblicher Tatsachen bedeutsam sind, die also für das Gericht - nach seiner Rechtsansicht - notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 - B 13 R 74/09 R - m. w. N.). Diesen Anforderungen genügt die Betreibensaufforderung vom 9. Juni 2010 nicht. Das Sozialgericht hat insoweit nicht dargelegt, welche konkreten Mitwirkungshandlungen des Klägers erforderlich sind, um den Rechtsstreit entscheiden zu können.
Überdies scheidet eine Verfahrenseinstellung wegen Nichtbetreibens aus, weil sich der Kläger vor Ablauf der dreimonatigen Betreibensaufforderungsfrist mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 22. Juni 2010 an das Gericht gewandt und hiermit unter Hinweis darauf, dass ihm konkrete Mitwirkungshandlungen aufgegeben werden mögen, jedenfalls zum Ausdruck gebracht hat, dass sein Sachbescheidungsinteresse nicht entfallen ist, vielmehr ein Interesse an der Weiterverfolgung seines Klagebegehrens besteht.
Liegen mithin die Voraussetzungen für eine wirksame Verfahrenseinstellung aufgrund einer Erledigung des Rechtsstreites infolge fiktiver Klagerücknahme gemäß § 102 Abs. 2 SGG nicht vor, ist die Klage zu Unrecht durch das Sozialgericht abgewiesen worden, ohne dass es in der Sache selbst entschieden hätte.
Im Rahmen des dem Senat gemäß § 159 Abs. 1 SGG zustehenden Ermessen macht er von seinem Recht Gebrauch, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen. Denn abgesehen davon, dass die Beteiligten keine Einwände gegen eine Zurückverweisung erhoben haben, haben deren Interessen an einer zügigen Sachentscheidung unter Verlust einer Instanz hinter denen am Erhalt von zwei Instanzen zurückzutreten. Das Verfahren ist erst kurz bei dem Berufungsgericht anhängig und sollte daher zunächst durch das Sozialgericht einer Entscheidung in der Sache zugeführt werden.
Bei seiner erneuten Entscheidung wird das Sozialgericht die Rechtsauffassung des Senats zur Fehlerhaftigkeit der Betreibensaufforderung vom 9. Juni 2010 und einer daraus resultierenden vermeintlichen Erledigung des Rechtsstreits zugrunde zu legen haben und im Rahmen seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten des Berufungsverfahrens zu entscheiden haben.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.