Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens "G" (erhebliche Gehbehinderung).

Für die 1962 geborene Klägerin wurde im Jahre 2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 20 festgestellt. Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 15. März 2007 nebst Beantragung der Zuerkennung der Merkzeichen "G" und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) ließ der Beklagte die Klägerin nach Einholung von Befundberichten und einer versorgungsärztliche Stellungnahme am 23. August 2007 durch den Sozialmediziner begutachten, der im Gutachten vom 29. August 2007 keinen GdB im Stütz- und Halteapparat feststellte, jedoch eine psychiatrische Untersuchung empfahl. Dem folgend wurde die Klägerin am 14. November 2007 durch die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie begutachtet, die im Gutachten, datierend vom 14. August 2007, bei Verneinung der Merkzeichen "G" und "RF" einen Gesamt-GdB von 40 feststellte und dem folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) psychische Störungen, außergewöhnliche Schmerzreaktion, psychosomatische Störungen (40), 
b) Restless-legs-Syndrom (10), 
c) Asthma bronchiale (10).

Mit Bescheid vom 20. Dezember 2007 stellte der Beklagte unter Zuerkennung des Merkzeichens "G" einen GdB von 70 fest. Dem wurden aufgrund einer versehentlichen Berücksichtigung von ärztlichen Unterlagen aus einem anderen Verfahren folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) Plasmozytom (60), 
b) depressives Syndrom (20), 
c) Bandscheibenschäden im Lendenwirbelsäulenbereich (10), 
d) Asthma bronchiale (10).

Mit Schreiben vom 3. Januar 2008 legte die Klägerin Widerspruch ein, mit welchem sie sinngemäß das Merkzeichen "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) geltend machte.

Unter dem 19. Mai 2008 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten teilweisen Rücknahme des Bescheides vom 20. Dezember 2007 an. Die erfolgte Feststellung des GdB von 70 bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" sei unrichtig. Unter Berücksichtigung der tatsächlich bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen sei lediglich ein GdB von 40 ohne Zuerkennung des Merkzeichens "G" gerechtfertigt.

Nach Vorlage weiterer ärztlicher Unterlagen durch die Klägerin hinsichtlich der begehrten Zuerkennung des Merkzeichens "aG" holte die Beklagte eine versorgungsärztliche Stellungnahme ein und veranlasste eine Lungenfunktionsdiagnostik sowie eine erneute Begutachtung der Klägerin durch die Versorgungsärztin Dr. die im Gutachten vom 2. September 2008 einen Gesamt-GdB von 50 feststellte, dem sie folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte (in Klammern jeweils die verwaltungsintern zugeordneten Einzel-GdB):

a) psychische Störungen (Neurosen); außergewöhnliche Schmerzreaktion; psycho- somatische Störung (40), 
b) Schlafapnoe Syndrom; Bronchialasthma (20), 
c) Restless-legs-Syndrom (10), 
d) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule; degenerative Veränderungen der Wirbelsäule (10), 
e) Bluthochdruck (10).

Dem folgend nahm der Beklagte mit Bescheiden vom 6. Oktober 2008 den Bescheid vom 20. Dezember 2007, gestützt auf § 45 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), mit Wirkung für die Zukunft teilweise zurück und stufte den GdB bei Entziehung des Merkzeichens "G" auf 50 herab.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. November 2008 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 20. Dezember 2007 unter Einbeziehung der Bescheide vom 6. Oktober 2008 und Verneinung der Voraussetzungen des Merkzeichen "aG" zurück.

Mit ihrer am 26. November 2008 beim Sozialgericht Berlin erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Aufhebung der Bescheide vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008 und die Zuerkennung des Merkzeichens "aG".

Das Sozialgericht hat zur Sachaufklärung neben Befundberichten den medizinischen Teil der bei der Deutschen Rentenversicherung vorliegenden Verwaltungsakte der Klägerin mit einem darin befindlichen neurologisch-psychiatrischem Gutachten von Dr. vom 17. Dezember 2009 beigezogen und die Klage mit Gerichtsbescheid vom 3. Februar 2011 unter Auswertung der aktenkundigen Befundberichte, gestützt auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen und Begutachtungen im Verwaltungsverfahren, insbesondere den Feststellungen der Gutachterin Dr. sowie den Feststellungen des Rentengutachters Dr. abgewiesen.

Gegen den am 15. Februar 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 3. März 2011 beschränkt gegen die Entziehung des Merkzeichens "G" Berufung zum Landessozialgericht eingelegt.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 3. Februar 2011 sowie die Bescheide des Beklagten vom 6. Oktober 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. November 2008 betreffend die Entziehung des Merkzeichens "G" aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, die Protokolle und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

 

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin im Termin zur mündlichen Verhandlung weder erschienen noch vertreten gewesen ist. Denn die Klägerin ist ordnungsgemäß über den Termin unterrichtet und in der Terminsmitteilung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.

Die auf die Entziehung des Merkzeichens "G" beschränkte Berufung der Klägerin ist gemäß §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz - SGG - zulässig und im Sinne einer Zurückverweisung auch begründet.

Das Verfahren vor dem Sozialgericht leidet an einem wesentlichen Mangel (§ 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG). Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf berufen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 159 Rdnr. 3). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die für das Gesetz vorgesehenen Voraussetzungen dafür nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).

1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch den Kammervorsitzenden als Einzelrichter mittels Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 11 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen. Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen waren vorliegend nicht gegeben. Ein Sachverhalt ist grundsätzlich nur dann als geklärt im Sinne des § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG anzusehen, wenn ein verständiger Prozessbeteiligter in Kenntnis des gesamten Prozessstoffes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des vom Gericht zugrunde gelegten entscheidungserheblichen Sachverhalts haben wird. Der Senat geht insoweit davon aus, dass unter Klärung des Sachverhalts im Sinne von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG mehr zu verstehen ist, als die dem Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren ohnehin gemäß §§ 103, 106 SGG obliegende Verpflichtung zur umfassenden Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen, denn dafür, dass die Voraussetzungen in § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG enger zu fassen sind, spricht der Umstand, dass der Gesetzgeber für den Gerichtsbescheid einen geklärten Sachverhalt als zusätzliche Voraussetzung ausdrücklich in den Wortlaut aufgenommen hat (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10).

Im vorliegenden Fall schied danach eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter aus. Unabhängig davon, dass Gerichtsbescheide in medizinisch geprägten Fällen ohnehin nur äußerst zurückhaltend eingesetzt werden sollten, ist der Sachverhalt vorliegend nicht als geklärt anzusehen. Denn das Sozialgericht hat bereits der bestehenden allgemeinen Amtsermittlungspflicht nicht hinreichend Rechnung getragen (siehe dazu unter 2.). Zudem ist die Prüfung der Rechtmäßigkeit der Rücknahme eines begünstigenden Verwaltungsakts nach § 45 SGB X grundsätzlich und so auch hier nicht als rechtlich einfach anzusehen, zumal sich vorliegend auch die Bescheidlage unübersichtlich erweist. Angesichts dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Der bestehende Besetzungsmangel ist auch als wesentlich anzusehen, weil nicht ausgeschlossen kann, dass die Kammer in ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Besetzung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre.

2. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft gegen seine Aufklärungspflicht gemäß § 103 SGG verstoßen, wonach alle entscheidungserheblichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln sind. Die Aufklärung eines medizinisch geprägten Sachverhalts durch ein Tatsachengericht unterliegt in allen Gerichtsinstanzen einheitlichen Qualitätsanforderungen. Im Hinblick auf die Amtsermittlung erstinstanzlicher Gerichte sind danach im Grundsatz die gleichen Anforderungen heranzuziehen, die auch das Bundessozialgericht an die Sachverhaltsaufklärung durch die Landessozialgerichte stellt (vgl. Urteil des Senats vom 7. April 2011, L 13 SB 80/10). Das Sozialgericht hätte sich zu weiteren medizinischen Ermittlungen gedrängt fühlen müssen. Die Herabstufung des GdB und das Merkzeichen "aG" sind vorliegend angesichts der Beschränkung der Berufung zwar nicht mehr streitgegenständlich, jedoch wirken sich die mangelnden medizinischen Ermittlungen zur Höhe des GdB auch auf die Beurteilung des Vorliegens der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" aus. Die unzureichende Sachaufklärung zum GdB schlägt somit auf die Entscheidung hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens "G" durch. Auch aus eigener Sicht des Sozialgerichts kam es wesentlich darauf an, ob die bei der Klägerin bestehenden Funktionsbehinderungen das Merkzeichen "G" rechtfertigen, wobei angesichts der erfolgten Entziehung zudem auch deren rechtliche Voraussetzungen zu berücksichtigen waren. Bei einer - wie hier erfolgten - Rücknahme einer (ursprünglich) rechtswidrigen Bewilligung gemäß § 45 SGB X ist im Gegensatz zur Aufhebung einer (ursprünglich) rechtmäßigen Bewilligung wegen einer Änderung der Verhältnisse gemäß § 48 SGB X zu prüfen, ob die Zuerkennung des Merkzeichens "G" im Dezember 2007 rechtswidrig war und ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" auch zum Zeitpunkt der Entziehung nicht vorgelegen haben. Allein der Umstand, dass bei der Zuerkennung versehentlich nicht die die Klägerin betreffenden medizinischen Unterlagen zugrunde gelegt worden sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" nicht vorgelegen haben, zumal die Klägerin über das Merkzeichen "G" hinaus auch die Zuerkennung des Merkzeichen "aG" geltend gemacht hatte.

Zur Aufklärung eines Sachverhalts in medizinischer Hinsicht bedarf es im gerichtlichen Verfahren regelmäßig und insbesondere auch im vorliegenden Fall der Einholung eines Sachverständigengutachtens, wobei sowohl im Hinblick auf das jeweilige medizinische Fachgebiet als auch im Hinblick auf die sozialmedizinischen Erfordernisse auf eine hinreichende Qualifikation und Erfahrung von Sachverständigen zu achten ist (vgl. Urteil des Senats am 7. April 2011, L 13 SB 80/10). Die medizinischen Ermittlungen des Beklagten im Verwaltungsverfahren, dessen Feststellungen von der Klägerin mit der Klage gerade angegriffen werden, waren danach nicht ausreichend, um den Sachverhalt abschließend zu bewerten. Das im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung erstellte Gutachten von Dr. ist unter anderen Gesichtspunkten als im Schwerbehindertenrecht erfolgt und berücksichtigt zudem die hier nicht maßgeblichen Verhältnisse im Jahr 2009.Das Sozialgericht war nach alledem gehalten, den Sachverhalt auch hinsichtlich der noch streitbefangenen Entziehung des Merkzeichens "G" weiter aufklären und ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen. Auch wenn gutachterliche Einschätzungen keine verbindliche Wirkung für die richterliche Entscheidung haben, so sind sie jedoch zumeist und so auch hier eine unentbehrliche Grundlage für die rechtliche Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Entziehung des Merkzeichens "G". Der danach vorliegende Verfahrensmangel ist auch wesentlich, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Sozialgericht nach gebotener Aufklärung zu einer anderen Entscheidung gekommen wäre. 3. Im Rahmen seines nach § 159 SGG auszuübenden Ermessens hat das Gericht das Interesse der Klägerin an einer möglichst zeitnahen Erledigung des Rechtsstreits gegenüber den Nachteilen durch den Verlust einer Tatsacheninstanz abgewogen und sich angesichts der erheblichen Mängel des sozialgerichtlichen Verfahrens auch betreffend die noch streitbefangene Entziehung des Merkzeichens "G" für eine Zurückverweisung entschieden. Hierbei hat es berücksichtigt, dass der nach Berufungsbeschränkung verbleibende Rechtsstreit noch weit von einer Entscheidungsreife entfernt ist und weitere tatsächliche Ermittlungen erfordert, weshalb der Verlust einer Tatsacheninstanz, wie er wegen der vom Sozialgericht unterlassenen Aufklärung praktisch eingetreten ist, besonders ins Gewicht fiel. Die Zurückverweisung stellt die dem gesetzlichen Modell entsprechenden zwei Tatsacheninstanzen wieder her. Auch der Grundsatz der Prozessökonomie führt nicht dazu, den Rechtsstreit bereits jetzt abschließend in der Berufungsinstanz zu behandeln. Denn das gesamte Berufungsverfahren hat vom Eingang der Berufung am 9. März 2011 bis zum Tag der Verkündung des Urteils des Senats nur etwa zwei Monate an Anspruch genommen, so dass es prozessökonomischer ist, dem Sozialgericht zunächst Gelegenheit zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben.

4. Nach alledem hat das Sozialgericht nunmehr zur Aufklärung des Sachverhalts eine Begutachtung der Klägerin durch einen Sachverständigen auf neurologischem Fachgebiet zu veranlassen.

Das Sozialgericht wird in seiner Kostenentscheidung auch über die Kosten der Berufung zu befinden haben.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht gegeben.