Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - Az.: L 15 B 51/06 SO PKH - Beschluss vom 29.03.2006
1. Zur Frage, ob die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts bei einer reinen Untätigkeitsklage erforderlich ist.
2. Dass es "nur" um eine Untätigkeitsklage wegen des noch nicht erteilten abschließenden Widerspruchsbescheides geht, rechtfertigt nicht die Annahme, es handele sich um einen tatsächlich und rechtlich einfach gelagerten Fall, der keine rechtskundige Vertretung der Kläger erfordere. Dass überhaupt und unter welchen Voraussetzungen im Bereich des Sozialrechts eine so genannte Untätigkeitsklage erhoben werden kann, ist juristischen Laien in der Regel nicht bekannt, und schon die Klärung der Frage, ob der Bescheid oder Widerspruchsbescheid ohne zureichenden Grund nicht erlassen worden ist (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 SGG), kann tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufwerfen.
3. Die Erforderlichkeit anwaltlicher Vertretung ist auch nicht deshalb zu verneinen, weil im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 103 SGG der Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen ist, da die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinaus geht, die allein nicht geeignet ist, das Ungleichgewicht zwischen rechts- und sachkundig vertretener Behörde bzw. Versicherungsträger und der anderen Prozesspartei auszugleichen.
Gründe:
I.
Der 1967 geborene Kläger, ein staatlich geprüfter Modedesigner und Modellmacher, beantragte nach vorübergehender erfolgloser selbständiger Tätigkeit ( Groß- und Einzel – Internethandel mit Lebensmitteln, Getränken und Hauswirtschaftsbedarf sowie Akquise und Weitervermittlung von Cateringaufträgen in Form einer vom Arbeitsamt mit Existenzgründerzuschuss geförderten Ich-AG ) am 9. Februar 2004 die Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz - BSHG - als Ergänzung zur Arbeitslosenhilfe. Unter dem 20. Oktober 2004 lehnte der Beklagte den Antrag im Wesentlichen unter Hinweis auf §§ 2, 25 BSHG mit der Begründung ab, der Kläger weigere sich, zumutbare Arbeit zu leisten und sich so selbst zu helfen. Trotz mehrfacher Belehrungen habe er seit 8. März 2004 überhaupt keine Arbeitsbemühungen mehr nachgewiesen. Die 22 im März 2004 belegten schriftlichen Bewerbungen könnten nicht als ausreichend anerkannt werden, weil sie alle vom gleichen Tag stammten, sich zum großen Teil auf qualifizierte Stellen richteten und von vornherein als aussichtslos angesehen werden müssten, da ihnen keine Stellenanzeigen zugrunde lägen. Hiergegen ließ der Kläger von seiner Prozessbevollmächtigten am 22. November 2004 Widerspruch einlegen, mit dem er u.a. seine Arbeitsbemühungen erläuterte, weitere Stellenbewerbungen vom November 2005 überreichte, auf eine vom 14. April bis Ende Juni 2004 geleistete "Freie Arbeit" im Programm "Arbeit statt Strafe" hinwies und erklärte, dass er am 22. November 2004 auf Grund einer – vom Beklagten als sinnlos bewerteten – Initiativbewerbung einen Minijob angenommen habe.
Mit der am 20. Juni 2005 erhobenen Klage hat der Kläger die Bescheidung seines Widerspruches begehrt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten beantragt.
Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 15. Februar 2006 die Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Diese komme gemäß § 73 a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz – SGG – in Verbindung mit § 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung – ZPO – in gerichtskostenfreien Verfahren nur in Betracht, wenn die Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheine. Dies sei der Fall, wenn es in dem Rechtsstreit um nicht einfach überschaubare Tat- und Rechtsfragen gehe oder der Rechtsuchende aus persönlichen Umständen zu einem sachdienlichen Tatsachenvortrag nicht in der Lage sei (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1976 – BVerwGE 51, 111, 113). Diese Voraussetzungen seien hier offensichtlich nicht gegeben. Es handle sich um einen rechtlich und tatsächlich überschaubaren Sachverhalt. Hinsichtlich der begehrten Bescheidung seines Widerspruches sei der – wenn überhaupt – erforderliche – Vortrag zur Klärung eventueller Fragen auf Tatsachen gestützt, die in das Wissen des Klägers gestellt seien. Den entsprechenden Vortrag könne der Kläger selbst ohne anwaltliche Anleitung verständlich formulieren. Eine anwaltliche Vertretung erscheine angesichts des einfach gelagerten Sachverhalts und des ohnehin bestehenden Amtsermittlungsgrundsatzes nicht erforderlich.
Gegen den am 22.Februar 2006 zugestellten Beschluss richtet sich die am 3. März 2006 eingegangene Beschwerde des Klägers, der derzeit laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – SGB II – bezieht. Er macht geltend, dass ihm die Möglichkeit der Erhebung einer Untätigkeitsklage nicht bekannt sei. Da der Beklagte als staatliche Institution im Sozialgerichtsverfahren durch eine sachkundige Rechtstelle oder das Rechtsamt vertreten werde, sei es im Hinblick auf den Grundsatz der Waffengleichheit erforderlich, ihm einen Rechtsanwalt beizuordnen.
II.
Die zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet.
Nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 ZPO erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die Bedürftigkeit des Klägers, der seinen Lebensunterhalt derzeit ausschließlich von Leistungen nach dem SGB II bestreitet, steht außer Frage. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts sind aber auch die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe erfüllt.
Das Sozialgericht ist im Ansatz zutreffend davon ausgegangen, dass in einem gerichtskostenfreien Verfahren wie dem vorliegenden (vgl. § 183 S. 1 SGG) die Bewilligung von Prozesskostenhilfe nach den genannten Vorschriften nur in Betracht kommt, wenn die Vertretung durch einen Anwalt erforderlich erscheint. Die Auslegung, die das Gericht dem Tatbestandsmerkmal der "Erforderlichkeit" der Anwaltsbeiordnung im Sinne des § 121 Abs. 2 Satz 1 ZPO hier gegeben hat, verletzt den Kläger jedoch in seinem Anspruch auf Rechtsschutzgleichheit (Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG –) und die aus Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Garantie des effektiven Rechtsschutzes. Ob eine anwaltliche Vertretung im Rechtsstreit erforderlich erscheint, ist im Einzelfall unter Berücksichtigung der Sach- und Rechtslage und der persönlichen Verhältnisse der Beteiligten zu beurteilen, wobei keine überspannten Anforderungen hieran zu stellen sind. Zu berücksichtigen sind die tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Sache, deren Umfang sowie die wirtschaftliche und persönliche Bedeutung der Angelegenheit für die Beteiligten ebenso wie deren Bildungshorizont und Ausdrucksfähigkeit. Maßstab ist auch, ob ein Beteiligter, der nicht auf Prozesskostenhilfe angewiesen ist, einen Rechtsanwalt hinzuziehen würde. Ob der Kläger antragsgemäß ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt beanspruchen kann, hängt nach Aktenlage u.a. wesentlich davon ab, ob seine Arbeitsbemühungen ausreichend dargelegt sind. Dies wirft nicht ganz einfache Fragen auf, wobei insbesondere die Auffassung des Beklagten, dass Initiativbewerbungen von vornherein sinnlos sind und deshalb nicht anerkannt werden können, einer Überprüfung zu unterziehen sein dürfte. Dass es im vorliegenden Verfahren jetzt "nur" um eine Untätigkeitsklage wegen des noch nicht erteilten abschließenden Widerspruchsbescheides geht, rechtfertigt nicht die Annahme, es handele sich um einen tatsächlich und rechtlich einfach gelagerten Fall, der keine rechtskundige Vertretung der Kläger erfordere. Dass überhaupt und unter welchen Voraussetzungen im Bereich des Sozialrechts eine so genannte Untätigkeitsklage erhoben werden kann, ist juristischen Laien in der Regel nicht bekannt, und schon die Klärung der Frage, ob der Bescheid oder Widerspruchsbescheid ohne zureichenden Grund nicht erlassen worden ist (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 SGG), kann tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten aufwerfen (zur Gewährung von Prozesskostenhilfe bei Untätigkeitsklagen siehe z. B. auch OVG Nordrhein-Westfahlen, Beschlüsse vom 04. September 1998 – 24 E 587/97 – und vom 14. April 1992 – 14 E 1422/91 –, zitiert nach juris).
Die Erforderlichkeit anwaltlicher Vertretung ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts auch nicht deshalb zu verneinen, weil im sozialgerichtlichen Verfahren gemäß § 103 SGG der Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen ist, da die Aufklärungs- und Beratungspflicht des Anwalts über die Reichweite der Amtsermittlungspflicht des Richters hinaus geht, die allein nicht geeignet ist, das Ungleichgewicht zwischen rechts- und sachkundig vertretener Behörde bzw. Versicherungsträger und der anderen Prozesspartei auszugleichen. Hierauf wurde die Kammer bereits mehrfach durch Beschlüsse des erkennenden Senats u.a. vom 01. März 2005 – L 15 B 7/05 SO – ( unter ausführlicher Zitierung der einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Februar 1997 – 1 BvR 1440/96 –, NJW 1997, 2103 und vom 18. Dezember 2001 – 1 BvR 391/01 –, Breithaupt 2002, 486) sowie vom 1. März 2006 – L 15 B 1082/05 SO PKH - hingewiesen, des Weiteren auch vom 23. Senat des LSG Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 25. Januar 2006 – L 23 B 1090/05 SO PKH - (vgl. weiter Bayerisches LSG, Beschluss vom 23. Juli 2004 – L 18 B 305/04 SB PKH –, Breithaupt 2005, 254; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 17. Oktober 2001 – L 3 B 8/01 RI –, zitiert nach Juris). Dass die Amtsermittlungspflicht des Gerichts im Falle der Kläger anwaltliche Vertretung im vorliegenden Verfahren nicht entbehrlich macht, zeigt sich im Übrigen auch daran, dass in den 8 Monaten zwischen Klageerhebung und PKH-Beschluss von Seiten des Gerichts außer der Aufforderung zur Stellungnahme an den Beklagten innerhalb einer – ungewöhnlich langen – Frist von 2 Monaten nichts weiter veranlasst wurde, das zur Klärung der Untätigkeit des Beklagten oder zur Beschleunigung der Bescheiderteilung hätte beitragen können (vgl. zum Verfahren und der Entscheidung des Gerichts nach Erhebung einer Untätigkeitsklage Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG 8. Auflage, Rdnr. 7 ff zu § 88).
Die vom Kläger beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet schließlich auch hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig. Seine Untätigkeitsklage vom 20. Juni 2005 wurde nach Ablauf der 3–monatigen Sperrfrist gemäß § 88 Abs. 2 SGG erhoben. Zureichende Gründe dafür, dass sein Widerspruch vom 22. November 2004 gegen den Bescheid vom 22. Oktober 2004 bis zur Klageerhebung und darüber hinaus auch bis heute nicht beschieden worden ist, hat das Gericht weder festgestellt noch ergibt sich etwas dafür aus dem kurzen Schriftsatz des Beklagten vom 9. Februar 2006 – dem ersten im gesamten Rechtsstreit – oder den zugleich überreichten Verwaltungsvorgängen. Soweit der Beklagte jetzt für die Bescheidung des Widerspruches weitere Darlegungen bzw. Nachweise für erforderlich hält, hätte er dem Kläger insoweit bereits vor Klageerhebung entsprechende Auflagen machen können und müssen.
Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens beruht auf §§ 193, 73 a SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Die Unanfechtbarkeit dieses Beschlusses folgt aus § 177 SGG.