Bayerisches Landessozialgericht - L 15 VJ 2/08 - Beschluss vom 31.10.2012
Ob ein Sachverständiger befangen ist, hängt davon ab, ob aus der Sicht des Ablehnenden genügend objektive Gründe vorliegen, die nach der Meinung eines ruhig und vernünftig denkenden Beteiligten Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit oder Unparteilichkeit des Sachverständigen zu zweifeln. Die bloße Erwartung eines ungünstigen Gutachtensergebnisses berechtigt nicht zur Ablehnung eines Sachverständigen. Relevant sind vielmehr nur begründete Befürchtungen, die Begutachtung könnte den Boden der Sachlichkeit, Neutralität und Unvoreingenommenheit verlassen. Bei Sachverständigen, die allgemein auch im Auftrag der beklagten Behörde tätig werden, kann generell die Befürchtung bestehen, sie könnten bemüht sein, Gutachten zu erstellen, die der Behörde genehm seien. Dies allein reicht dennoch für eine begründete Besorgnis der Befangenheit nicht aus.
Gründe:
I.
Die Parteien streiten in der Hauptsache wegen einer Versorgung nach dem Impfschadensrecht. Konkret geht es um die Ablehnung des Sachverständigen Prof. Dr. E. durch den Kläger.
Prof. Dr. E. war bereits im Verwaltungsverfahren als Sachverständiger im Auftrag des Beklagten tätig; dabei war er zu einem für den Kläger ungünstigen Ergebnis gekommen. Darauf gestützt lehnte der Beklagte eine Versorgung wegen eines Impfschadens ab. Danach ist es zu einem Klageverfahren vor dem Sozialgericht Nürnberg gekommen, wobei das Sozialgericht die Klage abgewiesen hat. Im sich daran anschließenden Berufungsverfahren hat der Senat ebenso wie das Sozialgericht keine Notwendigkeit gesehen, angesichts der bereits vorhandenen sachverständigen Äußerungen des Prof. Dr. E. ein Gutachten nach § 106 SGG einzuholen. Auf Antrag des Klägers ist jedoch ein Gutachten nach § 109 SGG von Dr. D. eingeholt worden. Der hat im Gutachten vom 19.08.2012 einen Impfschaden bejaht. Unter dem Datum 03.09.2012 hat der Senat von Prof. Dr. E. eine ausführliche Stellungnahme zu dem Gutachten des Dr. D. angefordert. Daraufhin (Schreiben vom 11.09.2012) hat der Kläger Prof. Dr. E. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Es stehe zu befürchten, so hat er zur Begründung sinngemäß vorgetragen, dass Prof. Dr. E. aufgrund seiner Vorbefassung im Verwaltungsverfahren nicht unvoreingenommen agiere.
II.
Die Ablehnung ist unbegründet.
Eine Anhörung von Prof. Dr. E. zu dem Befangenheitsgesuch ist nicht erforderlich (vgl. Kühl, Die Ablehnung von Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit im Sozialgerichtsbarkeit, NZS 2003, S. 57 ; Keller in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 118 Rn. 12m).
Ein Grund, der zur Ablehnung eines Richters - und damit auch eines Sachverständigen - berechtigen würde, liegt nicht vor (vgl. § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO).
Nach § 42 Abs. 1 ZPO, der über § 118 Abs. 1 Satz 1 SGG und § 406 Abs. 1 Satz 1 ZPO einschlägig ist, kann ein Richter sowohl in den Fällen, in denen er von der Ausübung des Richteramts kraft Gesetzes ausgeschlossen ist, als auch wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Ein Ausschlussgrund nach § 41 ZPO liegt in Bezug auf den Sachverständigen Prof. Dr. E. nicht vor; insbesondere sind § 41 Nr. 5 und 6 ZPO von vornherein nicht einschlägig (vgl. BSG Breith. 1959, S. 954 ). Einzig in Frage kommender Ausschlussgrund ist die Besorgnis der Befangenheit. In entsprechender Anwendung von § 42 Abs. 2 ZPO findet wegen Besorgnis der Befangenheit die Ablehnung statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Sachverständigen zu rechtfertigen. Im vorliegenden Fall lässt sich die Besorgnis der Befangenheit von Prof. Dr. E., die der Kläger zum Ausdruck gebracht hat, nicht bestätigen.
Maßgebend ist insoweit, ob aus der Sicht des Ablehnenden genügend objektive Gründe vorliegen, die nach der Meinung einer ruhig und vernünftig denkenden Partei Anlass geben, an der Unvoreingenommenheit oder Unparteilichkeit des Sachverständigen zu zweifeln. Rein subjektive, unvernünftige Vorstellungen des Ablehnenden sind irrelevant. Andererseits kommt es nicht darauf an, dass der Sachverständige tatsächlich befangen ist. Somit dürfte es angemessen sein, von einem gemischt subjektiv-objektiven Maßstab zu sprechen. Die gleichen Beurteilungskriterien gelten in Impfschadensprozessen. Auch wenn die Sachverhalte dort häufig besonders tragisch und die begehrten Leistungen von existenzieller Bedeutung sind, gibt die Anschauung der ruhig und vernünftig denkenden Partei den Ausschlag; eine weiter gehende Subjektivierung des Maßstabs findet nicht statt.
Gemessen daran vermag der Kläger mit seinem Befangenheitsgesuch nicht durchzudringen. Wenn man das inzwischen vorliegende Gutachten des Dr. D. einer vorläufigen Betrachtung unterzieht, scheint aus der Perspektive des bearbeitenden Richters - bei aller medizinischen Laienhaftigkeit - die Wahrscheinlichkeit in der Tat nicht allzu groß, dass sich Prof. Dr. E. von den Argumenten des Dr. D. umstimmen lassen wird. Die bloße Erwartung eines ungünstigen Gutachtensergebnisses berechtigt aber nicht zur Ablehnung eines Sachverständigen. Relevant sind vielmehr nur begründete Befürchtungen, die Begutachtung könnte den Boden der Sachlichkeit, Neutralität und Unvoreingenommenheit verlassen. Derart qualifizierte Fehlleistungen sind aber aus Sicht einer ruhig und vernünftig denkenden Partei im vorliegenden Fall nicht zu erwarten.
a) Bei dem Gutachten, das Prof. Dr. E. im Auftrag des Beklagten erstellt hat, handelt es sich nicht um ein Parteigutachten (Kühl, a.a.O., NZS 2003, S. 579 ; BSG, Beschluss vom 31.05.1963, 2 RU 23/62). Vielmehr ist er als unabhängiger, neutraler Sachverständiger in einem gesetzlich geregelten Verwaltungsverfahren herangezogen worden; Ziel war für ihn ausschließlich die objektive, der Wahrheit entsprechende Ermittlung von Tatsachen, nicht dagegen die Wahrnehmung behördlicher Interessen. Von daher verbietet es sich, Prof. Dr. E. dem Lager des Beklagten zuzurechnen.
b) Generell mag man bei Sachverständigen, die allgemein auch im Auftrag der beklagten Behörde tätig werden, die Befürchtung hegen, sie könnten, um nicht einen mehr oder weniger beständigen Auftraggeber zu verärgern, bemüht sein, Gutachten zu erstellen, die der Behörde genehm seien. Damit wird erstens unterstellt, der betreffenden Behörde sei in erster Linie an negativen Gutachten gelegen, zweitens, sie würde ihre Gutachtensvergabe gerade danach ausrichten, und drittens, der Sachverständige würde sich aufgrund seiner Motivationslage möglicherweise zu größerer Strenge hinreißen lassen. Der Senat ist zwar der Meinung, dass diese obstruktiven Folgetatsachen nicht objektiv erwiesen sein müssen, um die Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Als objektive Tatsache im Sinn der oben dargestellten Obersätze genügt es vielmehr schon, dass der Sachverständige auch für die Behörde tätig wird. Die dargestellten obstruktiven Folgetatsachen müssen dagegen nur aus der Sicht der ruhig und vernünftig denkenden Partei mit einer signifikanten Wahrscheinlichkeit zu befürchten sein.
Trotz dieser "antragstellerfreundlichen" Haltung des Senats lässt sich auf dieser Schiene für Prof. Dr. E. die Besorgnis der Befangenheit nicht begründen (vgl. BSG, Urteil vom 08.12.1998 - B 2 U 222/98 B). Nach eigener Erfahrung des Senats - und sicherlich auch der Prozessbevollmächtigten des Klägers - handelt es sich bei Prof. Dr. E. um eine herausragende Kapazität auf dem Gebiet der pädiatrischen Impfschadensbegutachtung, der sich von seiner großen Erfahrung, seinem großen Wissen und seinem herausragenden logischen Denken leiten lässt. Die Art und Weise, wie seine Gutachten aufgebaut und begründet sind, belegen dies eindrucksvoll. Allen Beteiligten ist bekannt, dass Prof. Dr. E. stets Wert darauf gelegt hat, eine "gesunde" Distanz zur Pharmaindustrie zu wahren und die Verlautbarungen der STIKO stets auf der Grundlage seiner eigenen Kompetenz einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Es kann dahin stehen, ob diese Aspekte, welche die individuelle Person des Sachverständigen betreffen, als der ablehnenden Partei bekannt fingiert werden müssen. An dieser Stelle soll aber nicht verschwiegen werden, dass der Senat dazu tendiert, dies zu bejahen. Denn die "ruhig und vernünftig denkende Partei" muss, bevor sie Befangenheit reklamiert, über die individuellen Verhältnisse des Sachverständigen orientiert sein. Selbst wenn man dies hier dem Kläger nicht abverlangen wollte, so müsste er sich zumindest das Tatsachenwissen seiner Prozessbevollmächtigten in Bezug auf die individuelle Person des Prof. Dr. E. zurechnen lassen. Die Prozessbevollmächtigte des Klägers gehört zu den erfahrensten deutschen Rechtsanwältinnen auf dem Gebiet des Impfschadensrechts überhaupt und kennt Prof. Dr. E. seit langer Zeit. Lediglich der aus den gesamten Fakten zu ziehende, wertende Schluss in Bezug auf die Unvoreingenommenheit des Sachverständigen ist nach dem Maßstab der ruhig und vernünftig denkenden Partei und nicht am Maßstab der professionellen Rechtsanwältin zu beurteilen.
c) Das zweite Denkmodell, das die Besorgnis der Befangenheit begründen könnte, besteht darin, dass der bereits im Verwaltungsverfahren beteiligte Sachverständige geneigt sein könnte, wider mittlerweile gewonnener besserer Überzeugung an dem Ergebnis des Vorgutachtens festzuhalten, nur um keinen Irrtum eingestehen zu müssen. Diese Argumentation hat auch der Kläger gewählt und sie entbehrt im Allgemeinen sicherlich nicht jeder Realitätsnähe (vgl. dazu aber Kühl, a.a.O., NZS 2003, S. 579 , der diese Unterstellung anscheinend generell für unangebracht hält). Dass aber derartige Befürchtungen nicht in Bausch und Bogen unrealistisch erscheinen, führt nach der Überzeugung des Senats nicht per se dazu, dass die ruhig und vernünftig denkende Partei den jeweiligen Gutachter als voreingenommen, sachfremd oder parteilich einstufen dürfte und diesem deshalb der Fall "aus den Händen genommen" werden müsste. Wiederum kommt es vielmehr auf die individuellen Verhältnisse an (so auch Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 6. Auflage 2012, III. Kapitel, Rn. 179), wobei sich der Kläger auch diesbezüglich Tatsachenwissen der Prozessbevollmächtigten zurechnen lassen muss. Die Ausführungen unter b) zu Person und Arbeitsweise des Prof. Dr. E. lassen es fernliegend erscheinen, dass dieser, hätte er die Unrichtigkeit seines Vorgutachtens nachträglich erkannt, gleichwohl auf dem einmal präsentierten Ergebnis beharren würde. Das weiß auch die Prozessbevollmächtigte des Klägers. Sie hat in dem Befangenheitsgesuch sogar indirekt zu erkennen gegeben, dass zwar die Eltern des Klägers, nicht aber sie selbst die Besorgnis der Befangenheit hegt. Auch hier gilt, dass die ihr bekannten individuellen Tatsachen zu Person und Arbeitsweise von Prof. Dr. E. dem Kläger selbst - d.h. seinen Eltern - zuzurechnen sind. Allein die daraus zu ziehende wertende Folgerung in Bezug auf die Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit im konkreten Verfahren vollzieht sich am Maßstab der ruhig und vernünftig denkenden Partei und nicht der professionellen Rechtsanwältin.
Unabhängig davon, dass - wie gezeigt - Befürchtungen in Richtung Befangenheit angesichts der Person des Sachverständigen unangebracht erscheinen, spricht ein weiterer Gesichtspunkt dagegen, Prof. Dr. E. von der Sachverständigenaufgabe zu entbinden. Denn offenbar soll nicht jegliche Befürchtung fehlender Unabhängigkeit automatisch zu einem Ausschluss des Sachverständigen aus dem Verfahren führen. Vielmehr scheint eine Abwägung mit anderen rechtlich geschützten Belangen zulässig zu sein. So lässt sich der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur die Tendenz entnehmen, umso eher eine begrenzte "Verstrickung" des Sachverständigen zu akzeptieren, je unverzichtbarer die Hinzuziehung gerade dieses Experten ist (vgl. LSG Rheinland-Pfalz, Breith. 1986, S. 638 ; Krasney/Udsching, a.a.O.). Im vorliegenden Fall besteht angesichts der herausragenden Qualitäten von Prof. Dr. E. und der besonderen Schwierigkeiten der Impfschadensbegutachtung ein sehr großes Interesse daran, gerade ihn zu dem Gutachten des Dr. D. Stellung nehmen zu lassen.
Dieses besondere Interesse besteht auch, weil Prof. Dr. E. mit dem konkreten Fall bereits vertraut ist und sich, wie man seinem Gutachten entnehmen kann, ein sehr gründliches Bild von dem Fall gemacht hat. Generell hegt die sozialgerichtliche Praxis augenscheinlich nur wenig Bedenken in Bezug auf eine mögliche Befangenheit des Sachverständigen, wenn dieser - nachdem er sein Gutachten erstellt hat - zu einem zwischenzeitlich eingeholten Gutachten nach § 109 SGG, das zu einem abweichenden Ergebnis gekommen ist, ergänzend Stellung nehmen soll. Dabei unterscheidet sich diese Problemlage nicht wesentlich vom hier vorliegenden Fall. Hier wie dort mag man die abstrakte Gefahr sehen, dass der Sachverständige der Meinung des anderen Gutachters nur deswegen nicht folgt, weil er keinen Fehler eingestehen will. Der Unterschied besteht allein darin, dass im hier vorliegenden Fall diese die abstrakte Gefahr begründende Konstellation bereits bei der Bestellung als Sachverständiger gegeben ist. Denn das im Verwaltungsverfahren von Prof. Dr. E. erstellte Gutachten fließt in das Gerichtsverfahren im Wege des Urkundsbeweises ein; den Status als gerichtlicher Sachverständiger hat er dagegen erst durch die Beauftragung mit der Stellungnahme erlangt. Bei den Vergleichsfällen tritt die vermeintliche Interessenkollision dagegen erst nachträglich ein. Diesen Unterschied hält der Senat indes für nicht relevant; denn ein gerichtlicher Sachverständiger muss in allen Phasen seiner Heranziehung die Gewähr für Unbefangenheit bieten, nicht nur zum Zeitpunkt der ersten Bestellung. Demzufolge dürfte man bei strengster Betrachtungsweise wohl überhaupt keine ergänzenden Stellungnahmen eines gerichtlich hinzugezogenen Sachverständigen zu abweichenden Gutachten zulassen. Das kann in dieser Allgemeinheit nicht richtig sein. Denn die ergänzende Stellungnahme des nach 106 SGG bestellten Sachverständigen zu einem später gemäß § 109 SGG eingeholten Gutachten erscheint häufig unverzichtbar. Den nach § 106 SGG bestellten Sachverständigen generell als befangen anzusehen, würde den für die Wahrheitsfindung mitunter äußerst wertvollen wissenschaftlichen Diskurs im Ansatz "abwürgen". Das liegt nicht in der Intention des Gesetzgebers und noch weniger im Interesse des Klägers. Der Einholung einer ergänzenden Stellungnahme zu einem anderen Gutachten haftet damit nicht apriorisch etwas Anrüchiges an; das muss in gleicher Weise für die hier gegebene Fallgestaltung gelten, dass die ergänzende Stellungnahme von einem Sachverständigen angefordert wird, der sein Gutachten bereits im Verwaltungsverfahren erstellt hat - wie gesagt, die denkbare Interessenkollision ist die Gleiche. Möglichen Gefahren einer Voreingenommenheit muss zumindest vom Grundsatz im Rahmen der Beweiswürdigung Rechnung getragen werden; die Gerichte haben ergänzende Stellungnahmen besonders sorgfältig daraufhin zu prüfen, ob sie ein Beharren aus sachfremden Gründen vermuten lassen. Der Ausschluss des Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit darf dagegen nicht das Regel-Instrumentarium sein.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.