Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 16 KR 157/12 B - Beschluss vom 06.08.2012
Der Umstand, dass eine Klage zunächst nur fristwahrend erhoben wird, ist für den Streitwert unbeachtlich. Gleiches gilt, wenn der Kläger zum Zeitpunkt der Klageerhebung keine Vorstellung darüber gehabt haben will, in welcher Höhe ein Haftungsbescheid letztlich angefochten werde, wenn sich aus der Klage keine Teilanfechtung ergibt.
Gründe:
I.
Die Klägerin wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts (SG) Aachen, mit welchem dieses den Streitwert für ein in der Hauptsache durch Rücknahmeerklärung der Klägerin vom 30.12.2011 erledigten Hauptsacheverfahren auf 92.119,39 Euro festgesetzt hat.
In diesem Hauptsacheverfahren hatte sich die Klägerin gegen einen Umlagebescheid des Beklagten zur Refinanzierung der Schließungskosten der A-BKK vom 16.09.2011 gewandt, der eine Zahlungsforderung in Höhe von 92.119,39 € auswies. Vor Erlass des Bescheides hatte der Beklagte die Klägerin mit Anhörungsschreiben vom 01.09.2011 über die beabsichtigte Bescheiderteilung informiert und der Klägerin Gelegenheit eingeräumt, sich bis zum 15.09.2011 zu den entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern. Dem Anhörungsschreiben war als Anlage ein im Wesentlichen übereinstimmender Entwurf des später bekanntgegebenen Bescheides beigefügt.
Mit der am 19.10.2011 erhobenen Klage wandte sich die Klägerin gegen den Bescheid und "beantragte zu erkennen:
1. Den Bescheid vom 16.09.2011, der Klägerin zugegangen am 20.09.2011
aufzuheben.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte."
Die Klage werde rein vorsorglich zwecks Fristwahrung erhoben. Eine Begründung zur formellen und materiellen Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit des Bescheides werde bei Fortführung des Rechtsstreits und Kenntnis der insoweit maßgeblichen Tatsachen umgehend erfolgen.
Am 30.12.2011 hat die Beschwerdeführerin die Klage zurückgenommen.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG Aachen mit Beschluss vom 30.01.2012 den Streitwert auf 92.119,36 € festgesetzt. Zur Begründung hat es ausgeführt: Streitgegenstand des erledigten Hauptsacheverfahrens sei die Erhebung einer Umlage in Höhe von 92.119,36 € gewesen. Da die Beteiligten nicht zu den in § 183 SGG genannten Personen gehörten, seien Kosten nach den Vorschriften des Gerichtskostengesetzes (GKG) zu erheben (§ 197a Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Höhe der Gebühren richte sich nach dem Wert des Streitgegenstandes (Streitwert), soweit nichts anderes bestimmt sei (§ 3 Abs. 1 GKG). Im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit sei der Streitwert grundsätzlich nach der sich aus dem Antrag des Klägers ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen (§ 52 Abs. 1 GKG). Betreffe der Antrag eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, so sei deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs. 3 GKG). Nebenforderungen seien nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 1 GKG).
Da sich die Klägerin mit der Klage gegen die Zahlung von 92.119,36 € gewehrt habe, sei der Streitwert in dieser Höhe festzusetzen.
Gegen den am 06.02.2012 zugestellten Beschluss wandte die Klägerin mit Schreiben vom 24.02.2012 (Eingang beim Sozialgericht Aachen am 27.02.2012) ein, die Klage sei nur rein vorsorglich eingelegt worden. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung habe noch keinerlei Vorstellung darüber bestanden, in welcher Höhe der insgesamt zur Debatte stehende Haftungsbetrag konkret zum Streitgegenstand gemacht werden solle. Die Klägerin habe ausdrücklich erklärt, dass zur formellen und materiellen Rechtswidrigkeit des Bescheides bei Fortführung des Rechtsstreits und Kenntnis der insoweit maßgebenden Tatsachen umgehend eine Begründung erfolgen würde. Sie habe dadurch zum Ausdruck gebracht, dass insgesamt noch offen sei, inwieweit der Bescheid angegriffen werde und überhaupt der Rechtsstreits weiter verfolgt werden solle. Unter dem 06.03.2012 stellte die Klägerin präzisierend klar, dass das Schreiben vom 24.02.2012 als Beschwerde gegen die Streitwertfestsetzung zu betrachten sei.
II.
1. Der Senat entscheidet über die Beschwerde in der Besetzung durch drei Berufsrichter. Zwar bestimmen § 68 Abs. 1 Satz 4 und § 66 Satz 1 GKG, dass bei Erinnerungen und Beschwerden nach dem GKG das Gericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter entscheidet. Die Vorschrift ist allerdings, wie auch beim Bundesgerichtshof (<BGH>, Beschluss vom 13.01.2005, Az. V ZR 218/04, in: Monatsschrift für Deutsches Recht <MDR> 2005, 597) oder beim Bundesfinanzhof (<BFH>, Beschluss vom 29.09.2005, Az.: IV E 5/05 <juris>), nicht auf Verfahren anwendbar, die vor dem Landessozialgericht (LSG) anhängig werden. Denn eine Entscheidung durch den Einzelrichter ist beim LSG institutionell - von Ausnahmen abgesehen - anders als im zivilgerichtlichen Verfahren vor dem Landgericht (LG) oder dem Oberlandesgericht (OLG), vgl. §§ 348, 348a, 568 der Zivilprozessordnung (ZPO), im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vor dem Verwaltungsgericht (VG), vgl. § 6 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) und im finanzgerichtlichen Verfahren vor dem Finanzgericht (FG), vgl. § 6 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) nicht vorgesehen. Das Sozialgerichtsgesetz (SGG) kennt zwar auch das Rechtsinstitut der Einzelrichterentscheidung, diese ist jedoch auf besondere Fallgestaltungen beschränkt. So entscheidet erstinstanzlich allein der Vorsitzende bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung und bei Gerichtsbescheiden (§ 12 Abs. 1 SGG); in zweiter Instanz sind indes die Einzelrichterentscheidungen auf besondere Fallgestaltungen im vorbereitenden Verfahren beschränkt (vgl. § 155 Abs. 2 und 4 SGG, ähnlich §§ 125 i.V.m. § 87a VwGO; siehe seit dem 01.04.2008 auch § 153 Abs. 5 SGG <Übertragung der Entscheidung über eine Berufung gegen einen Gerichtsbescheid auf den einzelnen Berichterstatter mit ehrenamtlichen Richtern>). Die generelle Entscheidung durch den Einzelrichter ist durch das SGG indes nicht vorgesehen. Dementsprechend können die durch die Einzelrichterentscheidung im GKG-Beschwerdeverfahren durch § 66 Abs. 6 Satz 1 GKG bezweckten Entlastungs- und Beschleunigungseffekte im Verfahren vor dem LSG nicht genutzt werden (vgl. bereits Beschluss des erkennenden Senats vom 30.04.2008 v. 30.04.2008, Az. L 16 B 5/07 R <juris>; so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 03.09.2009, Az. L 8 B 12/09 R <juris>; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss v. 17.12.2009, Az. L 11 B 7/09 KA <juris> ).
2. Der als Beschwerde im Sinne von § 68 Abs. 1 GKG statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht (§ 68 Abs. 1 Satz 3 GKG) eingelegte Rechtsbehelf ist nicht begründet. Das SG hat den Streitwert zutreffend auf 92.119,36 € festgesetzt.
Gehört - wie im vorliegenden Verfahren - in einem Rechtszug weder der Kläger noch der Beklagte zu den in § 183 SGG genannten Personen, werden Kosten nach dem GKG erhoben (§ 197a Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz SGG). Gemäß § 52 Abs. 1 GKG ist in Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit, soweit nichts anderes bestimmt ist, der Streitwert nach der sich aus dem Antrag des Klägers für ihn ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Betrifft der Antrag des Klägers eine bezifferte Geldleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt, ist abweichend von § 52 Abs. 1 GKG deren Höhe maßgebend (§ 52 Abs. 3 GKG).
Hiernach ist die angefochtene Streitwertfestsetzung nicht zu beanstanden. Bei dem mit der Klage angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 16.09.2011 handelt es sich um einen auf eine bezifferte Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt im Sinne von § 52 Abs. 3 GKG. Er enthält das Gebot zur Zahlung eines der Höhe nach konkret bestimmten Umlagebetrages von 92.119,36 €.
Dass die Klägerin die Klage zunächst nur fristwahrend erhoben hat, führt schon deshalb zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung, da die Abgabe der verfahrenserledigenden Erklärung die für die Bestimmung der Höhe des Streitwertes gem. § 52 Abs. 3 GKG maßgebende Eigenschaft als ein auf eine bezifferte Geldleistung gerichteter Verwaltungsakt unberührt lässt. Die Zurücknahme der Klage vor dem Schluss der mündlichen Verhandlung oder - wenn eines solche nicht stattfindet - vor Ablauf des Tages, an dem das Urteil oder der Gerichtsbescheid der Geschäftsstelle übermittelt wird bewirkt vielmehr lediglich die Ermäßigung der grds. nach Nr. 7110 des Vergütungsverzeichnisses (VV) zum GKG festzusetzenden Gerichtsgebühren von 3,0 auf 1,0 Gebühren (Nr. 7111 Ziffer 1 des VV GKG).
Soweit die Klägerin geltend macht, sie habe die Klage zunächst nur fristwahrend erhoben und zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch keinerlei Vorstellung darüber gehabt, in welcher Höhe der insgesamt zur Debatte stehende Haftungsbetrag konkret zum Streitgegenstand gemacht werden solle, ist dem auch entgegenzuhalten, dass der Klägerin der Bescheidentwurf bereits im Rahmen der vor Erlass des Bescheides erfolgten Anhörung (§ 24 SGB X) bekannt wurde. Mangels etwaiger Erklärungen der Klägerin im Anhörungsverfahren lässt sich auch nicht feststellen, dass und ggf. in welchem Umfang die Klägerin den Bescheid vom 16.09.2011 nur teilweise anfechten wollte (zur Zugrundelegung des sich aus dem Anfechtungsbegehren im finanzbehördlichen Einspruchsverfahren maßgebenden Wertes, wenn der Kläger eine finanzgerichtliche Klage kurz nach der Erhebung zurückgenommen hat, ohne dass ein Antrag gestellt worden ist (vgl. FG Baden-Württemberg, Beschluss v. 25.08.2006, Az. 3 KO 1/05 <juris>). In dem dem vorliegenden Beschwerdeverfahren zugrunde liegenden Hauptsacheverfahren hat die Klägerin indessen in der Klageschrift vom 17.10.2011 einen vollumfänglichen Aufhebungsantrag angekündigt, weshalb davon auszugehen war, dass dieses Klageziel dem Begehren der Klägerin entsprach.
Die Entscheidung über die Gebühren ergibt sich aus § 68 Abs. 3 Satz 1 GKG. Die Kostenentscheidung beruht auf § 68 Abs. 3 Satz 2 GKG.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).