Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 16 KR 9/10 - Beschluss vom 28.03.2011
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Das Verschulden eines beauftragten Rechtsanwalts ist dem Beteiligten anzurechnen. Ein schuldloses Verhalten setzt aber in diesem Zusammenhang nicht nur voraus, dass der Prozessbevollmächtigte die Berufungsschrift fristgerecht erstellt und unterschrieben hat, sondern verlangt auch, dass im Rahmen der Fristenkontrolle sicher gestellt wird, dass die für den Postversand vorgesehenen Schriftstücke zuverlässig auf den Postweg gebracht werden. Hierzu muss die Absendung in einem besonderen Vorgang, nämlich mittels eines Postausgangsbuches oder sonstige Dokumentation des Versendevorgangs, kontrolliert werden. Fehlt eine solche wirksame Postausgangskontrolle, kann ein fehlendes Organisationsverschulden nicht hinreichend glaubhaft gemacht werden.
Gründe:
I.
Die Klägerin begehrt mit Ihrer am 05.12.2006 erhobenen Klage die Gewährung von implantologischen und zahnprothetischen Leistungen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 27.10.2009 abgewiesen. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 02.12.2009 zugestellt.
Mit einem am 07.01.2010 beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingegangenen Telefax hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Berufung gegen das Urteil eingelegt und zugleich hinsichtlich der versäumten Berufungsfrist einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Zur Begründung des Wiedereinsetzungsantrags macht er geltend, dass er bereits am 04.12.2009 eine Berufungsschrift gefertigt und noch am gleichen Tag zur Post gegeben habe. Erst bei Fertigung der Berufungsbegründung am 07.01.2010 sei ihm aufgefallen, dass er noch keine Eingangsbestätigung und kein Aktenzeichen erhalten habe. Nach telefonischer Rücksprache habe ihm eine Mitarbeiterin des Landessozialgerichts daraufhin mitgeteilt, dass die Berufungsschrift dort nicht eingegangen sei. Dies werde anwaltlich versichert. Eine Kopie der Berufungsschrift vom 04.12.2009 war dem Antrag beigefügt.
Auf Anfrage des Gerichtes hat der Prozessbevollmächtigte mitgeteilt, dass ein Postausgangsbuch nicht geführt werde. Er habe die Berufungsschrift am 04.12.2009 unterschrieben und in die Postmappe gelegt. Diese habe er dann an seine Mitarbeiterin Carina K. übergeben. Auch dies werde anwaltlich versichert. Frau K. habe dann alle Schreiben, die sich in der Postmappe befunden haben, bearbeitet, frankiert und zur Deutschen Post gebracht. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 20.02.2010 erklärt Frau K. hierzu, dass sie am 04.12.2009 den Postausgang bearbeitet habe und alle Schreiben aus der Postmappe, die ihr der Prozessbevollmächtigte übergeben habe, frankiert und zur Post gegeben habe.
Unter Vorlage eines Computerausdrucks und eines Fristenzettels erklärt der Prozessbevollmächtigte außerdem, er habe alles erforderliche zur Vermeidung der Fristversäumung getan. Zu seinen Aufgaben gehöre es insoweit, bei fristgebundenen Schriftsätzen eine zuverlässige Fristenkontrolle zu organisieren und insbesondere einen Fristenkalender zu führen. Es müsse gewährleistet sein, dass ein fristwahrender Schriftsatz rechtzeitig hergestellt und postfertig gemacht wird. Ausreichend sei nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), der sich auch das Bundessozialgericht (BSG) angeschlossen habe, dass der Schriftsatz in das Postausgangsfach eingelegt werde und von dort unmittelbar zur Post aufgegeben werde. Eine zusätzliche Überwachung durch ein Postausgangsbuch sei nicht erforderlich (BGH, NJW 2001, 1577). Nach Zustellung des Urteils am 02.12.2009 sei im Fristenzettel eine Vorfrist "Berufung, Mi 30.12.2009" eingetragen worden. Unter dem Punkt "erledigt", sei das Datum 04.12.2009 eingetragen worden, nachdem die Berufungsschrift an diesem Tag erstellt worden ist. Die Frist habe er eigenhändig in den Computer eingetragen und nach Unterzeichnung der Berufung vom 04.12.2009 in der Postmappe als erledigt ausgetragen. Auch dies werde anwaltlich versichert. Auf dem Fristenzettel sei die Einlegung der Berufung als erledigt ausgetragen worden, nachdem die Post frankiert und in den Briefkasten geworfen worden sei. Das Büro sei so organisiert, dass die Postmappen der Rechtsanwälte im einzelnen bearbeitet und die gesamten Briefe dann zur Post gebracht werden. Da sich am 04.12.2009 keine Briefe mehr im Postausgangsfach befunden haben, sei davon auszugehen, dass auch die Berufungsschrift der Klägerin zur Post gebracht worden sei. Dieses Postausgangsfach sei die letzte Station auf dem Weg zum Adressaten. Für einen Fehler bei der Postbeförderung sei er nicht verantwortlich, so dass Wiedereinsetzung zu gewähren sei. Für die Absendung der Berufung am 04.12.2009 spreche im Übrigen auch, dass er am gleichen Tag ein Schreiben an die Klägerin versandt habe und sie unter Übersendung einer Abschrift der Berufungsschrift über die Einlegung der Berufung informiert habe.
Die Klägerin beantragt schriftsätzlich,
die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Detmold vom 27.10.2009 und der Bescheide der Beklagten vom 15.08.2006 und vom 20.09.2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.11.2006 zu verurteilen, ihr implantologische und zahnprothetische Leistungen im Bereich des Unterkiefers als Sachleistung zur Verfügung zu stellen.
Der Klägerin wegen der Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Berufung sei nicht fristgerecht eingelegt worden. Nicht nachvollziehbar sei insbesondere, dass sich der Bevollmächtigte bis zum Ablauf der Berufungsfrist nicht telefonisch rückversichert habe, ob die Berufung eingegangen sei. Auch sie überwache insoweit bei Berufungseinlegung die Vergabe des Aktenzeichens und frage kurz vor Ablauf gegebenenfalls noch telefonisch nach, ob die Unterlagen angekommen seien. Im Übrigen sei die Berufung jedenfalls unbegründet.
Mit Schreiben vom 24.03.2010 und vom 10.02.2011 wurde die Klägerin durch den Senat darauf hingewiesen, dass die Berufsrichter des Senats nach Vorberatung zu der Auffassung gelangt sind, dass Gründe für eine Wiedereinsetzung nicht vorliegen. Die Löschung der Frist im Fristenkalender bereits nach Unterschriftsleistung durch den sachbearbeitenden Rechtsanwalt stelle, zumal kein Postausgangsbuch geführt werde, nicht sicher, dass die Post ordnungsgemäß aufgegeben werde. Es sei daher beabsichtigt, die Berufung gem. § 158 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als unzulässig zu verwerfen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Die Akten haben dem Senat vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidung.
II.
Der Senat konnte gem. § 158 Satz 1 und Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss entscheiden. Die Berufung war als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht innerhalb der gesetzlichen Frist eingelegt worden ist.
Gem. § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen. Diese Frist hat die Klägerin mit der am 07.01.2010 beim Landessozialgericht eingelegten Berufung nicht gewahrt. Das Urteil des Sozialgerichts Detmold wurde dem Prozessbevollmächtigten am 02.12.2009 zugestellt. Die einmonatige Berufungsfrist endet damit am 04.01.2010, weil der 02.01.2010 ein Sonnabend war (§ 64 Abs. 3 SGG).
Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand liegen nicht vor. Nach § 67 Abs. 1 SGG ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Der Antrag ist binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen und die Tatsachen zur Begründung sollen glaubhaft gemacht werden (§ 67 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG).
Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor, weil nicht hinreichend glaubhaft gemacht worden ist, dass der Prozessbevollmächtigter der Klägerin ohne Verschulden verhindert war, die Berufungsfrist einzuhalten. Sein Verschulden ist der Klägerin zuzurechnen. Nach allgemeiner Meinung steht dem Verschulden eines Beteiligten das Verschulden des Bevollmächtigten gleich (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage, § 67 Rdnr. 3e m.w.N.). Ist eine Berufungsschrift - wie hier - nicht oder nicht rechtzeitig bei Gericht eingegangen, ist ein schuldloses Verhalten des Bevollmächtigten nur dann anzunehmen, wenn er das Schreiben so rechtzeitig bei der Post aufgegeben hat, dass üblicherweise mit einem fristgerechten Zugang zu rechnen ist, da Verzögerungen oder Fehler bei der Briefzustellung nicht von den Beteiligten zu vertreten sind (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 67 Rdnr. 6a m.w.N.). Ein schuldloses Verhalten setzt aber in diesem Zusammenhang nicht nur voraus, dass der Prozessbevollmächtigte die Berufungsschrift fristgerecht erstellt und unterschrieben hat, sondern verlangt auch, dass im Rahmen der Fristenkontrolle sicher gestellt wird, dass die für den Postversand vorgesehenen Schriftstücke zuverlässig auf den Postweg gebracht werden. Hierzu muss die Absendung in einem besonderen Vorgang kontrolliert werden (vgl. BFH, Beschluss vom 21.08.2009 - II B 184/08). Es müssen hinreichende organisatorischen Vorkehrungen dagegen getroffen werden, dass ein Schriftsatz versehentlich nicht abgesandt wird. Vor Anbringung des Ausgangs- und Erledigungsvermerks ist zu Überprüfen, ob das fristgebundene Schriftstück auch tatsächlich versandt oder zumindest versandfertig gemacht worden ist (BGH, Beschluss vom 04.11.2003, NJW 2004, 688 ff.). Wird ein Postausgangsbuch - wie hier - nicht geführt, muss zumindest die Versendung des Schriftsatzes dokumentiert werden (vgl. BSG, Beschluss vom 13.09.2004 - B 11 AL 153/04 B).
Eine solche wirksame Postausgangskontrolle und damit ein fehlendes Organisationsverschulden ist nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Dies erfordert es, dass der Antragsteller einen Verfahrensablauf vorträgt, der ein Verschulden zweifelsfrei ausschließt (BAG, 10.01.2003, NJW 2003, 1270; BFH, Beschluss vom 21.08.2009 - II B 184/08). Dem Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin kann das nicht entnommen werden. Aus der eidesstattlichen Versicherung der Kanzleiangestellten K. ergibt sich nicht, dass diese sich konkret an die Versendung der Berufungsschrift erinnern kann. Sie hat lediglich die ordnungsgemäße Bearbeitung aller Schreiben in der Postmappe versichert. Der ordnungsgemäße Versand der Berufungsschrift ist hierdurch nicht hinreichend dokumentiert. Fehler bei der Bearbeitung sind nicht auszuschließen. Die im Computer des Rechtsanwalts gespeicherte Frist wurde von ihm nach seinen eigenen Angaben bereits gelöscht, nachdem er die unterzeichnete Berufungsschrift in die Postmappe gelegt hat. Eine Kontrolle der Versendung des Schriftstückes hat hierdurch also gerade nicht stattgefunden. Auch die im Fristenzettel unter dem 04.12.2009 als erledigt ausgetragene Frist lässt keinen hinreichenden Schluss auf eine wirksame Postausgangskontrolle zu. Der Vortrag der Klägerin ist widersprüchlich; sie hat insbesondere nicht glaubhaft gemacht, dass diese im Fristenzettel notierte Frist grundsätzlich erst dann gelöscht wird, wenn das jeweilige Schriftstück postfertig im Postausgangsfach liegt. Der Prozessbevollmächtigten hat zunächst nur vorgetragen, dass die zuständige Kanzleikraft die in der Postmappe vorhandenen Schriftstücke bearbeitet und postfertig macht. Hierauf bezieht sich auch die entsprechende eidesstattliche Versicherung der Kanzleikraft. Auch aus dem vorgelegten Fristenzettel selbst ergibt sich nicht, dass die Frist auf diesem erst als erledigt ausgetragen wird, wenn das entsprechende Schriftstück zumindest postfertig im Abholfach liegt. Eine allgemeine Weisung an die Kanzleikräfte, die Fristen erst zu diesem Zeitpunkt auf dem Fristenzettel zu löschen, lässt sich dem Vortrag des Prozessbevollmächtigten ebenfalls nicht entnehmen. Eine wirksame Postausgangskontrolle kann dieser Fristenzettel damit gerade nicht dokumentieren. Es kann vielmehr nicht ausgeschlossen werden, dass von dem Zeitpunkt, in dem der Schriftsatz unterschrieben in der Postmappe gelegen hat, bis zur Aufgabe bei der Post, ein Fehler unterlaufen ist. Denkbar ist beispielsweise, dass die Berufungsschrift lediglich als Anlage zu dem am gleichen Tag an die Klägerin gesandten Schreiben genommen wurde und versehentlich nicht an das Gericht versandt worden ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.