Gründe

I.

Vor dem Sozialgericht (SG) Bayreuth war in der Hauptsache streitig, ob die Behinderungen der Klägerin mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 oder mindestens 50 zu bewerten sind.

Der beklagte Freistaat Bayern hatte mit Bescheid vom 28.09.2000 die Behinderungen der Klägerin - wie bisher - mit einem GdB von 40 bewertet und diese wie folgt bezeichnet: 1. Verlust der Gebärmutter. Verwachsungsbeschwerden. 2. Funktionsbehinderung der Wirbelsäule. 3. Bewegungseinschränkung im Kniegelenk beiderseits. 4. Funktionsbehinderung des Schultergelenks rechts, Funktionsbehinderung des Ellenbogengelenks rechts, Funktionsbehinderung des Daumens links. 5. Unwillkürlicher Harnabgang. 6. Schwerhörigkeit beidseits. Der Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 12.02.2001).

Mit ihrer Klage vom 20.02.2001 hat die Klägerin die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Das SG hat von dem Internisten und Sozialmediziner Dr. H. ein Gutachten vom 06.09.2001 eingeholt. Dieser hat an dem GdB von 40 festgehalten. Der gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vom SG gehörte Chirurg Dr. M. hat den GdB der Klägerin mit 50 bewertet. Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. vom 17.02.2002 an seinem Antrag auf Klagabweisung festgehalten. Das SG hat der Klägerin mit Schreiben vom 01.03.2002 mitgeteilt, dass die versorgungsärztlichen Ausführungen des Beklagten hinsichtlich der Bewertung der einzelnen Funktionen in Übereinstimmung mit den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1996 stünden und angefragt, ob der Rechtsstreit nun seine Erledigung gefunden habe. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat entgegnet, dass die Ausführungen des Dr. L. von ihm nicht nachvollzogen werden könnten. Er hat beantragt, von Dr. M. eine ergänzende Stellungnahme zur versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. L. einzuholen (Schriftsatz vom 26.03.2002). Das SG hat der Klägerin darauf hin mitgeteilt, dass der für die Beantwortung der Rechtsfrage nach der Höhe des GdB maßgebliche Sachverhalt aufgeklärt sei und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise. Das Gericht beabsichtige deshalb den Erlass eines Gerichtsbescheides. Der Bevollmächtigte der Klägerin hat den Sachverhalt keineswegs für geklärt gehalten. Er hat auch der Auffassung des SG, der Sachverhalt weise nur geringe Schwierigkeiten in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auf, widersprochen und eine mündliche Verhandlung beantragt. Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 17.05.2002 abgewiesen und sich auf das Gutachten des Dr. H. gestützt. Dem Gutachten des Dr. M. ist es unter Berufung auf die AHP nicht gefolgt.

Im anschließenden Berufungsverfahren hat der Senat von dem Orthopäden Dr. E. ein Gutachten vom 07.08.2002 eingeholt. Dieser hat den GdB der Klägerin mit 50 bewertet. Der Beklagte hat im Wege des Vergleichs einen GdB von 50 ab 07.08.2002 zuerkannt.

Die Klägerin hat am 07.04.2003 und am 15.03.2006 beantragt, die Kosten für das Gutachten des Dr. M. auf die Staatskasse zu übernehmen. Zur Begründung hat sie ausgeführt, das Gutachten habe dazu beigetragen, den Rechtsstreit einer Erledigung zuzuführen. Das SG hat eine Kostenübernahme mit Beschluss vom 03.05.2006 abgelehnt, weil das Gutachten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht beigetragen habe.

Gegen diesen Beschluss hat die Klägerin Beschwerde eingelegt, der das SG nicht abgeholfen hat.

 

II.

Die Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 SGG). Sie ist auch begründet. Die Kosten für das gemäß § 109 SGG erstattete Gutachten des Dr. M. sind auf die Staatskasse zu übernehmen.

Über die endgültige Kostentragungspflicht entscheidet der Senat nach Ermessen. Er ist dabei nicht an die Beurteilung des SG gebunden. Der Senat berücksichtigt bei seiner Entscheidung, ob das Gutachten nach § 109 SGG die Sachaufklärung wesentlich gefördert hat und beweiserheblich gewesen ist. Dies kann auch dann der Fall sein, wenn das SG sich hätte gedrängt fühlen müssen, ein weiteres Gutachten von Amts wegen einzuholen.

So ist es hier. Das SG hat den Sachverhalt durch Einholung eines Gutachtens von Amts wegen von dem Internisten und Sozialmediziner Dr. H. aufgeklärt. Wie der vom Beklagten festgestellte Behindertenkatalog der Klägerin zeigt, litt die Klägerin aber auch an einer Reihe von Behinderungen auf orthopädischem Gebiet. Das SG hätte sich daher gedrängt fühlen müssen, ein weiteres Gutachten von Amts wegen auf diesem Gebiet einzuholen. Zwar hat sich der Sachverständige Dr. H. auch gutachtlich zu Fragen auf orthopädischem Gebiet geäußert, jedoch hat ihm hierzu die erforderliche Sachkunde gefehlt. Die Feststellung der Gesundheitsstörungen und Funktionseinschränkungen der Klägerin auf den verschiedenen Fachgebieten ist erforderlich, um die Einzel-GdB-Werte und den Gesamt-GdB zutreffend einzuschätzen. Die Einholung von Fachgutachten auf den verschiedenen Fachgebieten konnte nicht durch Anhörung des Internisten und Sozialmediziners Dr. H. ersetzt werden (st Rspr des erkennenden Senats, vgl. z.B. Urteil vom 05.07.2000, Az: L 18 SB 6/00, juris-Recherche). Nach § 407a Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) hätte der Sachverständige unverzüglich prüfen müssen, ob der Auftrag in sein Fachgebiet fällt und ohne Hinzuziehung weiterer Sachverständiger erledigt werden kann. Dr. H. hat dies unterlassen. Das SG hätte nach Vorliegen seines Gutachtens eine fachkompetente Untersuchung auf orthopädisch / chirurgischem Gebiet von Amts wegen vornehmen lassen müssen. Das fachchirurgische Gutachten des Dr. M. gemäß § 109 SGG hat daher wesentlich zur Sachaufklärung beigetragen, die vom SG nach § 106 SGG hätte durchgeführt werden müssen. Dass das SG dem Gutachten des Dr. M. nicht gefolgt ist, ist für die Frage der Beweiserheblichkeit nicht von Bedeutung.

Das Gutachten des Dr. M. ist auch deswegen beweiserheblich, weil der Vorsitzenden der Kammer die Sachkunde auf orthopädischem / chirurgischem Gebiet fehlt. Bei der Beurteilung medizinischer Sachverhalte sind der richterlichen Beweiswürdigung Grenzen gesetzt, die sich aus dem Fehlen eigener Sachkunde und dem Angewiesensein auf fremden Sachverstand ergeben. Zwar kann der Richter ärztliche Äußerungen kritisch würdigen und sich bei divergierenden Gutachten für eine Auffassung entscheiden, sofern sich die Plausibilität der jeweiligen medizinischen Aussagen ohne einschlägige Fachkenntnisse beurteilen lässt. Die Grenzen freier Beweiswürdigung sind jedoch überschritten, wenn er in einer medizinischen Frage trotz fehlender Sachkenntnis seine eigene abweichende Meinung an die Stelle derjenigen des ärztlichen Gutachtens setzt (BSG, 2. Senat, Beschluss vom 13.09.2005, Az: B 2 U 365/04 B, juris-Recherche). Vorliegend hat die Kammervorsitzende ihre eigene abweichende Meinung an die Stelle derjenigen des chirurgischen Gutachtens (gemäß § 109 SGG) gesetzt. Das Gericht kann ohne genaue diagnostische Bestimmung der Behinderungen des Klägers das Regelwerk der AHP nicht anwenden. Zwar nennen die AHP als antizipierte Sachverständigengutachten GdB-Grade für Behinderungen, die von den Sozialgerichten zu beachten sind (so Bundesverfassungsgericht - BVerfG - SozR 3-3870 § 3 Nr. 6). Dies bedeutet aber lediglich, dass die Vorgaben der AHP nicht durch Einzelfallgutachten hinsichtlich ihrer g e n e r e l l e n Richtigkeit widerlegt werden können (BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 6). Ohne Feststellung der k o n k r e t e n Behinderung kann das Gericht nicht auf das Regelwerk der AHP zur GdB-Bestimmung zurückgreifen. Zur Feststellung von Art und Ausmaß der Behinderungen muss das Gericht einen ärztlichen Sachverständigen heranziehen. Denn es verstößt gegen seine Pflicht zur Amtsermittlung (§ 103 SGG), wenn es davon absieht, einen Sachverständigen zu bestellen und eine Tatsachenfrage beurteilt, ohne selbst über die besondere eigene Sachkunde zu verfügen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG Komm, 8.Auflage, § 103 Rdnr. 7b). Die in den AHP aufgeführten GdB-Werte und die für die Höhe des GdB jeweils genannten Voraussetzungen stellen keine Tatsachen dar, die eine Beweisaufnahme überflüssig machen. Aus dem o.g. Urteil des BSG ergibt sich nichts anderes. Die AHP entbinden die Sozialgerichte nicht von dem Erfordernis der medizinischen Sachverhaltsermittlung (BayLSG, Breith 2000, 478-481). Das SG hätte daher bei Zweifeln an der Schlüssigkeit des Gutachtens des Dr. M. in eine weitere Beweisaufnahme eintreten müssen, entweder - wie von der Klägerin beantragt - durch Anhörung des Dr. M. (von Amts wegen) oder durch Einholung eines (weiteren) Gutachtens von Amts wegen auf orthopädischem Gebiet.

Schließlich hat ein Sachverständigengutachten nach § 109 SGG auch dann wesentlich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen, wenn sich eine weitere Beweiserhebung in der Berufungsinstanz als notwendig erweist (vgl. Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, aaO § 109 Rdnr. 16a unter Verweisung auf BayLSG Breith 99, 1051; PSW Anm 5). Der Senat war gehalten, wegen der verfahrensfehlerhaften Auseinandersetzung des Vordergerichts mit dem Gutachten des Dr. M. im Gerichtsbescheid ein weiteres Gutachten von dem Orthopäden Dr. E. einzuholen.

Nach alledem waren der Beschluss des SG aufzuheben und die Kosten für das Gutachten des Dr. M. auf die Staatskasse zu übernehmen.

Diese Entscheidung ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).